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Merlin

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Merlin

oder Das wüste Land

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein Stück über die menschliche Sehnsucht nach Utopien – und ihr unausweichliches Scheitern.


Literatur­klassiker

  • Drama
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Ein modernes Weltmärchen

Der Titel Merlin mag zunächst nicht sonderlich große Neugierde wecken: Die Sage von König Artus und seiner Tafelrunde ist hinlänglich bekannt, eine neuerliche Wiedergabe erscheint wenig verlockend. Glücklicherweise ist Tankred Dorsts Bearbeitung alles andere als ein verstaubtes Historienepos oder Fantasy-Ritterspiel. Gemeinsam mit seiner Frau Ursula Ehler hat Dorst den mittelalterlichen Stoff als opulente, zeitlose Parabel über den Menschen inszeniert. Die Tafelrunde wird zur Utopie einer Welt ohne Krieg, König Artus und sein Mentor Merlin zu deren Propheten. Leider ist Merlin der Sohn des Teufels und sein Schicksal ist es, die Menschen zum Bösen zu führen. So sehr sich beide auch bemühen, das Gute in die Welt zu bringen, sie scheitern an ihren Mitmenschen und an sich selbst: Artus’ Frau betrügt ihn mit seinem besten Freund, sein Sohn revoltiert gegen ihn, und Merlin kann seinem Schicksal nicht entfliehen. Dorst selbst nannte das Stück ein „Weltmärchen“ und „Mittelpunkt meiner Lebensarbeit“. Es ist eine zeitlose Tragödie über die Suche nach einem Leben voll Glück, Liebe und Frieden – und ihrem unausweichlichen Scheitern.

Take-aways

  • Merlin ist das wichtigste Stück des Dramatikers Tankred Dorst.
  • Inhalt: Der Zauberer Merlin kämpft gegen sein Schicksal: Er ist der Sohn des Teufels und soll das Böse in die Welt bringen. Gemeinsam mit dem auserwählten König Artus gründet er die Tafelrunde, um eine Welt ohne Krieg zu schaffen. Doch ihre Bemühungen scheitern: Artus’ Frau betrügt ihn mit seinem besten Freund, und sein Sohn Mordred zieht in einer alle vernichtenden Schlacht gegen seinen Vater.
  • Dorst schrieb Merlin zwischen 1978 und 1980 in Zusammenarbeit mit seiner Frau Ursula Ehler.
  • Als sich abzeichnete, dass das Stück nicht aufgeführt würde, konzipierten Dorst und Ehler es als reines Buchprojekt, was ihnen erhebliche literarische Freiheiten verschaffte.
  • Das Buch gibt die mittelalterliche Artussage wieder, inszeniert sie jedoch als zeitloses Drama der erfolglosen Suche des Menschen nach Glück und Frieden.
  • Die Tafelrunde steht für die politische Utopie einer Welt ohne Krieg.
  • Ein zentrales Motiv ist die Frage der Vorherbestimmtheit menschlichen Handelns.
  • Aufgrund seiner Überlänge werden stets nur Auszüge des Stücks inszeniert.
  • Dorst selbst hat Merlin retrospektiv als Mittelpunkt seines Lebenswerks bezeichnet.
  • Zitat: „Die Idealisten, die Gralsucher, die Gründer von Tafelrunden und idealen Staaten, von neuen Ordnungen und Systemen, die mit ihren Theorien Erlösung versprechen und das große Glück über die Menschheit bringen wollen (…), die führen am Ende ganze Völker geradewegs in die Hölle!“

