Jean-Jacques Rousseau
Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen
Reclam, 2010
Was ist drin?
Der Mensch ist von Natur aus gut, sagt Rousseau, doch die Gesellschaft hat ihn verdorben.
- Philosophie
- Aufklärung
Worum es geht
Der Mensch ist von Natur aus gut
Der sogenannte Naturzustand des Menschen war im 18. Jahrhundert ein beliebtes theoretisches Konstrukt. Es war eine Zeit, in der staatliche Macht mehr und mehr hinterfragt wurde und ein zunehmend emanzipiertes Bürgertum sein Mitspracherecht einzufordern begann. Dadurch wurden Grundsatzfragen akut: Wie soll ein idealer Staat, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen? Welche Maßstäbe sollen für gute Gesetze gelten? Um diese Fragen zu beantworten, dachten Philosophen darüber nach, warum Menschen sich überhaupt zu Gesellschaften zusammengefunden haben. Jean-Jacques Rousseaus hielt den Naturzustand des Menschen für ein Paradies auf Erden, ohne Not und Zwänge. Doch dieser Zustand, so Rousseau, entartete durch die Erfindung des Eigentums zu kriegerischem Chaos. Hier bot ein Gesellschaftsvertrag einen echten Mehrwert: Sicherheit, ein ruhiges Leben – und das bei weitgehender Wahrung der Freiheit. Rousseaus Ideal war die Republik Genf, der er seine Schrift widmete. Seine Gedanken zu Freiheit, Gleichheit und den Grundlagen bürgerlichen Rechts haben viele moderne politische Entwicklungen enorm beeinflusst. Ein Blick in die Schrift lohnt auch mehr als 200 Jahre nach ihrer Entstehung.
Take-aways
- Die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen zählt zu Rousseaus einflussreichsten politischen Schriften.
- Inhalt: Die Menschen im Naturzustand lebten frei und vereinzelt. Erst mit der Erfindung des Eigentums kamen Ungleichheit und die Begriffe von Gut und Böse in die Welt. Um dem anschließenden kriegerischen Chaos zu entkommen, schlossen die Menschen einen Gesellschaftsvertrag als Grundlage des bürgerlichen Rechts.
- Die Abhandlung entstand als Antwort auf eine Preisfrage der Akademie von Dijon.
- Rousseau widmete die Schrift seiner Heimatstadt Genf und kritisierte darin die dekadente Pariser Gesellschaft scharf.
- Er entwickelte in dem Werk sein Menschenbild sowie die theoretischen Grundlagen zum Naturzustand und zum Gesellschaftsvertrag.
- Dabei griff er auf verschiedene zeitgenössische Denker wie Thomas Hobbes oder Samuel von Pufendorf zurück.
- Die Thesen arbeitete er später in seiner bekanntesten Schrift Der Gesellschaftsvertrag weiter aus.
- Die Abhandlung lieferte den Wortführern der Französischen Revolution wichtige Argumente.
- Rousseaus Ideen haben den Lauf der Geschichte in Europa entscheidend beeinflusst.
- Zitat: „Aus dieser Darlegung folgt, dass die Ungleichheit, die im Naturzustand fast gleich null ist, ihre Kraft und ihr Wachstum aus der Entwicklung unserer Fähigkeiten und den Fortschritten des menschlichen Geistes bezieht und schließlich durch die Einführung des Eigentums und der Gesetze dauerhaft und rechtmäßig wird.“
Zusammenfassung
Der Republik Genf gewidmet
Die Staatsform der Republik Genf schafft es auf vorbildliche Weise, die natürliche Gleichheit der Menschen und die Ungleichheit, die jede Art von Gesellschaft hervorbringt, in ein Gleichgewicht zu bringen. Der Staat ist relativ klein und überschaubar, die Regierung demokratisch und gemäßigt. Die Gesetze gelten für alle Bürger gleichermaßen und haben durch die lange Tradition der demokratischen Ordnung ein starkes und erprobtes Fundament. Die Genfer Bürger sind ihre Freiheit gewöhnt und nutzen sie nicht aus, wie es vielleicht Menschen täten, für die eine demokratische Ordnung ganz neu ist. Genf ist nicht mächtig genug, andere Länder zu erobern, und führt auch nicht andere Länder in Versuchung, es zu erobern. Alle Bürger sind gemeinsam für die Gesetzgebung verantwortlich. Die Aufgabe, die gemeinsam gefundenen Regeln umzusetzen, übertragen sie dem ehrwürdigen Magistrat. All das macht die Republik zum Vorbild für andere Staaten.
