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Aeneis

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Aeneis

Artemis & Winkler,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Wo Homer aufhört, setzt Vergil an: Nach dem Trojanischen Krieg beginnen die Irrfahrten des Aeneas, der schließlich zum Stammvater der Römer wird. Und Vergil wird mit diesem Epos zum „Dichter der Römer“.


Literatur­klassiker

  • Epos
  • Römische Antike

Worum es geht

Die Begründung des Mythos Rom

Vergils Epos Aeneis gehört zu den berühmtesten Werken der lateinischen Literatur, ja es enthält sogar den Gründungsmythos des Römischen Reiches. Unverkennbar lehnt sich Vergil an sein großes Vorbild Homer an: Wie dieser den Trojanischen Krieg und die Reisen des Odysseus besingt, so schildert Vergil die Abenteuer des trojanischen Fürstensohns Aeneas. Nach jahrelanger Irrfahrt, Widrigkeiten durch feindlich gesinnte Götter, einer unglücklichen Liebe und zahlreichen Kämpfen wird Aeneas König der Latiner, eines Volks am Tiber, von dem später Romulus und Remus, die eigentlichen Gründer Roms, abstammen. Das Epos verheißt dem römischen Volk Friede und Einigkeit, sofern es sich an die wahren römischen Tugenden halte: Dazu gehören nicht nur Kampf und Eroberung, sondern auch Milde, Nachsicht gegenüber dem besiegten Feind und Gottesfurcht. Vergil hat mit der Aeneis zugleich eine Hymne auf Kaiser Augustus, seinen Gönner, verfasst. Augustus wird als Vollender der römischen Geschichte präsentiert. Hintergrund dieser Darstellung eines „starken Mannes“ waren u. a. die blutigen Bürgerkriege zu Vergils Zeit im ersten Jahrhundert vor Christi Geburt, die Rom vor eine innenpolitische Zerreißprobe stellten. Vergils Epos ist spannend zu lesen, wenn auch das Versmaß für heutige Leser gewöhnungsbedürftig ist.

Take-aways

  • Das Epos Aeneis ist ein Hauptwerk der lateinischen Literatur. Es schildert die Irrfahrten des Aeneas, der aus dem zerstörten Troja fliehen muss.
  • Der Gott Jupiter erteilt ihm den Auftrag, sein Volk von Troja aus nach Italien zu führen und dort einen neuen Staat zu gründen.
  • Ähnlich wie Odysseus muss Aeneas zahllose Abenteuer bestehen. Dabei ist auch er den Launen der Götter ausgesetzt.
  • Aeneas ist fromm und hält sich streng an Jupiters Auftrag.
  • Sein Pflichtbewusstsein siegt sogar über die Liebe: Er verlässt seine Geliebte Dido, die Königin von Karthago, um nach Italien weiterzuziehen.
  • Weil Aeneas den Willen der Götter erfüllt, kann er alle Gefahren überstehen.
  • Aeneas erobert die Landschaft Latium in Italien und begründet das Geschlecht, aus dem einige Jahrhunderte später die Gründer Roms, Romulus und Remus, hervorgehen.
  • Vergil erlebte Krieg und Heimatverlust am eigenen Leib. Diese Themen sind erzählerische Leitmotive der Aeneis.
  • Nach einem Jahrhundert der blutigen römischen Bürgerkriege eröffnete Vergil seinen Lesern Perspektiven auf ein ruhiges, sinnvolles und gottgewolltes Leben.
  • Vergil will, dass sich die Römer auf ihre Tugenden rückbesinnen. Zwar würden Krieg und Eroberung auch zu diesen gehören, aber an ihre Seite müssten Milde und Gottesfurcht treten.
  • Das Buch ist nebenbei eine Hymne auf den Gönner Vergils, Kaiser Augustus, dem die Rolle eines Heils- und Friedensbringers prophezeit wird.
  • Vergil gilt als der größte römische Dichter. Sein Epos prägte die nachfolgende lateinische und mittelalterliche Literatur entscheidend.