Zusammenfassung

Merlins Geburt

Die schwangere Riesin Hanne zieht mit ihrem Bruder, einem Clown, herum und sucht den Vater ihres Kindes. Der Clown ist aufgebracht: Er hat kein Geld, um das Baby zu ernähren. Immer wieder versucht er, Passanten das Kind aufzuschwatzen. Während ihrer Suche kommt Hanne nieder. Dämonen umkreisen sie, und ein „hundertstimmiges Wimmern“ übertönt ihr Stöhnen. Hanne gebiert Merlin, einen großen, bärtigen Mann, der in Windeseile seine Körperfunktionen erlernt und schon wenig später Zeitung liest. Nun tritt auch der Teufel hinzu und stellt sich als Merlins Vater vor. Zufrieden untersucht er seinen Sohn. Dann trägt er ihm auf, die Menschheit zu befreien – und zwar, indem er sie zum Bösen bringt. Das Böse sei die wahre Natur der Menschen, doch leider hätten sie immer so große Angst davor. Merlins Aufgabe sei es daher, ihnen die Angst vor dem Bösen zu nehmen. Merlin ist sich nicht sicher, ob er diese Aufgabe annehmen will. Er meint, als Mensch könne er frei wählen, vielleicht wolle er sich ja lieber für eine schöne und geordnete Welt einsetzen.

Die Tafelrunde

Unter den Königen und Rittern von Britannien herrscht Uneinigkeit. Die Thronfolge ist unklar und viele Ritter erheben Anspruch auf die Macht. Merlin genießt inzwischen bei allen höchstes Ansehen, da er in die Zukunft sehen kann. Er prophezeit, dass ein Auserwählter König werden soll, nämlich derjenige, der das Schwert Excalibor aus dem Steinquader ziehen kann, in dem es steckt. Sir Kay hält das Schwert aber schon in der Hand. Sein Vater Sir Ector behauptet, Sir Kay habe es aus dem Stein gezogen. Wie sich aber kurz darauf herausstellt, ist es nicht Sir Kay gewesen, sondern sein Knappe Artus, der es herausgezogen hat. Nun stößt Merlin die Klinge ein zweites Mal in den Quader. Alle Ritter versuchen, Excalibor herauszuziehen. Doch nur Artus gelingt – abermals – das Wunder. Der traut sich die Rolle des Königs jedoch nicht zu. Auch beschweren sich die Könige von Cornwall und Wales bei Merlin. Sie sehen sich selbst als rechtmäßige Thronfolger.  

„Der von Tausend Glühbirnen illuminierte Christus vertreibt die heidnischen Götter. (…) Sie fallen von hoch oben hinunter ins Dunkel. Sie flüchten in die Wälder, sie verstecken sich in den Städten.“ (S. 17)

Artus geht inkognito zu einem Schreiner und bittet ihn, einen großen Tisch zu zimmern, als „Abbild der Welt“. Der Tisch soll rund sein, damit alle, die daran sitzen, gleich sind. Es soll der dritte berühmte Tisch der Weltgeschichte werden – nach jenem, an dem Jesus das Abendmahl abhielt, und jenem, an dem Joseph von Arimathia den Heiligen Gral feierte. Als Artus auch noch verlangt, dass dieser riesige Tisch durch jede Tür passen soll, damit er überall aufgestellt werden kann, setzt ihn der Schreiner vor die Tür. Glücklicherweise entdeckt Artus wenig später auf einem Gemälde einen solchen Tisch. Er ist die Mitgift der schönen Ginevra, in die sich Artus auch prompt verliebt. Die beiden werden tatsächlich ein Paar. Als sich sogar der Teufel darüber freut, wird Merlin unsicher. Das Entstehen der Tafelrunde sollte dem Plan des Teufels doch eigentlich zuwiderlaufen. Weiß Merlin doch nicht alles?

„Die Menschen zum Bösen befreien! Das Böse ist ihre eigentliche Natur. Darin liegt ihre Lust, dazu sind sie bestimmt. (…) Deine Aufgabe ist es, Merlin, ihnen den Schrecken vor dem Bösen zu nehmen.“ (Teufel zu Merlin, S. 34 f.)