Auf der Suche nach dem Naturmenschen
Bei aller Wissenschaft, die die Menschen seit Jahrhunderten betreibt, wissen wir immer noch kaum etwas über uns selbst. Da jeder Fortschritt der Selbsterkenntnis uns weiter von unserem Naturzustand entfernt, wird ebendiese Selbsterkenntnis immer schwieriger. Es lässt sich kaum noch sagen, was natürlich und was künstlich ist. Viele Philosophen haben sich die Aufgabe gestellt, herauszufinden, was wir heute über den Naturmenschen sagen können. Das sind entscheidende Erkenntnisse, weil wir nur daraus die Grundlagen des Naturrechts ableiten können. Zwischen den Philosophen, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben, bestehen große Unstimmigkeiten, die schon bei der Definition des Begriffs „Gesetz“ anfangen. Die meisten machen den Fehler, sich den Naturmenschen bereits so aufgeklärt vorzustellen, dass er über einen elaborierten Gesetzesbegriff verfügt oder über andere Kenntnisse, die er noch gar nicht haben kann. Man muss hingegen annehmen, dass das Naturrecht natürlich ist, also unmittelbar aus der Natur des Menschen folgt.
„Wenn sie uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, dann wage ich fast zu versichern, dass der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur ist und dass der Mensch, der nachdenkt, ein entartetes Tier ist.“ (S. 40 f., über die Natur)
Der Mensch scheint durch zwei Regungen gelenkt zu sein: den Selbsterhaltungstrieb und den Unwillen, einem anderen Lebewesen, vor allem einem anderen Menschen, Leid zuzufügen. Mitgefühl ist eine natürliche Regung, die nur durch Gefahr für das eigene Wohlergehen außer Kraft gesetzt wird. Die Aufdeckung der grundlegenden Bedürfnisse des natürlichen Menschen ist entscheidend für viele Fragen, etwa für die Frage nach der Ungleichheit oder jene nach den Rechten und Pflichten von Bürgern. Die Antworten liefern ein Fundament für politische und gesellschaftliche Theorien und Entscheidungen.
Die Aufgabe
Die Akademie von Dijon fragt: Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst zwei Arten der Ungleichheit unterscheiden: eine natürlich-physische und eine gesellschaftlich-politische. Die erste Art soll nicht näher betrachtet werden, da ihr Ursprung eindeutig ist und da sie keine direkte Auswirkung auf die gesellschaftliche Ungleichheit hat oder zumindest, unter freien Menschen, keine haben sollte. Zu fragen ist also nach dem Zeitpunkt, an dem Gesetze an die Stelle der Natur traten. Viele Philosophen haben sich auf die Suche nach dem Naturzustand gemacht, doch kaum jemand hat ihn gefunden. Die meisten unterstellten dem Menschen in diesem frühen Stadium bereits Begriffe und Eigenschaften wie Macht, Habsucht oder Recht, die er aufgrund seines primitiven Entwicklungsstands noch gar nicht haben konnte. Zudem muss man sich klarmachen, dass wir, wenn wir vom Naturzustand sprechen, nicht eine tatsächliche Epoche meinen, sondern lediglich ein theoretisches Konstrukt. In einer solchen hypothetischen Untersuchung haben geschichtliche Fakten und auch religiöse Überzeugungen keinen Platz: Es geht allein darum, zu untersuchen, was aus der menschlichen Natur folgt, wenn sie von der Gesellschaft unbeeinflusst bleibt.
Das Leben des Wilden
Der frühe Mensch hat die Tiere beobachtet und imitiert, er war robust und stark – sein Körper war sein Werkzeug. Es ist wahrscheinlich, dass der Naturmensch nur bei akuter Bedrohung Gewalt eingesetzt hat. Die größte Gefahr ging für ihn von Krankheit und Alter aus, wobei es scheint, dass viele Krankheiten erst eine Folge unserer heutigen Lebensweise sind. Der Naturmensch wird kaum unter zu wenig Bewegung, zu üppigem Essen oder finanziellen Sorgen gelitten haben. Im Naturzustand musste der Mensch sich nur um seine eigene Erhaltung sorgen, also wird er den Großteil seiner Kraft auf die Verteidigung gegen Feinde und das Erbeuten von Nahrung gerichtet haben.