Zusammenfassung

Die Flucht aus Troja

Der Trojaner Aeneas ist der Sohn eines Menschen und einer Göttin: Seine Mutter Venus hat seinen Vater Anchises verführt, einen trojanischen Prinzen. Der höchste Gott Jupiter hat Aeneas zu großen Taten ausersehen: Er soll den Trojanern eine neue Heimat in Italien schaffen und das römische Volk begründen. Denn um Troja, einen Stadtstaat in Kleinasien (der heutigen Türkei), wird seit zehn Jahren ein erbitterter Krieg geführt: Die Griechen wollen die mächtige Festung erobern, sie belagern sie und bestürmen sie immer wieder. Schließlich verschafft sich der griechische Held Odysseus mit einer List Zugang zur Stadt: Im Bauch eines hölzernen Pferdes schleust er griechische Soldaten hinein. Die Griechen beginnen, die Stadt niederzubrennen. Aeneas schläft zwar, wird aber im Traum vor der Gefahr gewarnt. Eilig mahnt er seinen Vater Anchises, seine Frau Crëusa und seinen Sohn Askanius, auch Julus genannt, zum Aufbruch. Doch der blinde und gelähmte Vater weigert sich, seine Heimatstadt zu verlassen. Erst ein Omen – eine Flamme erscheint über Aeneas’ Kopf, ohne ihn zu verbrennen – überzeugt den Greis.

„Prangend umhüllt vom gelblichen Fell seiner Amme, der Wölfin, / führt dann Romulus weiter den Stamm: die Mauern der Marsstadt / baut er auf und nennt nach seinem Namen die Römer.“ (Jupiter, S. 21)

Aeneas nimmt den Vater auf seine Schultern und rettet, da er ein frommer Mann ist, außerdem die Penaten (die Hausgötter) und die Götterbilder seiner Heimat. Mit seiner Familie eilt er durch die brennenden Straßen. Im Kampfgewirr verliert er seine geliebte Frau Crëusa. Diese erscheint ihm dann aber in einer Vision und tröstet ihn: Es sei göttlicher Wille, dass sie ihn nicht auf seinem weiteren Weg begleiten dürfe. Sie ist es auch, die ihm sein Ziel nennt: ein fernes Land im Westen. Den Fliehenden schließen sich weitere Trojaner an, und es gelingt ihnen, die untergehende Stadt zu verlassen und bis zum Meer vorzustoßen. In einer kleinen Hafenstadt bauen sie sich eine Flotte von 20 Schiffen und segeln mit ihnen in Richtung Westen.

Irrfahrt gen Westen

Auf der Insel Delos befragen die Reisenden das Orakel im Tempel des Apollon. Es sagt ihnen, sie sollen zu ihrer „alten Mutter“, zu ihren Ursprüngen zurückkehren. Aeneas’ Vater Anchises glaubt, dass damit die Insel Kreta gemeint sei, da Teukrus, der Ahnherr der trojanischen Könige, von dort gekommen ist. Frohen Mutes machen sich die Flüchtlinge in die vermeintliche Heimat auf. Zunächst geht alles gut auf Kreta: Die Trojaner bauen sich Unterkünfte und bestellen die Felder. Aeneas lässt eine Burg errichten, die er – in Gedenken an seine Heimat Troja – Pergamon nennt. Er erlässt Gesetze und spricht Recht, wird also der Anführer der Schar von Heimatlosen. Aber dann trifft sie großes Leid: Eine Seuche rafft die gesamte Ernte dahin und vernichtet die Arbeit eines ganzen Jahres. Die unglücklichen Trojaner wenden sich an Aeneas, der aber auch keinen Rat weiß.

„Was nur frommt’s, sich heillos so dem Schmerze zu lassen, / du mein trauter Gemahl? Nicht ohne das Walten der Götter / wird es gefügt, nicht ist dir’s bestimmt, von hier mit Crëusa / fortzuziehn, nicht lässt dies zu des Olympus Beherrscher.“ (Crëusa, S. 93)