Die Tafelrunde wird einberufen. Jeder Stuhl trägt den Namen eines Ritters, nur einer bleibt leer: Er ist dem Erwählten vorbehalten, verkündet Merlin. Jeder nicht Erwählte werde verbrennen, sobald er sich auf diesen Stuhl setze. Unter den anwesenden Rittern ist auch der tapfere Sir Lancelot, der beste Freund von König Artus. Als dieser die schöne Königin Ginevra sieht, verliebt er sich sofort in sie. Völlig entrückt wandelt er daraufhin umher, bis Ginevra ihn anspricht. Auch an ihr geht dieses Treffen nicht spurlos vorbei. Die beiden kommen sich näher und verlieben sich schließlich unsterblich ineinander. Ginevra leidet darunter, denn sie liebt beide Männer. Deshalb schickt sie Lancelot fort, damit ihr Verlangen nicht noch größer wird. Doch als sie Geschichten aus der Ferne hört, dass Lancelot todessüchtig jeden Kampf annimmt, fürchtet sie, ihn in den Wahnsinn gestürzt zu haben.

Parzivals Suche

Parzival lebt mit seiner Mutter Herzeloide versteckt im Wald. Herzeloide fürchtet die Menschen und ihren Zerstörungswahn. Doch ihr Sohn will unbedingt Ritter werden und sich König Artus anschließen. Herzeloide versucht, ihn davon abzuhalten, warnt ihn vor den Gefahren der Menschenwelt: Tapferkeit, Ehre, Damen und Freunde – sie alle seien eine „Drohung des Todes“. Furchtlos und voller Tatendrang verlässt Parzival dennoch seine Mutter, die noch während seines Abschieds stirbt. Er stellt sich der Tafelrunde mit dem Wunsch vor, Ritter zu werden, und bemerkt gar nicht, dass er ausgelacht wird. Einer der Ritter gibt sich als Artus aus und erlaubt Parzival im Scherz, sich die rote Rüstung des Sir Ither zu holen. Freudig läuft Parzival zu Sir Ither und als ihm dieser seine Rüstung nicht freiwillig gibt, tötet Parzival ihn kurzerhand. Als er hört, dass Gott so mächtig sei, dass er selbst über König Artus stehe, zieht er los, um Gott zu finden und ihm zu dienen. Eine lange, unglückliche Suche beginnt, auf der Parzival jeden tötet, der sich ihm in den Weg stellt.

Lancelots Rückkehr

Die Schlacht von Arestuel tobt. Artus und seine Ritter stehen am Rand einer Niederlage. Ginevra hat große Angst um ihren Gatten, da kehrt Lancelot zurück. Er will seinem Freund Artus zur Hilfe eilen, der vom Schlachtfeld nach ihm ruft, doch stattdessen bleibt er in Ginevras Armen. Als nach einigen Tagen immer mehr Tote vom Schlachtfeld getragen werden, beschließt Ginevra, Lancelot den goldenen Helm des Königs zu übergeben, damit er in den Kampf reite und Artus rette. Einmal mehr bestätigt Lancelot seinen Ruf, der größte aller Ritter zu sein, und dreht die verloren geglaubte Schlacht zu Artus’ Gunsten.

„Der Löwe frisst Gras! Eine friedliche Welt! Ja, das habe ich gedacht! Keine Kriege mehr!“ (Artus, S. 86)

Schon bald nach Lancelots glorreicher Rückkehr verbreitet sich die Kunde, er habe in der Ferne mit Elaine, der Tochter von König Pelles, ein Kind gezeugt. Tatsächlich taucht Elaine mit dem gemeinsamen Kind namens Galahad wenig später bei Hofe auf, um Lancelot zu sich zurückzuholen. Ginevra ist wenig erfreut. Die beiden Rivalinnen machen Lancelot eine Szene, woraufhin der seinen Verstand verliert und in die Wälder flieht. Alle Ritter schwärmen aus, ihn zu suchen, doch als ihnen der völlig verwilderte Lancelot über den Weg läuft, erkennt nur Ginevra den Ritter wieder. Dieser jedoch, zum Tier geworden, streitet ab, Lancelot zu sein, und zieht sich tiefer in den Sumpf zurück. Später findet ihn das Fräulein von Astolat entkräftet im Wald und pflegt ihn gesund. Wieder bei Kräften, kehrt Lancelot erneut nach Camelot zurück, was das Fräulein von Astolat in den Selbstmord treibt.