„Mithin steht wohl fest, dass das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, das in jedem Individuum die Wirksamkeit der Selbstliebe mäßigt und daher zur gegenseitigen Erhaltung der gesamten Gattung beiträgt.“ (S. 64)
Im Unterschied zum Tier kann der Mensch frei entscheiden, was er tut und welche Regeln, die ihm die Natur vorschreibt, er tatsächlich befolgt. So kommt es, dass Menschen oft Dinge tun, die ihnen schaden. Ein weiterer Unterschied zum Tier ist die Perfektibilität: das Vermögen, sich zu verbessern und zu lernen. Die frühen Menschen wurden von Wollen und Nichtwollen, Begierde und Furcht bestimmt. Diese Leidenschaften sind ein wichtiger Motor der Entwicklung. Unser Verstand und unsere Einbildungskraft bringen uns dazu, Dinge, die wir nicht haben, zu begehren. Im Naturzustand will der Mensch nur Nahrung, Ruhe, Sex sowie die Abwesenheit von Schmerz und Hunger. Er plant nicht voraus, ist nicht neugierig und hat keine Angst vor dem Tod. Er lebt vollkommen in der Gegenwart. Es scheint ein gigantischer Sprung von diesem Zustand hin zu den ersten Erkenntnissen, dem Beginn des Ackerbaus, der Nutzbarmachung des Feuers. Man muss sich fragen, wie und wann der erste Mensch wohl die Mühe auf sich genommen hat, ein Feld zu bestellen, dessen Ernte ungewiss war und jederzeit geplündert werden konnte. Noch schwerer vorstellbar ist jedoch, dass dieser Mensch sich bereits Gedanken über Begriffe wie Gerechtigkeit gemacht haben soll. Wie sollten sich die Menschen, die überall verstreut lebten und einander kaum je sahen, über gemeinsame Regeln des Zusammenlebens verständigen, wie es manche Philosophen annehmen?
Ist der freie Mensch glücklicher?
Jedes Elend, in dem sich der Mensch wiederfinden kann, scheint eine Folge der Zivilisation zu sein. Wer frei lebt, jammert nicht und begeht nicht Selbstmord. Im Naturzustand gibt es weder Gut noch Böse, weder Tugend noch Laster – moralische Urteile sind erst in einer organisierten Gesellschaft überhaupt sinnvoll. Dass der Naturmensch keine Tugend kennt, bedeutet nicht, dass er von Natur aus böse ist, wie etwa Hobbes behauptet. Vielmehr strebt er einen Zustand an, der seinen eigenen Zielen am meisten nutzt – mit dem kleinstmöglichen Schaden für andere. Dieser Widerwille, anderen Leid zuzufügen, ist beinahe ein Reflex, so natürlich, dass wir ihn mit vielen Tieren teilen. Alle großen Tugenden wie Großmut und Menschlichkeit leiten sich aus diesem natürlichen Mitleid ab. Das Einzige, was diesen Instinkt einschränken kann, ist die Vernunft, die den Menschen unter Umständen davon abbringt, sich mit anderen zu identifizieren. Das natürliche Mitleid übernimmt im Naturzustand die Aufgabe der Gesetze, namentlich des Gebots „Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst“. Viele Leidenschaften werden erst in der Gesellschaft zum Problem, etwa die Liebe. Deren unheilvolle Kraft ist ein Produkt der Zivilisation. Rasende Eifersucht, Duelle, Ehebruch und Abtreibungen sind nur einige der schlimmen Folgen.