Wieder ist es ein Traum, der ihm weiterhilft. Die Penaten erscheinen ihm und erläutern, was das Orakel in Wahrheit zu bedeuten hatte: Mit der „alten Mutter“ sei nicht Kreta, sondern Latium gemeint – das Land, aus dem Dardanus, der Gründer Trojas, stammte. Also schiffen sich die Heimatlosen wieder ein und segeln weiter in Richtung Westen. Sie geraten in einen Sturm und werden an die Küste der Strophades-Inseln im Ionischen Meer (zwischen Griechenland und Italien) geworfen. Zunächst stillen die Seefahrer ihren Hunger mit dem Fleisch von Ziegen und Rindern, die sie dort finden und braten. Aber dann werden sie von Harpyien angegriffen, die ihre Herden verteidigen wollen. Die hässlichen, vogelartigen Wesen stürzen sich mit widerlichem Gekreische auf sie und beschmutzen das Essen mit Kot. Tapfer kämpfen die Trojaner gegen die Ungeheuer und können sie schließlich verjagen. Doch eine der Harpyien, Kelaeno, verkündet ihnen böse, sie würden Italien zwar erreichen, aber schrecklichen Hunger leiden und am Ende sogar ihre eigenen Tische essen müssen.

Auf Sizilien

Entsetzt schiffen sich die Trojaner wieder ein. In Epirus (dem heutigen Albanien) finden sie eine Stadt, die genau nach dem Vorbild Trojas gebaut ist. Dort befragt Aeneas den Seher Helenus, welche Gefahren ihn noch erwarten. Doch Helenus verrät es ihm nicht: Juno, die Gattin Jupiters, hat es ihm verboten. Als die Trojaner Italiens Küste erreichen, gehen sie zunächst nicht an Land, weil sie dort griechische Feinde vermuten. Sie segeln bis nach Sizilien, an den Fuß des Ätna, müssen dort aber vor dem geblendeten einäugigen Riesen Polyphem fliehen. Als Nächstes passieren sie die gefährliche Meerenge zwischen Sizilien und dem Festland, wo die beiden Ungeheuer Scylla und Charybdis darauf warten, Seefahrer zu vernichten. Aber der Seemann Achaemenides, ein ehemaliger Gefährte des Odysseus (den die Trojaner aufnahmen, obwohl er ihr Feind war), zeigt ihnen den Weg.

„Dardaner, leidengestählt! Das Land, das vom Stamme der Ahnen / euch zuerst einst trug, wird euch, wenn ihr heimkehrt, empfangen / wieder an quellender Brust. Sucht auf die Mutter der Urzeit.“ (Orakel von Delos, S. 99)

Schließlich landen sie in Drepanos auf Sizilien. Hier stirbt Aeneas’ geliebter Vater Anchises erschöpft nach sieben Jahren der Irrfahrt. Weder die Führerin der Harpyien, Kelaeno, noch der Weissager Helenus hatten seinen Tod vorausgesehen. Die Gruppe schifft sich wieder ein und steuert das Festland an. Die italienische Küste schon vor Augen, schickt ihnen die rachsüchtige Göttermutter Juno einen fürchterlichen Sturm. Sie verfolgt alle Abkömmlinge Trojas mit Hass, seit der Trojaner Paris sich im Schönheitswettbewerb gegen sie und für Venus entschieden hat. Aeneas’ Flotte verliert viele Schiffe, bis der Meeresgott Neptun bemerkt, was seine Schwester in seinem Reich anrichtet, und den Sturm sofort beendet.

In Karthago

Die Trojaner sind durch den Sturm an die Küste Nordafrikas getrieben worden, nach Libyen. Dort stößt Aeneas auf eine Stadt, die gerade erbaut wird. Mit großem Eifer ist man am Werk, gewaltige Mauern zu errichten. Sie gehören zu Karthago, der späteren mächtigen Gegenspielerin Roms. Hier herrscht die schöne Königin Dido, die einst aus Tyrus (einer Hafenstadt im heutigen Israel) floh, nachdem ihr Bruder ihren Gemahl erschlagen hatte. Herzlich begrüßt sie Aeneas und seine Gefährten und gewährt ihnen Gastfreundschaft.

„Aber nicht eher umgebt ihr mit Mauern die Stadt der Verheißung, / als bis grimmiger Hunger für blutigen Frevel an uns euch / zwingt, mit Kinnbacken ganz zu zermalmen die Tische der Mahlzeit.“ (Kelaeno, S. 109)

Damit Aeneas aber auf keinen Fall Leid zustößt, veranlasst seine Mutter Venus, dass sich Dido unsterblich in ihn verliebt. Venus schließt mit ihrer Feindin, der Göttin Juno, die ihrerseits Didos Beschützerin ist, ein Zweckbündnis auf Zeit. Zusammen bewirken sie, dass Dido und Aeneas ein Liebespaar werden und sich in einer Höhle mythisch vereinigen. Aeneas vergisst im Glücksrausch nach und nach seinen Auftrag, in Italien einen neuen Staat zu gründen. Doch ein anderes Hindernis steht Didos Liebe zu Aeneas im Weg: Sie hat ihrem sterbenden Mann geschworen, ihm auch nach seinem Tod treu zu bleiben. Eine Ehe zwischen Dido und Aeneas halten die Götter daher für eine unehrenhafte Verbindung.

