Vidiadhar S. Naipaul
An der Biegung des großen Flusses
S. Fischer, 2001
Was ist drin?
Im Herzen der modernen afrikanischen Finsternis.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Als der afrikanische Traum zum Albtraum wurde
Der 2018 verstorbene V. S. Naipaul war ein einsamer Mensch. Wer diesen Roman liest, begreift, warum. Ein indischstämmiger Händler erzählt darin vom kurzen Boom und dramatischen Fall eines namenlosen Staates in Zentralafrika. Der junge Mann fühlt sich fremd, isoliert und bedroht, und sein Blick auf das postkoloniale Elend ist gnadenlos. Afrikaner begegnen Ausländern entweder unterwürfig, dreist fordernd oder aggressiv – niemals aber auf Augenhöhe. Ähnlich schlecht kommen die Frauen weg. Das ist oft beklemmend und manchmal unerträglich. Viele warfen dem Literaturnobelpreisträger neben Misogynie auch Rassismus und Verrat an den eigenen Ursprüngen vor – schließlich war er selbst ein heimatloser Grenzgänger, der Jahrzehnte unter der kolonialen Attitüde der Briten gelitten hatte. Und doch greift dieser Vorwurf zu kurz, denn Naipaul schonte niemanden: Er entlarvte die Lebenslügen der Kolonisatoren und Kolonisierten gleichermaßen. Dafür muss man ihn nicht lieben – aber unbedingt lesen.
Take-aways
- An der Biegung des großen Flusses ist einer der umstrittensten Romane des britischen Schriftstellers V. S. Naipauls.
- Inhalt: Salim, Sohn einer indischen Händlerdynastie an der Ostküste Afrikas, zieht während der Unabhängigkeitswirren 1963 in eine zentralafrikanische Provinzstadt und übernimmt dort einen Gemischtwarenladen. Einsamkeit bestimmt seinen Alltag. Nach einem kurzen Boom flaut die Wirtschaft ab und der Präsident enteignet alle Ausländer. Fast mittellos flieht Salim vor der nahenden Gewalt nach London.
- Der Roman erschien 1979, als sich in vielen entkolonisierten Staaten Ernüchterung breitmachte.
- Hinter dem fiktiven Despoten im Buch verbirgt sich der kongolesische Diktator Mobutu, der sein Land von 1965 bis 1997 mit brutaler Willkür ausbeutete.
- Naipaul hatte erlebt, wie die indischen Minderheiten in Uganda und Kenia drangsaliert und vertrieben wurden.
- Im Roman beschreibt der Ich-Erzähler Afrikaner als instinktgetriebene Wesen, die kaum für die Moderne gerüstet sind.
- Manche kritisierten Naipaul dafür als Rassisten und Kronzeugen westlicher Überlegenheitsfantasien.
- Andere lobten seine scharfe Beobachtungsgabe und seine Bereitschaft, unbequeme Wahrheiten auszusprechen.
- 2001 erhielt er den Literaturnobelpreis für sein Bemühen, „die Geschichte der Verlierer“ zu erzählen.
- Zitat: „So ist die Welt; wer nichts ist, wer es geschehen lässt, dass aus ihm nichts wird, hat keinen Platz darin.“
Zusammenfassung
Neuanfang auf Ruinen
Der junge Salim entstammt einer alteingesessenen indischen Händlerfamilie an der afrikanischen Ostküste. Auf der Suche nach einem Neuanfang zieht er 1963 in eine Provinzstadt ins Innere des Kontinents, die nach Unabhängigkeitskämpfen noch immer in Trümmern liegt. Die kolonialen Bauten bröckeln und werden von der Vegetation überwuchert. Salim hat seinem väterlichen Freund Nazruddin einen Laden im Zentrum abgekauft. Doch der hat keine Lagerbestände und es stinkt nach Rattenkot.
„So ist die Welt; wer nichts ist, wer es geschehen lässt, dass aus ihm nichts wird, hat keinen Platz darin.“ (S. 7)
Bald kehren die ersten Kunden aus ihren Dörfern zurück – Menschen wie die Marktfrau Zabeth. Sie stammt aus einem entlegenen Fischerdorf und nimmt regelmäßig die gefährliche, tagelange Reise auf sich, um Seife, Eisentöpfe und Emailleschüsseln in Einbäumen dorthin zu befördern. Auffallend ist ihr strenger Geruch: Zabeth wird nachgesagt, eine mächtige Zauberin zu sein, die sich mit geheimnisvollen Salben einreibt, um andere Menschen – insbesondere Männer – von sich fernzuhalten.