Eigentum: die Wurzel des Bösen
Als die Menschen den Begriff des Eigentums entwickelten und begannen, ihr Land einzuzäunen, änderte sich ihr Leben grundlegend. Während der Mensch im Naturzustand nur seine direkten Bedürfnisse befriedigte, musste er nun aufgrund von Konkurrenz und Mangel für die Zukunft planen. Nach und nach entwickelte er handwerkliche Fähigkeiten und begann, in Familien zu leben. Die Liebe zum Gatten und zu den Eltern kam in die Welt. Man machte es sich bequem – und gewöhnte sich schnell an jede neue Annehmlichkeit, die hinzukam. Bald vereinten sich Menschen zu Volksgruppen, durch Ähnlichkeit in Sitten, Sprache und Charakter verbunden. Die Bindungen zwischen den Familien und Gruppen wurden immer enger, das Leben allgemein immer friedlicher. An diesem Punkt kam die Ungleichheit in die Welt. Die Achtung der anderen wurde zur wichtigsten Währung – wer sie erhielt, erhob sich damit über seine Mitmenschen; wurde sie verweigert, waren Strafen bis hin zu blutiger Rache die Folge. Wer behauptet, der Mensch sei von Natur aus grausam, bezieht sich oft auf genau diesen Zustand der menschlichen Gesellschaft, jenen Übergangszustand zwischen der heutigen Gesellschaft und dem Naturzustand, in dem sich noch viele Naturvölker befinden und der wohl den Großteil unserer Geschichte ausmachte.
Die Gründung der Gesellschaft
Damals konnte jeder mit seiner Hände Arbeit sich selbst versorgen und es gab noch keine Arbeitsteilung. Das änderte sich mit dem Aufkommen von Metallbearbeitung und Ackerbau. Mit der Landwirtschaft kam die Aufteilung des Bodens und damit die Ungleichheit unter den Menschen, denn manche besaßen bald mehr als andere. Fähigkeiten, Intelligenz und Talente wurden entscheidend – auch wenn man sie nur vortäuschte. Prunk, Eifer, Hinterlist, Raub und Knechtschaft entstanden, als direkte Folgen des Eigentums und der Ungleichheit. Sie wirkten dem natürlichen Mitleid entgegen. Krieg und Gewalt nahmen zu und führten die Menschheit ins Chaos. Das fand erst ein Ende, als einer der Reichen seinen Mitmenschen vorschlug, man solle sich zusammentun und Regeln für das Miteinander einführen. Als Vorwand gebrauchte dieser den Schutz der Armen und die Sicherung des Privateigentums. Um dem Krieg aller gegen alle zu entkommen, waren die Menschen nur allzu gern bereit, Teile ihrer Freiheit gegen Sicherheit einzutauschen. Einen wirklichen Gewinn aus der Einführung von Gesetzen zogen jedoch nur einige wenige. Die Gründung der Gesellschaft machte die Mehrheit zu Knechten. Der größte Teil der Welt war bald dem bürgerlichen Recht unterworfen, und das Naturrecht bestand nur noch zwischen den Völkern, die grausame Kriege gegeneinander führten. Diese erste, eher zufällige Form der bürgerlichen Gesellschaft war unbeständig und schlecht durchdacht. Erst später, mit dem Einsetzen einer Verwaltung, erhielt sie eine Form, die den Anspruch auf Wahrung der Freiheit erfüllen konnte.
Freiheit ist unveräußerlich
Ein Gesellschaftsvertrag ist nur so lange gültig, wie er allen beteiligten Parteien Pflichten auferlegt und keiner im Staat außerhalb der Gesetze steht. Verwaltungsbeamte werden gewählt, die die Einhaltung der Gesetze überwachen. Sie sollen bei allen Entscheidungen das Gemeinwohl im Blick behalten. Eine Gesellschaft, in der dies nicht gewahrt ist, beruht nicht auf einem gültigen Vertrag, da kein einzelner Mensch das Recht hat, seine Freiheitsrechte freiwillig aufzugeben. Denn dadurch würden ja auch seine Nachkommen ihrer Freiheit beraubt, und für diese kann er nicht mitentscheiden.
„Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ‚Dies ist mein‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft.“ (S. 74)
Aus diesen Erkenntnissen ergibt sich, dass der Gesellschaftsvertrag gekündigt werden kann, wenn eine Seite die Verpflichtungen nicht einhält. Nach der Einführung von Gesetzen und der Einrichtung einer Verwaltung endete die geschichtliche Entwicklung oft in einer Willkürherrschaft, weil den Menschen ihre Ruhe wichtiger war als ihre Freiheit. Es ist dagegen beinahe unmöglich, Menschen zu Knechten zu machen, die stärker an ihrer Freiheit als an ihrer Sicherheit hängen. Alle Arten der Ungleichheit, etwa im Hinblick auf Macht oder Ansehen, lassen sich am Ende auf Eigentum oder Reichtum zurückführen. Je größer die Ungleichheit, desto mehr Vorurteile und Konflikte gibt es zwischen den Menschen und Ständen, bis schließlich der Despotismus Einzug hält und Tugenden, Gerechtigkeit und Freiheit ersetzt. An diesem Punkt hat der Gesellschaftsvertrag keine Gültigkeit mehr, es gilt das Recht des Stärkeren – was aber auch bedeutet, dass der Despot gestürzt werden kann.
Der moderne Mensch
Der Bürgerstand, mit seiner Gier nach Ansehen und Besitz, entfernt sich immer mehr vom Naturzustand, in dem die Menschen nur ihre Freiheit und ein ruhiges Leben wollen. Das endlose Laufen im Hamsterrad der täglichen Geschäfte, nützliche Heuchelei und gekünsteltes Auftreten machen das Leben des zivilisierten Menschen aus – er definiert sich danach, was andere über ihn sagen, ohne in sich selbst nach der Wahrheit zu suchen. Kein Wunder also, dass wir heute, bei allen Fortschritten von Wissenschaft und Philosophie, noch immer wenig über uns selbst wissen.
„Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch davor, auf diesen Betrüger zu hören. Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem gehört!‘“ (S. 74)
Die Untersuchung hat gezeigt, dass das bürgerliche Recht und die Ungleichheit mit der Natur des Menschen und dem Naturrecht im Kontrast stehen und dass die ungerechte Verteilung des Eigentums ein Skandal ist.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen besteht aus einem Vorwort, einer Einleitung und zwei Hauptteilen, an die sich ein umfangreicher Anmerkungsteil anschließt. Dem vorangestellt ist eine ausführliche Widmung an die Stadt Genf. Im ersten Teil schildert Rousseau den Naturzustand des Menschen. Der zweite Teil behandelt die Entwicklung der Menschheit aus dem Naturzustand zur modernen Gesellschaft. Zwar ist die Schrift im Rahmen eines akademischen Wettbewerbs entstanden, Rousseau wählt jedoch eine einfache und leicht zugängliche Sprache, die seine Theorien auch dem interessierten Laien eröffnen soll. Rousseau ist ein Meister des Geschichtenerzählens: Er malt lebendige Bilder vom Alltag der Menschen im Naturzustand und schildert drastisch die schlimmen Folgen des gesellschaftlichen Fortschritts. Seine Thesen werden durch die vielen Beispiele und dank lebendiger Sprache greifbar und seine Begeisterung für das Thema wirkt ansteckend.
Interpretationsansätze
- Ausgangspunkt ist die Aufgabe des Menschen, seine eigene Natur zu erforschen. Damit steht Rousseau in einer alten philosophischen Tradition – vom „Erkenne dich selbst!“ der alten Griechen bis zum „The proper study of Mankind is Man“ des englischen Frühaufklärers Alexander Pope.
- Rousseau entwickelte sein Menschenbild in Opposition zu Thomas Hobbes. Dieser malte sich den Naturzustand als Krieg aller gegen alle aus, der durch die Gesetze und die politische Ordnung befriedet wurde. Die beiden Grundthesen „Der Mensch ist von Natur aus gut“ (Rousseau) und „Der Mensch ist von Natur aus böse“ (Hobbes) führen zu vollkommen unterschiedlichen Konsequenzen für die Legitimation staatlicher Macht, die sich, vereinfacht gesagt, in den heutigen politischen Gegensätzen von links und rechts, fortschrittlich und konservativ sowie paternalistisch und liberalistisch wiederfinden.
- Bei Rousseau ist das hypothetische Konstrukt eines Gesellschaftsvertrags die Grundlage des politischen Rechts. Es ist eine Übereinkunft autonomer Individuen, die einen Teil ihrer Freiheit auf den Staat übertragen und ihn beauftragen, als Ausgleich dafür ihre Existenz zu sichern.
- Rousseau liefert Argumente für Demokratie und Sozialismus, indem er die Frage, ob die Ungleichheit durch natürliches Recht gerechtfertigt werden könne, klar mit Nein beantwortet.