„Dido jedoch und der Fürst aus Troja finden zur selben / Höhle: und Tellus zuerst und Juno, die Göttin der Ehe, / geben das Zeichen; da flammen die Blitze, als Zeuge des Bundes / flammt der Äther, aufheulen vom höchsten Gipfel die Nymphen.“ (S. 143)

Jupiter hat indessen den Auftrag, den er Aeneas gegeben hat, nicht vergessen. Als er von der Affäre mit Dido erfährt, sendet er den Götterboten Merkur nach Karthago, der Aeneas an seine Pflichten erinnert und zum Aufbruch mahnt. Nach einem Jahr des Rastens und des sorglosen Lebens mit Dido rüstet sich Aeneas zum Aufbruch und fügt sich damit, trotz seiner Liebe, dem Willen der Götter. Die unglückliche Königin von Karthago will ihn nicht gehen lassen und überhäuft ihn mit schweren Vorwürfen. Doch kann sie den Trojaner von seinem Vorhaben nicht abbringen: Er segelt mit seinen Leuten fort. Als die Schiffe den Hafen verlassen, lässt Dido einen Scheiterhaufen errichten, stürzt sich in ein Schwert und verbrennt in den Flammen. Zuvor hat sie Rache geschworen – womit der Grundstein für den späteren blutigen Konflikt zwischen Rom und Karthago gelegt ist.

Landung in Italien

Wieder bringt ein Sturm die Trojaner von ihrem Kurs ab, und sie müssen erneut in Sizilien Schutz suchen. Sie werden von dem Trojaner Akestes aufgenommen und veranstalten zur Erinnerung an Aeneas’ verstorbenen Vater aufwändige Festspiele. Von Juno angestiftet, hetzt die Götterbotin Iris, Schwester der Harpyien, die Trojanerinnen auf: Diese sind der langen Irrfahrt müde und verbrennen die Schiffe. Jupiter greift ein und begrenzt die von seiner rachsüchtigen Frau verursachten Schäden. Es gehen nur vier Schiffe verloren. Doch viele von Aeneas’ Gefährten wollen nicht mehr weiterreisen. Für sie gründet er die Stadt Segesta.

„Aber wenngleich sich Aeneas gedrängt fühlt, tröstend ihr Leid zu / lindern und Kummer und Gram mit freundlichem Wort zu verscheuchen, / wenn er auch seufzt, schon wankend gemacht durch den Ansturm der Liebe, / handelt er fromm doch nach Göttergeheiß und mustert die Flotte.“ (S. 155 f.)

Nach neun Tagen lichten die restlichen Trojaner wieder die Anker. Venus verhandelt mit dem Meeresgott Neptun und setzt durch, dass ihr Sohn nun ungestört sein Ziel erreichen kann, allerdings muss einer der Reisegefährten geopfert werden: Der Steuermann Palinurus ertrinkt. Die Flotte landet in Kumae an der Westküste Italiens. Aeneas befragt die Weissagerin Sibylle, die dort in einer Höhle nahe dem Apollontempel wohnt, nach seinem Schicksal. Sie kündigt ihm große Gefahren und Kriege an, die in Latium auf ihn warten, bevor er den endgültigen Sieg erringen wird.

„Hierhin wende du jetzt deinen Blick, schau an dieses Volk hier, / deine Römer: Caesar ist hier und des Julus gesamte / Nachkommenschaft, die einst aufsteigt zum Himmelsgewölbe. / Der aber hier ist der Held, der oft und oft dir verheißen, / Caesar Augustus, der Spross des Göttlichen.“ (Anchises, S. 265 f.)