Isoliert in der Fremde
Obwohl Salim regelmäßig im „Club hellénique“ Squash spielt und bei indischen Freunden zu Mittag isst, fühlt er sich in der Stadt einsam. Eigentlich ist er hierhergekommen, um der familiären Enge zu entfliehen, fühlt sich aber durch die leeren Tage bedrückter als je zuvor. Als Moslem mit hinduistischen Traditionen und Afrikaner von der arabisch, indisch, persisch und portugiesisch geprägten Ostküste fühlt er sich keiner Gruppe wirklich zugehörig. Noch während er überlegt, wieder fortzugehen, wird ihm der Rückweg versperrt: In seiner Heimat kommt es zu Ausschreitungen und brutalen Massakern an den dort ansässigen Arabern. Seine Familie zerstreut sich. Dabei sehen sie sich gezwungen, Dienstboten mitzunehmen – Nachfahren von Sklaven, die an Salims Familie hängen wie Kletten und praktisch unkündbar sind.
„Alles, was in der Vergangenheit geschehen war, wurde weggeschwemmt; es gab stets nur die Gegenwart.“ (S. 20)
Der nur wenige Jahre jüngere Ali möchte bei Salim wohnen, und schon bald steht er, völlig traumatisiert von den Geschehnissen zu Hause, auf der Türschwelle. Doch er lebt sich schnell ein. Für die Einheimischen ist er kein richtiger Afrikaner, sondern ein Exot. Alle reißen sich um ihn – insbesondere die einheimischen Frauen. Sie nennen ihn „Metty“, nach dem französischen Wort für Halbblut, „métis“. Ali macht Salims Leben etwas weniger leer, wofür Salim ihm dankbar ist.
Afrikas Zukunft
Zabeth stellt Salim ihren Sohn Ferdinand vor. Ferdinand soll das städtische Gymnasium besuchen, und Zabeth bittet Salim, auf ihn aufzupassen. Ganz geheuer ist ihm der Junge nicht. Er hat etwas Distanziertes, Undurchschaubares an sich. Schon nach wenigen Monaten wird er aufsässig, übt sich in verschiedenen Rollen und Selbstbildern und beginnt immer wieder Diskussionen mit Salim, in denen er versucht, mit auf dem Gymnasium erworbenem Halbwissen zu glänzen. Er ist überzeugt, dass Afrika die Zukunft und das Maß aller Dinge ist. Salim schweigt dazu, doch die Vorstellung von einem Gymnasium voller Ferdinands flößt ihm Angst ein. Bald darauf lungern immer mehr Jungen in seinem Laden herum und betteln um Geld für ihre Schulbildung – offenbar hat Ferdinand Salim als Wohltäter angepriesen.
„Ihre Dummheit verblüffte mich erst, dann machte sie mich wütend und schließlich beklommen.“ (S. 81)
Sein Freund Mahesh, der wie er selbst der indischen Gemeinde Ostafrikas entflohen ist, hat ihn kurz nach seiner Ankunft gewarnt: Die Eingeborenen seien „malins“, vom französischen Wort für „gerissen“. Für sie waren Menschen wesentlich Beute. Schon bald erlebt Salim ein Beispiel: Ein junger Mann hält ihm fordernd ein Spendenbuch vor die Nase. Salim erkennt sofort: Das Buch stammt aus den letzten Tagen der Kolonialzeit und gehört dem Gymnasium. Unter anderem hat auch Nazruddin darin Geld für eine Turnhalle versprochen, die aber nie gebaut wurde. Salim geht davon aus, dass Ferdinand den Jungen zu diesem plumpen Betrugsversuch angestiftet hat, und stellt ihn zur Rede. Doch Ferdinand sagt kein Wort, sondern starrt ihn nur feindselig an.