Die Tafelrunde ist bedroht

Unmut und Zwist macht sich an der Tafelrunde breit. Obwohl die Vorteile der gleichberechtigten und friedlichen Gemeinschaft allen bewusst sind, gibt es doch noch immer zwischenmenschliche und Generationenkonflikte. Als zwei junge Ritter die alten verspotten, fordert Merlin einen der beiden, Sir Beauface, auf, sein Gesicht in eine Wasserschüssel zu tauchen, damit er sein Alter sehe. Beauface zögert zunächst. Unter den Anfeuerungsrufen der übrigen Ritter taucht er schließlich doch sein Gesicht in die Schale. Als er es wieder herauszieht, ist es zum Schrecken aller stark verändert: alt und grau, eingefallen und faltig. Sein jugendlicher Kumpan bekommt es mit der Angst zu tun und drückt Sir Beaufaces Kopf erneut in die Schale, woraufhin dieser stirbt. Die Ritter der Tafelrunde werden unruhig und ängstlich. Merlin ist nirgends zu finden.

„Der richtige Weg ist der, auf dem der Mensch sich selber findet.“ (Merlin, S. 147)

Der Zauberer steht draußen auf einem Berg vor Camelot und sieht den Schatten des Teufels über der Stadt hängen. Als ihn sein Vater fragt, was er in der Zwischenzeit getan habe, antwortet Merlin, er habe die Menschen auf den richtigen Weg gebracht – nämlich auf den Weg zu sich selbst. Da prophezeit ihm der Teufel schadenfroh, dass Mordred, Artus’ unehelicher Sohn, zum Mörder werden und das Artusreich vernichten werde. Artus hat das Kind Mordred zunächst ertränken lassen wollen, seither ist ihm der Junge feindlich gesinnt. Auch die anderen Jugendlichen, erzählt der Teufel seinem Sohn, lehnen die Ordnung der Tafelrunde ab. Merlin ist tief bestürzt – umso mehr, als sich die Warnung seines Vaters bald darauf erfüllt: Mordred und seine Brüder erschlagen ihre Mutter und deren Liebhaber, einen alten Ritter. König Artus trifft dieses Ereignis besonders schwer. Er versteht nicht, wieso die jungen Leute die neue, gerechte Ordnung der Tafelrunde und den alten Glauben an Jesus ablehnen. Seine einzige Hoffnung ist, dass Galahad, der sich auf den Sitz des Erwählten gewagt hat und dabei nicht verbrannt ist, den Heiligen Gral finden und die bedrohte Ordnung wiederherstellen wird.

Der Heilige Gral

Die Tafelrunde ist verlassen, die Ritter sind auf der Suche nach dem Heiligen Gral. Nur König Artus und Ginevra sind in Camelot zurückgeblieben. Merlin versucht unterdessen, die Ritter durch Listen zu beeinflussen und sie auf den Weg des Guten zu führen. Doch zu seinem Ärger bestehen sie die Prüfungen nicht, und auch der Teufel redet ihm erneut ins Gewissen: Er fragt, ob Merlin denn sicher wisse, dass seine Experimente mit den Menschen diese wirklich zum Guten und nicht vielmehr in die Hölle führen? In der Weltgeschichte, so der Teufel, haben die vielen gut gemeinten Ideen der Menschen doch immer das Gegenteil bewirkt und statt Glück und Frieden Tod und Verwüstung hervorgebracht. Merlin verzweifelt an seiner Aufgabe.

„,Ist denn alles vergeblich gewesen, was wir gewollt haben …‘ ‚Vergeblich? – Es ist eine andere Zeit gekommen, ihr habt euch überlebt.‘“ (Artus und Mordred, S. 170)

Unterdessen begegnen sich Sir Lancelot und Sir Galahad auf freiem Feld. Sie erkennen einander nicht und duellieren sich. Erst nach dem Kampf, in dem der Vater seinem Sohn unterliegt, erkennen und versöhnen sie sich. Als sie anschließend gemeinsam beten, erscheint Galahad der Gral als Vision. Schließlich kommen alle Ritter nach Camelot zurück: erschöpft, zerrüttet und frustriert. Gerüchte gehen um, dass Galahad den Gral gefunden habe, es wird von Visionen und Zeichen berichtet, doch niemand weiß sie zu deuten. Die Tafelrunde ruft nach Merlin, um Klarheit zu erhalten, doch der hat sich von der Waldnymphe Viviane das Geheimnis seiner Zauberei entlocken lassen und ist in einer Weißdornhecke festgezaubert, auf dass er sie nie mehr verlasse.