Am Avernus-See steigt Aeneas in die Unterwelt hinab, um dem Geist seines Vaters zu begegnen, der ins Elysium, das Reich der Seeligen, aufgenommen worden ist. Anchises berichtet seinem Sohn von der künftigen Größe und dem geschichtlichen Auftrag Roms – der Stadt, die Aeneas gründen soll. In einer Heldenschau zeigt er ihm die zukünftigen römischen Führer. Kaiser Augustus wird ihm als größter Held und „Spross des Göttlichen“ vorgestellt. Wichtige römische Tugenden werden es sein, Nachsicht mit Unterworfenen zu üben und Überheblichkeit nicht zu dulden. Nach dieser Begegnung mit der Seele des Toten segeln die Trojaner weiter nach Norden und fahren bis zu einem Hafen, den Aeneas Caieta nennt, zu Ehren seiner verstorbenen Amme, die er dort begräbt. Die Schiffe umfahren dann vorsichtig das von Circe bewohnte Vorgebirge, das Aeneas meidet, weil er weiß, wie gefährlich die Zauberin ist: Sie hat den Griechen Odysseus und seine Gefährten in Schweine verwandelt. Nicht weit davon mündet der Tiber ins Meer, dessen Ufer die Seeleute ansteuern.

„Ei doch, wir essen sogar noch die Tische!’, sagte da ohne / weitere Anspielung Julus; dies Wort ward vernommen und brachte gleich der Mühsal Ende.“ (S. 279)

Aeneas geht an Land und erholt sich mit den anderen Helden unter schattigen Bäumen von der strapaziösen Reise. Hungrig richten sie sich Speisen her. Zu müde, sich Essgeschirr vom Schiff zu holen, backen sie rasch Kornfladen, auf die sie wilde Früchte legen, und beißen gierig hinein. Aeneas’ Sohn Askanius kommentiert das lachend: „Wir essen ja unsere eigenen Tische!“ Jetzt begreifen die Trojaner, dass sie am Ende ihres langen Umherirrens angekommen sind, und sie verstehen plötzlich die Bedeutung von Kelaenos Prophezeiung. Erregt springt Aeneas auf und dankt Jupiter dafür, dass er die schreckliche Voraussage der Harpyie so gnädig gewendet hat. Jupiter besiegelt dies feierlich mit einem Donnergrollen.

Der Kampf um Latium

Bald halten Aeneas und seine Gefährten Einzug in die prächtige Stadt des Königs Latinus, der über Latium herrscht und bereits sehr alt ist. Er zeigt sich beeindruckt von der herrlichen Gestalt und dem edlen Gemüt des Aeneas. Ein Orakelspruch hat ihm verheißen, dass aus der Fremde sein Schwiegersohn kommen würde, dessen Nachkommen die Welt beherrschen sollten. Und so verspricht er Aeneas seine Tochter Lavinia zur Frau. Doch dies missfällt Amata, der Gattin des Latinus, deren großer Wunsch es war, ihre Tochter mit Turnus, dem Königssohn der benachbarten Rutuler, zu vermählen. Dieser hat auch schon beim König um Lavinias Hand angehalten. Amata sät Zwietracht zwischen ihrem Gemahl und Aeneas. Auch die Göttin Juno will verhindern, dass Aeneas Stammvater Roms wird, und hetzt Turnus mithilfe der Furie Allecto gegen ihn auf. Der Rutuler rüstet sich zum Krieg gegen die Eindringlinge. Ein langer und blutiger Streit beginnt, der erst beendet wird, als Turnus im Zweikampf von Aeneas besiegt wird. Er kann den Zwist mit König Latinus beilegen und nimmt die schöne Lavinia zur Frau.

„Euch, Kalliope, bitt’ ich, beseelt meinen Sang, denn ich künde, / wie dort damals Turnus gewütet, wie mit dem Schwert er / Leiden gehäuft, wen jeder der Männer schickte zum Orkus.“ (S. 387 f.)