- Manche würden Rousseau heute einen Kulturpessimisten nennen: Beinahe alles heutige Übel erklärt er als direkte Folge des zivilisatorischen Fortschritts.
- Der ideale Zustand der menschlichen Entwicklungsgeschichte war Rousseau zufolge nicht der Naturzustand, sondern das „Goldene Zeitalter“, in dem die Menschen schon in Verbänden zusammenlebten, aber noch kein Eigentum, keinen Ackerbau und keine Arbeitsteilung kannten.
- Viele von Rousseaus Aussagen sind erstaunlich modern. So bezieht er zum Beispiel die weibliche Hälfte der Bevölkerung nachdrücklich, wenn auch nicht immer wohlwollend, in seine Überlegungen mit ein und verurteilt Tierquälerei scharf.
Historischer Hintergrund
Europa im 18. Jahrhundert
Das sogenannte Jahrhundert der Aufklärung war in beinahe allen europäischen Staaten von tief greifenden Veränderungen geprägt und brachte einige der größten Denker der Neuzeit hervor. Von England aus verbreiteten sich die neuen wissenschaftlichen und philosophischen Ideen auf dem ganzen Kontinent. Die Vertreter der Aufklärung sahen sich als Teil einer Bewegung, deren Ziel es war, die Macht der Monarchen und der Kirche zu beschränken. In dieser Zeit wurden die theoretischen Grundsteine für unsere modernen Demokratien von Denkern wie Montesquieu und John Locke gelegt. Die politischen Philosophen der Zeit entwickelten ihre Ideen im Dialog, griffen gegenseitig Anregungen auf und dachten die jeweiligen Thesen des anderen weiter.
In Frankreich bauten inzwischen König Ludwig XIV. und seine Nachfolger die Staatsform des Absolutismus aus, der die Rechte der Bürger beschnitt und damit immer mehr Macht auf den Monarchen vereinte. Das Königtum feierte sich selbst in überbordendem Pomp, während das Volk hungerte. Die zunehmende Unzufriedenheit entlud sich, auch infolge der starken Verurteilung der Zustände durch französische Denker wie Denis Diderot, Voltaire und Jean-Jacques Rousseau, schließlich 1789 in der Französischen Revolution.
Entstehung
Anlass für die Abhandlung war eine Preisfrage der Akademie von Dijon zum Thema Ungleichheit unter den Menschen. Rousseau ergriff die Gelegenheit, um mit der besseren Gesellschaft von Paris, mit der er sich zuvor überworfen hatte, öffentlich abzurechnen.
Rousseau griff für die Schrift Themen aus seiner Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste (1750) auf und verarbeitete die Ergebnisse wiederum in späteren Schriften weiter, vor allem in seinem politischen Hauptwerk Vom Gesellschaftsvertrag (1762). In seine Theorie zum Thema Gesellschaftsvertrag und bürgerliches Recht flossen Ideen von Zeitgenossen wie Samuel von Pufendorf und John Locke, aber auch solche antiker Philosophen wie Platon und Aristoteles ein. Zentral für Rousseaus Menschenbild und, darauf aufbauend, für seine Thesen zum Naturzustand war die Ablehnung der Thesen Thomas Hobbes’. Der britische Gelehrte hatte 1651 in seiner einflussreichen Schrift Leviathan die Staatsidee des Absolutismus im Rückgriff auf die Idee eines Naturzustands legitimiert.
Großen Einfluss auf Rousseaus Theorie werden auch die Erkenntnisse französischer Naturforscher, etwa jene von Jean-Baptiste Du Tertre, gehabt haben, die die Welt bereisten und exotische Länder, Naturvölker, Tiere und Pflanzen beschrieben. Ihre Aufzeichnungen bildeten einen enormen Fundus, aus dem Rousseau etwa die Auswirkung des Klimas auf die Kulturgeschichte ableitete. Die Theorien der Weltreisenden selbst betrachtete er mit gesunder Skepsis – zu oft waren sie durch Vorurteile und eigensüchtige Motive verfärbt.
Wirkungsgeschichte
Den Wettbewerb der Akademie von Dijon gewann Rousseau nicht – seine Schrift war viel zu lang –, doch seine Botschaft erreichte ihr Ziel und fand zahlreiche Kritiker. Vor allem Voltaire kommentierte die Schrift bissig und unterstellte dem mittellosen Rousseau Sozialneid.