Afrikanischer Fetisch
Salim bringt das Buch Pater Huismans, dem neuen Direktor des Gymnasiums, zurück. Der Belgier ist gerade aus dem Busch zurückgekehrt – mit einer Maske und einer geschnitzten Holzfigur. „Semper aliquid novi“, kommentiert er den Fund scherzhaft. Es ist der Wahlspruch der Schule, das Zitat eines römischen Dichters, der meinte, aus Afrika komme „immer etwas Neues“. Huismans ist fasziniert von der afrikanischen Religiosität. Für ihn ist Afrika voller Wunder. Doch Salim erscheinen die Masken in seinen Regalen wie tote Artefakte, aller Zauberkraft beraubt.
In der Stadt wachsen derweil die Spannungen zwischen den klein gewachsenen und schmächtigen Eingeborenen und den ortsfremden Soldaten, die einst als Sklavenjäger für die Araber und später als Handlanger für die Kolonialregierung gearbeitet haben. Die Soldaten rebellieren.
„Sklavenvölker sind erbärmlich klein von Wuchs, halbe Menschen, halbe Männer in jeder Hinsicht mit Ausnahme ihrer Fähigkeit, die nächste Generation zu zeugen.“ (S. 112)
Schließlich schickt der Präsident des Landes eine weiße Söldnertruppe, die mit der Armee kurzen Prozess macht: Sie erschießen deren Anführer, werfen ein paar Bomben über dem Busch ab und stellen in kürzester Zeit die Ordnung wieder her. Gegen Ende der Kämpfe treibt Pater Huismans Leichnam in einem Einbaum den Fluss hinunter: Sein Körper ist verstümmelt und sein Kopf aufgespießt. Von nun an modert die Maskensammlung unbeachtet vor sich hin. Zuletzt verschifft ein junger amerikanischer Entwicklungshelfer sie still und heimlich in die USA, vermutlich um damit eine Galerie für primitive Kunst zu eröffnen.
Boomtown
Auf die Niederschlagung der Rebellion folgt ein beispielloser Aufschwung. Kupfer ist das Geschäft der Stunde. Die Stadt wächst – und mit ihr die Entschlossenheit der vielen neuen Beamten und Armeeangehörigen, ihre Posten zu versilbern. Die Soldaten der neuen Armee hingegen bereichern sich, unterstützt von diversen Behörden und Regierungen, an Gold und Elfenbein. Mahesh und andere Händler helfen ihnen, ihre Ware loszuschlagen. Salim hält sich zurück.
„Jetzt erregte die Vorstellung uns – all die unberührte Erde, diese Verheißung des Unberührten. Wir vergaßen, dass andere vor uns da gewesen waren und das Gleiche empfunden hatten.“ (S. 141)
Schließlich stößt Mahesh auf die größte Goldgrube von allen: Er eröffnet ein Burgerrestaurant direkt gegenüber dem einzigen internationalen Hotel der Stadt. Der blitzblanke Imbiss wird ein Riesenerfolg. Auch Maheshs hübsche Frau Shoba, die alle Afrikaner und die Stadt abscheulich findet, geht in ihrer neuen Rolle als Managerin auf.
Der Boom wird von einem ehrgeizigen Bauprojekt getragen: Der sogenannte Große Mann, der Präsident, hat die verwüstete Kolonialsiedlung zur „Staatsdomäne“ erklärt. Geplant ist sie als landwirtschaftlicher Vorzeigebetrieb. Doch dann tauchen die Leute, die die neuen Äcker pflügen sollen, nicht auf. Von Ausländern gespendete Traktoren verrosten, bevor sie überhaupt zum Einsatz kommen. Neu gepflanzte Bäumchen gehen nach der ersten Regenzeit ein. Schließlich wird das Ganze zum Universitätscampus umfunktioniert, und Ferdinand erhält ein staatliches Stipendium für das Polytechnikum.
Schöne neue Domäne
Durch Zufall erfährt Salim, dass Metty ein Kind mit einer Afrikanerin hat. Er will sie verlassen, aber Salim erklärt ihm, dass das jetzt sein Leben sei. Traurig erkennen Metty und Salim, dass sie jetzt getrennte Leben führen, auch wenn sie weiterhin zusammen wohnen.