Als der alte Latinus stirbt, wird Aeneas König in Latium. Doch die Rutuler können sich mit der erlittenen Niederlage nicht abfinden. Sie greifen die Latiner erneut an. Aeneas sucht Verbündete bei Euander von Arkadien und bei den Etruskern. Die Trojaner geraten in größte Gefahr, als Turnus ihr Lager angreift. Aeneas kann zwar dafür sorgen, dass das Kriegsglück auf seiner Seite ist, aber bei den Kämpfen gelingt es Turnus, den jungen Pallas, Sohn des verbündeten Euander, zu töten. Aeneas hat dem Vater das Versprechen geben, den Sohn zu schützen. Es kommt zu weiteren Kämpfen, als die Göttin Juno noch einmal zugunsten von Turnus eingreift. Schließlich stehen sich Aeneas und Turnus im letzten und entscheidenden Zweikampf gegenüber. Aeneas besiegt den Rutuler, der ihn um Gnade bittet. In diesem Moment sieht der trojanische Held, dass Turnus sich die Rüstung des getöteten Pallas als Trophäe umgehängt hat. In einem Zornanfall tötet er den Feind.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Aeneis besteht aus zwölf Büchern (Kapiteln), die u. a. aus der Ich-Perspektive des Helden geschrieben sind. Teile des Textes wirken unfertig, z. B. das dritte Buch. Die ersten sechs Bücher sind an Homers Odyssee angelehnt: Der fromme Aeneas fährt aus dem brennenden Troja nach Italien, muss Abenteuer und Leid durchstehen und steigt nach vielen Irrfahrten schließlich in die Unterwelt hinab – ähnlich wie Odysseus. Die zweite Hälfte der Aeneis erinnert dagegen an Homers Ilias, denn auch dort landet der Held an seinem Bestimmungsort und erobert die neue Heimat. Die Handlung wird nicht linear erzählt. So wird im ersten und vierten Buch berichtet, wie Aeneas nach einem Sturm in Karthago landet und sich in die Königin Dido verliebt. Das zweite und dritte Buch spielen am Hof der Dido: Aeneas erzählt hier selbst von seiner Flucht aus dem brennenden Troja und seinen Irrfahrten, die ihn bis nach Karthago geführt haben. Einen zusätzlichen Spannungsbogen bildet die Liebesgeschichte zwischen Dido und Aeneas: Die Zusammenkunft mit Dido könnte das Ende seiner Irrfahrt bedeuten, doch er entsagt der Liebe, um seinen göttlichen Auftrag zu erfüllen. Erzählerisch unterscheiden sich die Bücher dadurch, dass manche eine in sich geschlossene Handlung präsentieren (das zweite Buch die Flucht aus Troja, das vierte die Geschichte um Dido und Aeneas, das sechste die Heldenschau), manche aber auch nicht. Der Stil ist oft kühn, teilweise pathetisch, aber lebendig und nutzt eine reiche Bilderwelt. Vergil verwendet genau wie sein großes Vorbild Homer als episches Versmaß den Hexameter (griech. „Sechsmaß“), bei dem jede Zeile sechs Hebungen (betonte Silben) aufweist.

Interpretationsansätze

  • Aeneas ist der vorbildliche fromme Held, der dem Willen der Götter bedingungslos folgt und seine Pflicht tut, wobei er auch gegen seine eigenen Gefühle, insbesondere seine Liebe zu Dido, handeln muss. Der Fromme, der auf die Gebote der Götter hört, findet am Ende Gerechtigkeit, auch wenn er manch Ungerechtes durchzustehen hat.
  • Ein Aufbegehren gegen das vorbestimmte Schicksal – oder auch: gegen den Willen Jupiters – ist sinnlos. Mit der rachsüchtigen Juno, die sich dem Helden immer wieder in den Weg stellt, scheitert sogar eine Göttin daran.
  • Anhand der Sage von den Ursprüngen der Stadt Rom will Vergil seinen zeitgenössischen Römern ihr eigenes Wesen in Form eines Ideals vor Augen führen und daraus eine Handlungsanweisung für die Zukunft ableiten: Rom soll sich wieder auf seine alten Tugenden besinnen.
  • Leitmotive des Epos sind Vertreibung aus der Heimat, Irrfahrt, Heimatferne und Heimatsuche. Doch trotz Chaos strebt die Welt auf eine höhere, bessere Ordnung zu: Aeneas erfüllt den göttlichen Auftrag und wird so zum Begründer der späteren römischen Zivilisation.
  • Vergil wirbt stark für die römische Ideologie: Die unterworfenen Völker sollen sich dem Schicksal fügen, da Rom nun einmal zur Herrschaft bestimmt sei. Aber auch die Herrscher seien dem Schicksal verpflichtet und dürften sich nicht schändlich verhalten.
  • Oft wurde Vergil als willfähriger Hofpoet kritisiert, der Augustus’ Herrschaft rechtfertigte. Manche Wissenschaftler wiesen aber darauf hin, dass neben der offenen Heldenverehrung zwischen den Zeilen durchaus Mahnung und Kritik am Herrscher zu erkennen ist.