Das Gericht

Sir Mordred und seine Brüder erwischen Lancelot in flagranti bei Königin Ginevra. Sie versuchen ihn festzunehmen, doch Lancelot tötet einen der Brüder und entkommt. König Artus muss nun einsehen, was sein Hof bereits seit Jahren weiß: Ginevra betrügt ihn. Er hält am nächsten Tag Gericht und verurteilt die Königin zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Als die Leute zur Hinrichtung zusammenströmen, herrscht große Aufregung. Dem gemeinen Volk gefällt nicht, dass Ginevra hingerichtet werden soll. Auch sind die meisten Ritter der Tafelrunde ferngeblieben. Artus zweifelt, ob er richtig entschieden hat. Er ist daher vor Freude fast außer sich, als Lancelot im letzten Moment die Königin befreit und mit ihr nach Schloss Joyeuse Garde flieht. Das Liebespaar versucht, sich in der neuen Heimat einzurichten, doch wirklich genießen können die beiden den Neuanfang nicht. Ginevra will zu Artus zurück und auch Lancelot vermisst seinen alten Freund. Als der Papst öffentlich die Verurteilung Ginevras widerruft und König Artus Lancelot freies Geleit zusichert, kehren die beiden Flüchtigen nach Camelot zurück. Doch bei Hof scheint ihnen nur Artus verziehen zu haben, Mordred und seine Kumpane hingegen wollen unbedingt den ermordeten Bruder rächen. Artus nimmt Ginevra zurück, doch Lancelot muss den Hof verlassen, da die Ritter der Tafelrunde Artus’ Bitte, sich doch mit Lancelot zu versöhnen, ausschlagen.

„Die Idealisten, die Gralsucher, die Gründer von Tafelrunden und idealen Staaten, von neuen Ordnungen und Systemen, die mit ihren Theorien Erlösung versprechen und das große Glück über die Menschheit bringen wollen (…), die führen am Ende ganze Völker geradewegs in die Hölle!“ (der Teufel, S. 204 f.)

Auf Drängen seiner Ritter zieht Artus schließlich gegen die französische Stadt Gannes, wo sich Lancelot aufhält. Der König fühlt sich verloren, denn ohne Merlin kann er seine Bestimmung nicht erkennen und weiß deshalb nicht, welche Handlungen geboten sind. In einem längeren Gespräch macht Mordred seinem Vater ein so schlechtes Gewissen, dass dieser ihm – trotz einer Prophezeiung, dass Sir Mordred das Artusreich vernichten werde – die Königsmacht überlässt, während er im Krieg ist. Kaum ist Artus fort, entpuppt sich Mordred als selbstherrlicher Despot. Er lässt die Schatzkammern des Hofes plündern und deren Inhalt an das Volk verteilen, um sich als neuer Herrscher beliebt zu machen. Außerdem lässt er einen gefälschten Brief aufsetzen, in dem der angeblich von Lancelot getötete König Artus als letzten Willen verfügt, dass Ginevra Mordred heiraten soll. Auch von Ginevra will er geliebt und begehrt werden, doch die Königin erkennt die Fälschung und informiert heimlich König Artus. Der bricht sofort die Belagerung von Gannes ab und zieht gegen das Heer Mordreds.