Eines Tages erscheint überraschend Salims Jugendfreund Indar im Laden. Salim hat sich Indar stets unterlegen gefühlt und dessen Entscheidung , zum Studieren nach England zu gehen, war damals der Auslöser für Salims unbedachte Flucht. Als Gastdozent am Polytechnikum gibt Indar den weltgewandten Londoner. Doch bald begreift Salim, dass Indar selbst ein Heimatloser ist, der viel gelitten hat. In den folgenden Wochen führt Indar seinen Freund in die Welt der Domäne ein, mit ihren opulent möblierten, klimatisierten Bungalows, den offenherzigen, afrikanisch gekleideten Weißen und vielen anregenden Gesprächen. Verglichen mit dem Misstrauen der griechischen, italienischen und indischen Geschäftsleute in der Stadt wirkt diese Atmosphäre geradezu befreiend. Hier sind die Afrikaner keine lästige Plage, sondern die Zukunft. Zwar versteht Salim die Domäne als Schwindel. Aber er hofft, dass der Schwindel wahr wird, wenn nur genügend ernsthafte Menschen an ihn glauben.
„Schufen sich Menschen ihre Wahrheit nicht selbst? Alles, was ein Mensch tat oder machte, war schließlich Realität.“ (S. 184)
Indar lädt Salim zu einer Party ein. Die weiße Gastgeberin Yvette begrüßt sie barfuß und in schwarze Seide gekleidet. Mit Ende 20 ist sie halb so alt wie ihr Mann Raymond. Der Historiker ist eine Art Ziehvater für den Großen Mann gewesen und scheint diesem kritiklos ergeben zu sein. Er verteidigt sogar den Personenkult und die allgegenwärtigen Porträts des Präsidenten mit Leopardenfellmütze und Häuptlingsstab. In der Wohnung liegen Kissen und afrikanische Matten auf dem Boden; die Gäste tanzen im Halbdunkel zu Joan Baez. Für Salim ist der Abend eine Offenbarung. Doch Indar ist gereizt. Er hadert mit sich und der Welt. Die Erfahrungen in London haben ihn ernüchtert – dort verachteten ihn die Engländer, weil er Inder ist, und die Inder, weil er Afrikaner ist. Zurück in Afrika bezweifelt er, dass akademische Entwicklungshilfe irgendetwas am Elend der Menschen ändern könne.
Gefährliche Liebschaften
Salim begleitet Ferdinand zum Dampfer. Ferdinand beginnt seine Beamtenausbildung in der Hauptstadt. Auch Yvette ist dort. Sie hat Indar begleitet, dessen Gastprofessur nun abgelaufen ist. Anschließend gehen Salim und Yvette in einem feinen Restaurant essen. Yvette lässt durchblicken, dass sie ihr Verhältnis zu Indar erst als lästig empfunden, sich aber schließlich daran gewöhnt habe.
„Man lebt sein Leben. Ein Fremder taucht auf. Er ist eine Bürde. Man kann ihn nicht brauchen. Aber dann wird die Bürde Gewohnheit.“ (Yvette, S. 250)
Zwei Tage später besucht Yvette Salim in seiner Wohnung. Salim ist nervös, denn seine bisherigen Erfahrungen mit Frauen haben sich auf Bordellbesuche beschränkt. Doch was er jetzt mit Yvette erlebt, ist völlig neu: Salim will ihren Körper und ihre Person ganz für sich gewinnen. Von nun an sind sie versessen aufeinander. Manchmal schlafen sie nachmittags miteinander, essen mit Raymond in der Domäne zu Abend und fahren danach zurück in die Stadt, um sich erneut zu lieben. Mit der Zeit erkennt Salim aber, dass Yvette und Raymond sich in einer prekären Lage befinden: Der Große Mann schien ihn fallen gelassen zu haben, nachdem er seinen Zweck erfüllt hat. Zudem wird der Präsident immer unberechenbarer. In Erinnerung an seine Mutter ruft er einen Kult der schwarzen Madonna ins Leben und lässt die Jugendgarde Kindermärsche durchführen, bei denen allwöchentlich ganze Horden lustloser Kinder durch den Busch gejagt werden. Dabei sollen die Kinder ein Büchlein mit den „Maximen“ des Präsidenten hochhalten und den langen afrikanischen Namen herausbrüllen, den er sich gegeben hat.