Historischer Hintergrund

Römischer Mythos in einer blutrünstigen Epoche

Bereits der junge Vergil war von Leid und Tod umgeben, was ihn zwar nicht direkt betraf, wohl aber als Kunde zu ihm drang: In den 100 Jahren seit 133 v. Chr., als die Familie der Gracchen versucht hatte, Rom zu reformieren, hatten die Römer nicht weniger als zwölf Bürgerkriege zu verkraften. Außerdem wurde an den Rändern des sich ausdehnenden Reiches gekämpft – Rom war zwar mächtig, aber innerlich zerrissen. Die Besten des Landes fielen im Kampf, wurden hingerichtet oder endeten als Opfer von Attentaten, so auch Julius Cäsar. Später rächten sich die Erben Cäsars, Octavian und Antonius, an den Mördern und brachten Brutus und Cassius um. Der Cäsar-Kritiker Cicero wurde getötet, sein Haupt und seine Hände wurden öffentlich zur Schau gestellt. Das innenpolitische Leben der Römer war blutrünstig geworden, die Unsicherheit von Leib und Leben bei der herrschenden Klasse war enorm, der Tod allgegenwärtig. Umso mehr wurde Octavian, Cäsars Großneffe und Ziehsohn, als Friedens- und Heilsbringer begrüßt, nachdem er seine Gegner ausgeschaltet und den Bürgerkrieg beendet hatte. Er wurde Princeps, also „Erster unter Gleichen“, was einen verschleierten Königstitel darstellte. 27. v. Chr. erhielt er den Ehrennamen „Augustus“ (der Erhabene) vom Senat.

Die Aeneas-Sage war den Römern zu Augustus’ Zeit bekannt, hauptsächlich durch Homer. In der Sage machen die Latiner nach Aeneas’ Tod seinen Sohn Askanius zum König. Dieser nennt sich später Julus und begründet damit das halb mythische Geschlecht der Julier, dessen Namen auch Julius Cäsar trug. Julus, so die Sage weiter, gründet am Fuß der Albanerberge Alba Longa, die „lange weiße“ Stadt. Von hier aus regieren über 300 Jahre seine Nachkommen über die Landschaft in den Flussniederungen des Tiber, bis Romulus und Remus geboren werden, die schließlich die Stadt Rom gründen.

Entstehung

Vergils Epos entstand auf Drängen des Herrschers Augustus, der eine Hymne auf seine Person wünschte, eine „Augusteis“ also. Vergil machte daraus eine Aeneis, in der er nicht die römische Tagespolitik thematisierte, sondern ein Heldenlied über die mythischen Anfänge der römischen Welt verfasste. Wie nah er dem Auftraggeber stand, zeigt die Tatsache, dass er ausgewählte Bücher im Jahr 23 v. Chr. der Kaiserfamilie vorlas. Vergil widmete der Aeneis die letzten zehn Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 19 v. Chr. Bereits während der Arbeit verkündete ein Dichterkollege begeistert: „Etwas entsteht, größer noch als die Ilias!“ Das Werk ist unvollendet geblieben, viele Verse sind unvollständig, besonders im dritten Buch, das die Flucht aus Troja beschreibt. Vergil bestimmte in seinem Testament, dass das Manuskript verbrannt werden sollte. Augustus verhinderte dies: Er wies Vergils Nachlassverwalter an, den Text mit möglichst wenigen Veränderungen und Ergänzungen herauszugeben. Bis heute streitet die Forschung darüber, wie stark tatsächlich in Vergils Text eingegriffen wurde.