„Ich will nicht mehr! Ich will mit der verdammten Weltgeschichte nichts mehr zu tun haben!“ (Merlin, S. 205)

Im Traum erscheint ihm Merlin. Artus beklagt, dass all ihre noblen Absichten umsonst gewesen sind, dass die Jungen die Tafelrunde vernichten. Merlin wirft er vor, für den Untergang des Artusreichs mitverantwortlich zu sein, denn wegen Merlins Prophezeiung, dass Mordred das Reich vernichten werde, wollte Artus Mordred ertränken lassen, weshalb ihn sein Sohn nun hasst. Sich selbst wirft Artus vor, von Merlin abhängig gewesen zu sein, nie selbst gewusst zu haben, was er tun soll. Tags darauf kommt es zur Schlacht, die Heere vernichten einander vollständig. Artus erschlägt mit seinen letzten Kräften Mordred und zwingt Sir Kay, Excalibor ins Meer zu werfen. Ginevra stirbt, bevor sie Lancelot wiedersieht, und geleitet den toten König Artus in einer Gondel über das dunkle Meer nach Avalon.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Stück Merlin besteht aus 97, teils recht kurzen Szenen und ist in fünf Teile gegliedert. Die ersten beiden Teile umfassen zusammen lediglich sechs Szenen, der dritte Teil „Die Tafelrunde“ nimmt dagegen den größten Teil des Buches ein. Laut Tankred Dorst soll der bissig-komische zweite Teil „Merlins Geburt“ durch seinen Witz einen tragisch-feierlichen Ton im restlichen Stück unterbinden. Das Buch gibt die Erzählstationen der Artussage originalgetreu, jedoch durch viele Brüche und Einschübe aufgelockert, wieder. Dorst hat immer wieder betont, dass Merlin nicht für eine konkrete Inszenierung als Theaterstück geschrieben wurde. Somit musste er keinerlei Rücksicht auf die Möglichkeiten der Bühne nehmen – eine Freiheit, die den Stil des Stücks prägt. Neben dramentypischen Dialogen und Regieanweisungen finden sich deutsche, lateinische, italienische und französische Gedichte und Lieder, Zitate und Briefwechsel sowie Prosaabschnitte. Ebenso kreativ geht Dorst mit anderen Parametern um: So wird die Handlungszeit des Stücks, das Mittelalter, immer wieder durchbrochen und verfremdet, zum Beispiel indem der Sprachduktus der Ritter betont zeitgenössisch gehalten ist oder Ereignisse und Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts miteinbezogen werden – so sitzt etwa Mark Twain mit an der Tafelrunde. Dadurch verliert das Stück seinen spezifisch historischen Bezug zur Ritterzeit und wird zu einer allgemeinen und überzeitlichen Erzählung vom Wesen des Menschen.

Interpretationsansätze

  • Die Figur Merlin ist als Gegenstück zu Jesus Christus konzipiert und soll eine negative Erlösung bringen. So wie Christus als Sohn Gottes die Menschen zum Guten befreien soll, so soll Merlin, der Sohn des Teufels, sie „zum Bösen befreien“.
  • Die Frage der Vorherbestimmung hat Dorst als wesentliches Motiv Merlins herausgehoben. Der Zauberer versucht, bewusst gegen die schicksalhafte Vorherbestimmung durch seinen Vater, den Teufel, anzukämpfen – und scheitert.
  • Dadurch wird auch die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen gestellt. Das Leben des König Artus wird fortwährend von außen bestimmt: Gegen seinen Willen wird er König, ohne Merlins Anweisungen und Einschätzungen ist er unfähig, Entscheidungen zu treffen, und durch die Art, wie er seinen Sohn behandelt, führt er unwissentlich das Ende seiner Tafelrunde herbei.
  • Das Motiv der Tafelrunde steht für die Hoffnung auf ein Ende aller Kriege, für eine friedliche Gesellschaft. Dabei symbolisiert der runde Tisch, an dem jeder Sitz gleichrangig ist, eine von Ungleichheit und Macht befreite Gemeinschaft.
  • Eine gängige Interpretation lautet, es gehe in Merlin um das Ende aller Utopien. Dorst betonte jedoch, Ursula Ehler und ihm sei es beim Schreiben eher um die Frage gegangen, wie der Mensch überhaupt ohne Utopien leben könne.
  • Insbesondere wird Merlin oft im Zusammenhang mit dem Scheitern politischer Utopien im 20. Jahrhundert gelesen. Diese Lesart knüpft vor allem an die Bemerkung des Teufels an, dass alle Ideen, die dem Menschen das Paradies eröffnen sollten, sie letztlich „geradewegs in die Hölle“ geführt hätten.
  • Dorst selbst hat die Bedeutung des Generationenkonflikts in Merlin hervorgehoben. Das Stück ist voll von problematischen Vater-Sohn-Beziehungen, in denen die Jungen die Alten kritisieren, verspotten und deren Ideen ablehnen. 