Der Niedergang
Völlig unerwartet verkauft der griechische Möbelhändler Noimon sein Geschäft und geht nach Australien. Für die anderen Ausländer ist das ein böses Omen. Nach immer desolateren Maximenmärschen entmachtet der Präsident die Jugendgarde. Das sehen Polizisten und Beamten als Zeichen der Schwäche des Präsidenten und werden immer raffgieriger und korrupter.
Auch Salim und Yvette können sich der morbiden Stimmung nicht mehr entziehen und verdächtigen einander der Untreue. Eines Nachmittags schlägt Salim seine Geliebte brutal zusammen und spuckt ihr zwischen die Schenkel. Sie stürmt aus der Wohnung. Ihm wird bewusst, dass er sie nicht mehr will, was ihn zutiefst erschüttert. Später ruft sie ihn an und die beiden führen ein versöhnliches Gespräch. Wie eine Ehefrau rät sie ihm, eine heiße Milch zu trinken und dann schlafen zu gehen. Im Morgengrauen hat er schließlich eine Erleuchtung: Glück und Schmerz sind bedeutungslos. Am Ende ist beides eine Illusion.
„Mir schien, dass wir Menschen nur geboren wurden, um alt zu werden, um unsere Lebensspanne auszuschöpfen, Erfahrungen zu sammeln.“
Am nächsten Tag ist er zum ersten Mal seit Langem wieder bei Mahesh zum Essen eingeladen. Shoba wagt sich nicht mehr aus dem Haus, weil sie sich durch eine Gesichtsbehandlung mit Wasserstoffperoxid entstellt fühlt. Ihre eitle Hysterie wirkt auf Salim grotesk. Er beschließt, nach London zu fliegen, um sich mit Nazruddins Tochter zu verloben – so wie es ihre Familien vor langer Zeit beschlossen haben.
Im Meer der Getriebenen
Salim ist enttäuscht: London hat nichts von dem Glanz, den man der Stadt in den Kolonien einst nachsagte. Es quillt über vor Flüchtlingen wie Salim – viele weit ärmer und ungebildeter als er selbst –, die dort oft vergeblich ihr Glück suchen. Nazruddin stimmt ihm zu. Als Immobilienbesitzer musste er erleben, wie ein arabischer Mieter nach kurzer Zeit die Zahlungen einstellte und einem „Zelt voll armer Araber“ in der Wohnung Unterschlupf gewährte. Nazruddin fragt sich, wo all diese Gestrandeten herkommen – und wo sie Platz finden sollen.
„Wie wollen sie überleben? Wo auf der Welt gibt es einen Platz für Menschen wie sie? Sie sind so viele.“ (Nazruddin, S. 354)
Salims Verlobte Kareisha ist dagegen eine positive Überraschung. Für eine unverheiratete 30-Jährige gibt sich die Apothekerin wohltuend gelassen. Salim ist guter Hoffnung, dass ihm mit ihr ein Neuanfang gelingen wird. Er fliegt nach Afrika zurück, um dort seine Zelte abzubrechen.
Afrika zuerst
Zu Hause erwartet ihn eine böse Überraschung: Er wurde enteignet. Sein Geschäft gehört nun einem Einheimischen, dem „staatlichen Treuhänder“ Théotime. Immerhin darf Salim weiterhin als Geschäftsführer tätig sein, und das ist auch bitter nötig, denn Théotime ist Trinker, Analphabet und noch dazu stockfaul. Salim versucht nun fieberhaft, mit Gold- und Elfenbeinschmuggel schnell Geld zu verdienen und es außer Landes zu schaffen – ein schwieriges Unterfangen, denn die meisten Ausländer übervorteilen ihn und stecken das Geld in die eigene Tasche.
Noch schlimmer wird es, als Théotime beginnt, Forderungen zu stellen: Er lässt sich von Salim zu seinen vielen Ehefrauen und Geliebten chauffieren und kommandiert Metty achtlos herum wie einen Dienstboten. Als Salim sich weigert, Metty Geld für die Flucht zu geben, verpfeift dieser ihn wegen Elfenbeinschmuggels bei der Polizei. Der leitende Beamte verlangt ein exorbitantes Schmiergeld. Als Salim die Zahlung verweigert, steckt er ihn ins Gefängnis. Die Gefängniswärter lassen Salim zwar in Ruhe. Doch er wird immer wieder Zeuge furchtbarer Misshandlungen an afrikanischen Gefangenen.