Der Einfluss, den Rousseaus Ideen auf nachfolgende Generationen hatten, ist kaum zu überschätzen. Vieles in seiner Abhandlung nimmt große Entwicklungen in ganz unterschiedlichen Bereichen vorweg. Rousseaus Kulturkritik und die positive Darstellung des Naturzustands kann als Vorläufer von so vielfältigen Strömungen wie Sturm und Drang und Romantik, der modernen Ökobewegung und letztlich auch des Sozialismus angesehen werden. Dichter und Denker wie Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe bezogen Denkanstöße aus Rousseaus Werk. Rousseaus Warnung vor der Vorherrschaft der Vernunft und den negativen Folgen dieser kühlen Rationalität gab Impulse für die Arbeiten Max Horkheimers und Theodor W. Adornos.
Der nachhaltigste Einfluss Rousseaus ist jedoch bis heute im Gebiet der politischen Philosophie zu spüren. Seine Thesen zum Gesellschaftsvertrag wurden im Zuge der Französischen Revolution zu zentralen Argumenten gegen die Unterdrückung des Volkes. Weitreichende Folgen hatte vor allem Rousseaus Annahme, dass der Gesellschaftsvertrag bei Nichteinhaltung gekündigt werden könne. Zu beinahe allen großen Errungenschaften demokratischer Bestrebungen seit dem 18. Jahrhundert, von allgemeinen Wahlen bis hin zur Umverteilung, finden sich Bezüge bei Rousseau.
Über den Autor
Jean-Jacques Rousseau wird am 28. Juni 1712 als Sohn einer protestantischen Familie französischer Herkunft in Genf geboren. Die Mutter stirbt kurz nach der Geburt; der in Fantastereien befangene Vater, ein Uhrmacher, kümmert sich wenig um seinen Sohn und vertraut ihn schließlich einem Pfarrer an. Obwohl Jean-Jacques nicht zur Schule geht, lernt er sehr früh lesen und wird zunächst Lehrling bei einem Graveur, später bei einem Gerichtsschreiber. Mit 16 Jahren geht er auf Wanderschaft, wobei er in Savoyen bei der frommen Madame de Warens unterkommt, die einen prägenden Einfluss auf ihn ausübt und ihn zum Katholizismus bekehrt. Rousseau beginnt Ausbildungen in einem Priesterseminar und bei einem Musiklehrer, bricht jedoch beide ab. Später geht er nach Paris, wo er ein karges Leben als Hauslehrer und Kopist von Partituren fristet. Er verkehrt in Intellektuellenkreisen und liiert sich mit der Dienstmagd Thérèse Levasseur, die er allerdings erst 23 Jahre später heiratet. Die fünf gemeinsamen Kinder gibt das Paar in einem Waisenhaus ab. Während eines kurzen Aufenthalts in Genf nimmt Rousseau die zuvor verlorene Bürgerschaft der Stadt wieder an. Gleichzeitig schwört er dem Katholizismus ab. Rousseau macht sich durch seine gesellschaftstheoretischen Schriften einen Namen und schreibt zwischen 1756 und 1762 seine erfolgreichsten und wirkmächtigsten Werke, darunter Julie oder Die neue Héloïse (Julie ou la Nouvelle Héloïse, 1761), Emile oder über die Erziehung (Émile ou De l’éducation, 1762) und das staatsphilosophische Werk Vom Gesellschaftsvertrag (Du Contract Social, 1762). Das Pariser Parlament verbietet Emile wegen ketzerischer Ansichten, in Genf wird das Buch gemeinsam mit Vom Gesellschaftsvertrag öffentlich verbrannt. Rousseau, der mit der Pariser Intellektuellenszene endgültig gebrochen hat und zunehmend an Verfolgungswahn leidet, geht wieder auf Wanderschaft. Er hält sich in der Schweiz, in Preußen und auf Einladung von David Hume in London auf, um schließlich unter dem Decknamen Renou nach Paris zurückzukehren. 1778 ist er Gast des Marquis de Girardin auf Schloss Ermenonville, wo er am 2. Juli stirbt. 1794 werden seine Gebeine ins Pariser Panthéon übergeführt.
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