Historischer Hintergrund

Deutschland in den 1970er-Jahren

Deutschland war ab 1949 in die zwei Staaten BRD und DDR geteilt. 1973 traten beide der UNO bei. Die Wirtschaft, sowohl in der BRD als auch in der DDR, strauchelte während dieses Jahrzehnts, nicht zuletzt aufgrund der beiden großen Rezessionen der Weltwirtschaft, als sich der Ölpreis 1973 durch ein politisch motiviertes Embargo seitens der arabischen Exporteure und 1979 im Zuge der islamischen Revolution im Iran und des Ersten Golfkriegs rasant verteuerte. In der Folge stieg die Arbeitslosigkeit erstmals seit den 1950er-Jahren wieder spürbar an. Das Aufkommen des Terrorismus erschütterte die nationale wie internationale Politik. 1972 kam es während der Olympischen Spiele in München zu einem blutigen Attentat gegen die israelische Mannschaft durch eine palästinensische Terrorgruppe, das als Geiselnahme begann und mit dem Tod aller elf Geiseln endete. Im Herbst 1977 wurde die Bundesrepublik von Anschlägen durch die Terrorgruppe RAF in Atem gehalten. Ab 1974 regierte in Westdeutschland eine sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, der für politischen Pragmatismus stand und utopisches Denken strikt ablehnte. Gegen Ende des Jahrzehnts entstand mit der Partei Die Grünen eine neue politische Kraft, in der sich die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen vereinten. Damit rückten zuvor eher marginale Probleme wie Umweltverschmutzung, ökologische Nachhaltigkeit oder Atomkraft ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und eröffneten eine globale Perspektive auf Entwicklungen, die die gesamte Menschheit bedrohten.

Entstehung

Tankred Dorst schrieb Merlin zwischen 1978 und 1980 gemeinsam mit seiner Frau Ursula Ehler. Die Arbeit an dem Stück erwies sich als langwierig und zäh, was unmittelbar mit der ursprünglichen Zielsetzung des Projekts zusammenhing: 1978 besprachen der Intendant des Deutschen Theaters in Hamburg, Ivan Nagel, der Regisseur Peter Zadek und Dorst selbst die Möglichkeit, ein Stück in der alten Fischmarkthalle am Hamburger Hafen zu inszenieren. Das Stück sollte eine ganze Nacht lang dauern und alle Areale der riesigen leer stehenden Halle gleichzeitig bespielen. Damit war klar, dass das zu schreibende Stück eine bisher ungewohnt offene Form haben musste. Einzelne Szenen und Fragmente sollten zwar in einen übergreifenden Erzählstrang eingebunden, aber auch so unabhängig voneinander sein, dass sie an verschiedenen Orten zugleich gespielt werden konnten.

Zadek schlug den Artusstoff vor. Dorst war schon als Kind von der Figur des Zauberers Merlin fasziniert gewesen, deshalb legte er sich bereits früh auf den Titel Merlin fest. Nagel hingegen plädierte für „Die Ritter der Tafelrunde“, um damit ein breiteres Publikum anzusprechen. Die erste Szene, die Dorst und Ehler schrieben, war die brutale Ermordung des Sir Ither durch Parzival. Aus dieser Szene wuchs langsam eine achtseitige Skizze von Charakteren, Dialogen und Ereignissen. Der Stoff erwies sich als widerspenstig. Dorst las viele ältere Fassungen der Artussage, die entscheidende Inspiration blieb jedoch vorerst aus. Auch hatte das Autorenpaar einige Schwierigkeiten, den mythischen Rittern und Zauberern Aktualität und Leben einzuhauchen. Als das Material immer weiter anwuchs und klar wurde, dass eine Aufführung des ganzen Stücks 13 bis 14 Stunden benötigen würde, drängte sich zudem die Frage auf, wie eine solch umfangreiche Geschichte erzählt werden sollte. Die Antwort auf diese Frage erübrigte sich jedoch, als 1979 die Bühnenrealisierung des Stücks scheiterte: Die Halle stand nicht zur Verfügung und Zadek wollte Merlin auf keiner anderen Bühne inszenieren. Doch Ehler und Dorst waren inzwischen so sehr mit der immer weiter auswuchernden Geschichte verwachsen, dass ihnen Merlin zu einer Mission wurde, die es unter allen Umständen zu vollenden galt. Sie beschlossen, das Stück als reinen Text, als „Kopftheater“ niederzuschreiben.