„Diese Gesichter Afrikas! Diese Masken kindlicher Ruhe, die den Zorn der ganzen Welt auf sich zogen – auch den anderer Afrikaner, wie jetzt im Gefängnis.“
Nach einem Wochenende im Knast wird Salim dem neuen Regierungskommissar vorgeführt. Es ist Ferdinand, und er will ihm bei der Flucht behilflich sein. Offenbar hat der junge Afrikaner alle Hoffnung in die Zukunft seines Landes verloren. Er weiß, dass alles vor die Hunde geht und er selbst der nächsten Säuberungsaktion zum Opfer fallen kann. Salim besorgt sich eine Erste-Klasse-Fahrkarte für den Dampfer. Kurz bevor der Große Mann in der Stadt ankommt, um hier einer öffentlichen Hinrichtung beizuwohnen, legt der Dampfer ab. Nachts versuchen Rebellen, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen. Der Angriff scheitert. Aber das Passagierboot, auf dem arme Afrikaner in übereinandergestapelten Käfigen zusammengepfercht sind, reißt sich los und treibt führerlos auf dem dunklen Strom davon.
Zum Text
Aufbau & Stil
Der Roman hat vier Kapitel mit insgesamt 17 Unterabschnitten. Während sich die Handlung beschleunigt, werden die Kapitel zunehmend kompakter und kurzatmiger: „Die zweite Rebellion“ beschreibt Salims Ankunft und den kurz darauf folgenden Aufstand. In „Das neue Reich“ erleben die Stadt und ihre Staatsdomäne einen Aufschwung, gefolgt von Umschwung und Absturz in „Der Große Mann“ und dem Endspiel in „Krieg“. Die Erzählung zieht sich dahin wie der titelgebende große Fluss, der sich träge durch den Urwald schlängelt, überwuchert und verstopft von Wasserhyazinthen. Naipaul stellt die Natur oft so dar, dass sie Wendungen in der Handlung vorwegnimmt. Der Leser fühlt sich, als würde er mit dem lakonischen Ich-Erzähler auf dem mäandernden Fluss in schwüler Tropenhitze dahintreiben, im vollen Bewusstsein der nahenden Katastrophe, und doch unfähig, ihr auszuweichen.
Interpretationsansätze
Der Roman handelt von Entwurzelung und Heimatlosigkeit: Salim ist weder Inder noch Ost- oder Zentralafrikaner – ein doppelter Migrant, der sich ohne die Sicherheit einer gefestigten Identität in einer fremden und bedrohlichen Kultur behaupten muss.
Die verlogene koloniale Prämisse einer Vermischung der Völker ist gescheitert: Nur noch die verblassende römische Inschrift am Schiffsanleger zeugt von diesem Irrtum. Davor bieten zerlumpte Afrikaner einheimische Delikatessen wie Raupen oder Maden feil und machen sich über das Entsetzen der Ausländer lustig, während im Busch ein belgischer Pater grausam ermordet wird.
Ein Leitmotiv ist die Dichotomie zwischen Afrika und der zivilisierten Welt: Der Ich-Erzähler stellt die Afrikaner als nicht besonders vernunftbegabt und anderen Menschen ebenbürtig dar. Stattdessen beschreibt er sie als primitive, instinktgetriebene Jäger und Gejagte. Als solche sind sie unfähig, in der modernen Welt zu bestehen.
Der Autor wurde deswegen als Rassist kritisiert. Tatsächlich spart er aber die Heuchelei und Selbstverherrlichung der ehemaligen Kolonisatoren ebenso wenig aus wie die Unfähigkeit afrikanischer Despoten. In der Schlussszene kommt Salim mit heiler Haut davon, während die Afrikaner in dem Alptraum gefangen bleiben.
Naipauls Misstrauen gegenüber postkolonialen Verbrüderungsfantasien liegt auch in seiner Biografie begründet: Er entstammte einer Familie indischer Zwangsarbeiter, die die Briten im 19. Jahrhundert nach Trinidad verschifften, wo sie nach Abschaffung der Sklaverei auf den Zuckerplantagen schufteten. So konnten sie vermeiden, den Schwarzen einen fairen Lohn zu zahlen. Bis heute ist das Verhältnis zwischen der indischstämmigen und der afrokaribischen Bevölkerung von Neid, Missgunst und wechselseitiger Geringschätzung geprägt.