Die wichtigsten Vorbilder für die Aeneis sind die homerischen Klassiker Ilias und Odyssee. Viele Haupt- und Nebenmotive, ja ganze Textpassagen sind eng an Homer angelehnt. Doch Vergil wollte nicht nur nachahmen, sondern auch mit dem berühmten Vorbild in einen Wettstreit treten. So besteht seine Aeneis aus lediglich zwölf Büchern statt der homerischen 24. Die wichtigsten lateinischen Vorlagen sind das Bellum Poe-nicum (Punischer Krieg) von Naevius und besonders EnniusAnnales, zur Zeit Vergils das klassische römische Epos. Auch Ennius wird an zentralen Stellen teilweise wörtlich zitiert.

Wirkungsgeschichte

Die Aeneis wurde zum römischen Nationalepos und zum zentralen Vorbild aller lateinischen Dichtung. Vergil wurde bereits zu Lebzeiten vom Volk sehr verehrt. Die Römer nutzten seine Texte, um sich Rat und Hilfe in Schicksalsfragen zu holen: An willkürlicher Stelle herausgegriffene Sätze sollten die Zukunft weissagen (so genannte „Sortes Vergilianae“, Vergil-Lose). Vergil beeinflusste mit seinem Stil und epischen Aufbau die ganze spätere lateinische Dichtung, aber auch das Mittelalter und die Renaissance. Besonders das vierte Buch mit der leidenschaftlichen Liebesgeschichte zwischen Dido und Aeneas hat viele spätere Künstler inspiriert, z. B. Henry Purcell zu seiner Oper Dido and Aeneas (1689), den Meistersinger von Nürnberg Hans Sachs oder Charlotte von Stein zu ihrem Trauerspiel Dido (1794). Berühmt ist auch das zweite Buch, in dem Vergil über die List mit dem Trojanischen Pferd und den Untergang Trojas berichtet („Ich fürchte die Danaer [Griechen], auch wenn sie Geschenke bringen“). Dante Alighieri, der berühmte italienische Renaissance-Dichter, setzte Vergil ein Denkmal in der Göttlichen Komödie (1321), worin dieser als Jenseitsführer und Lebensdeuter erscheint. Eine herausragende Bearbeitung von Vergils Leben und Dichten in einer Situation des Umbruchs findet sich in Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil (1945).

Über den Autor

Vergil, mit vollem Namen Publius Vergilius Maro, gilt als der bedeutendste Dichter Roms. Berichte über sein Leben wurden besonders im Mittelalter mit zahlreichen Legenden ausgeschmückt, sodass nur wenige Informationen über ihn wirklich gesichert sind.Vergil wird am 15. Oktober 71 v. Chr. in Andes, dem heutigen Pietole, in der Nähe von Mantua geboren. Seine Schulbildung erhält er in Cremona und Mailand. Er studiert Rhetorik in Rom, nimmt dann aber, da er nicht sonderlich talentiert ist, von einer Karriere als Redner und Politiker Abstand und studiert Philosophie in Neapel. Später widmet er sich ganz der Dichtung. Mit 30 Jahren trifft ihn ein einschneidendes Erlebnis: Die sozialen Umwälzungen infolge des erbitterten römischen Bürgerkriegs verändern sein Leben, denn sein väterliches Erbgut bei Mantua wird konfisziert. Er ist plötzlich mittel- und heimatlos und gerät womöglich sogar in Lebensgefahr. Gerettet wird er – aus nicht ganz gesicherten Motiven – von Octavian, dem späteren Kaiser Augustus. Vergil ist diesem seitdem in Dankbarkeit und Freundschaft verbunden. Nach dem Verlust seines Landguts lebt er in Rom und hat Kontakt zu Dichterkreisen, später zieht er sich nach Neapel zurück. In seinen Hirtenliedern, den Bucolica, beschwört er Arkadien, einen idyllischen Ort, wo der Schönheit und der Liebe gehuldigt wird. Dies trifft den Zeitgeschmack, denn seine Leser sehnen sich im Jahrhundert der Bürgerkriege, Senatorenmorde und Revolutionen nach Frieden und einem einfachen Leben. Vergil beschwört in seiner Dichtung die Ankunft eines Knaben, der Glück und Heil in die Welt bringen wird. Deswegen wurde er im Mittelalter als heidnischer Verkünder der Geburt Jesu Christi gefeiert und verklärt. Vergil stirbt am 21. September 19 v. Chr. in Brundisium (Brindisi) auf der Rückfahrt von einer Reise nach Griechenland.

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