Wirkungsgeschichte

1981 erschien Merlin als Buch und wurde am 24. Oktober desselben Jahres am Schauspielhaus Düsseldorf von Jaroslav Chundela als siebenstündige Kurzfassung uraufgeführt. Aufgrund der Überlänge und Komplexität des Stücks wurden bisher nur Auszüge auf die Bühne gebracht. 1982 wurde Merlin an den Münchner Kammerspielen von Dieter Dorn inszeniert. Es folgten internationale Aufführungen, unter anderem in Rotterdam, Bukarest und Edinburgh. Dorst selbst hob eine Inszenierung des Teatro O Bando in Lissabon besonders hervor, das Merlin in der freien Natur und bei Nacht aufführte. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde und wird das Stück regelmäßig inszeniert, 2011 sogar gleich dreimal, in Hamburg, München und Zürich. 2005 fand die französische Erstaufführung durch Jorge Lavelli statt. Unter der Regie Walter Adlers erschien 1993 eine Hörspielfassung, die vom MDR produziert wurde. Auch an Tankred Dorst selbst hat das Stück Wirkung gezeigt: 2005 bezeichnete er es retrospektiv als „Mittelpunkt meiner Lebensarbeit“, in dem alle Motive und Probleme, die ihn umtrieben, enthalten seien und das ihn bis in die Gegenwart immer wieder zu neuem Schaffen angetrieben habe. 

Über den Autor

Tankred Dorst wird am 19. Dezember 1925 im thüringischen Oberlind als Sohn einer wohlhabenden Industriellenfamilie geboren. Noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wird er zur Wehrmacht einberufen und gerät an der Westfront in Kriegsgefangenschaft. Als er 1947 zurückkehrt, ist seine Geburtsstadt Teil der russischen Besatzungszone, die Familie ist nach Westdeutschland geflohen. In Lüdinghausen holt Dorst sein Abitur nach und studiert anschließend Germanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften, zunächst in Bamberg, dann in München, wo er ab 1951 wohnt. Er arbeitet im Marionettentheater Das kleine Spiel und schreibt erste Theaterstücke. Ab den 1960er-Jahren erlangt er sowohl als Autor als auch als Regisseur von Bühnenstücken internationalen Erfolg. 1963 wird er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. 1968 gelingt ihm mit Toller der Durchbruch. Seine Frau Ursula Ehler lernt er am Marionettentheater in München kennen. Ab 1971 gibt er die meisten seiner Werke in Co-Autorschaft mit ihr heraus. In den 1970er-Jahren übt er eine Reihe von Gastprofessuren inner- und außerhalb Deutschlands aus und wird Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Außerdem wendet er sich dem Film zu, schreibt Drehbücher und produziert 1978 den Fernsehfilm Klaras Mutter in Eigenregie. Dorst veröffentlicht Hörspiele und Bücher, schreibt weiter für Theater und Film und erhält eine Vielzahl deutscher und internationaler Preise. 1983 wird er in die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz aufgenommen. 1990 erhält er den Georg-Büchner-Preis und 2006 gibt er ein spätes Regiedebüt an der Oper, indem er in Bayreuth Wagners Ring des Nibelungen inszeniert. Ab 2013 lebt er mit seiner Frau in Berlin, wo er am 1. Juni 2017 stirbt. 

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    M. K. vor 3 Jahren
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    J. G. vor 7 Jahren
    Gut