Historischer Hintergrund
Kleptokratie am Kongo
Als der riesige Vielvölkerstaat Kongo am 30. Juni 1960 von der belgischen Kolonialmacht in die Unabhängigkeit entlassen wurde, hätte es kaum schlechter um ihn bestellt sein können: Nirgends in Afrika hatte die einheimische Bevölkerung so unter der kolonialen Zwangsherrschaft gelitten wie im Kongo. Zudem hatten die wenigen Europäer in dem riesigen Land ihre Macht nur aufrechterhalten können, indem sie unterschiedliche Volksgruppen konsequent gegeneinander ausspielten. Das rächte sich nun, als der erste kongolesische Ministerpräsident Patrice Lumumba versuchte, das Land zu befrieden. Zu diesem Zeitpunkt besaßen gerade einmal 30 Kongolesen einen Universitätsabschluss. Afrikaner – obwohl sie 99 Prozent der Bevölkerung ausmachten – verfügten Ende der 1950er-Jahre nur über rund die Hälfte der Löhne. Als in mehreren Provinzen Sezessionskriege ausbrachen, räumte der Armeechef Joseph Mobutu mithilfe der CIA zunächst seinen ehemaligen Vertrauten Lumumba aus dem Weg – die Amerikaner verdächtigten diesen kommunistischer Umtriebe – und übernahm 1965 dann die Alleinherrschaft.
Doch die Hoffnung auf Fortschritt und Frieden wurde enttäuscht. Protegiert vom Westen machte der neue Despot weiter, wie er es sich bei den kolonialen Lehrmeistern abgeguckt hatte: Er plünderte sein Volk aus und verteilte die Beute an Freunde und Feinde, um sich deren Loyalität zu sichern. Seinen Untertanen verordnete er „authenticité“, sprich Rückbesinnung auf ihre vermeintlich einheitlichen, afrikanischen Wurzeln. 1971 nannte Mobutu das Land in Zaire um. Zwei Jahre später afrikanisierte er die Wirtschaft und jagte ausländische Unternehmen aus dem Land. Es begann ein beispielloser Personenkult: Mobutu ließ im ganzen Land Porträts von sich mit Leopardenfellmütze und Häuptlingsstab aufhängen und verpasste sich einen absurden Titel, der wahlweise mit „Hahn, der jede Henne besteigt“ oder „Der Krieger, der von Eroberung zu Eroberung eilt“ übersetzt werden kann. Während er und seine Beamtenclique das Land ausraubten und Milliardenvermögen im Ausland anhäuften, kollabierte die zairische Wirtschaft. Als Mobutu 1997 vom Rebellenführer Laurent Kabila gestürzt wurde, war die Kupferproduktion auf 8 Prozent der Menge des Jahres 1984 gefallen. Bis heute zählt der rohstoffreiche Kongo zu den ärmsten, korruptesten und gewalttätigsten Orten der Welt.
Entstehungsgeschichte
Eine seiner vielen Reisen führte Naipaul 1975 in die kongolesische Hauptstadt Kinshasa. An der Biegung des großen Flusses sei ein bloßes Echo dieser Reise gewesen, behauptete er später. Tatsächlich aber ist der zwischen 1977 und 1978 verfasste Roman das Ergebnis intensiver Reise- und Lebenserfahrungen im postkolonialen Afrika, die dem Autor immer wieder die Ambivalenz der Befreiungsbewegungen in den „Halbfertig-Gesellschaften“, wie er sie nannte, vor Augen führten. Er hatte gerade mehrere Monate mit einem Schreibstipendium in Uganda verbracht, als der Premierminister Milton Obote 1966 im Namen des „afrikanischen Sozialismus“ die Macht an sich riss. Das Land versank kurz darauf in Chaos und Gewalt. Naipaul, als Enkel indischer Zwangsarbeiter auf der Karibikinsel Trinidad geboren und mit 18 nach England emigriert, erlebte, wie sich die indischstämmigen Minderheiten in Uganda und Kenia in den 1960er- und 1970er-Jahren wachsenden Repressalien und Verfolgungen ausgesetzt sahen und mehrheitlich nach Großbritannien auswanderten.
Letztlich fühlte er sich weder in der britischen noch der indischen oder afrokaribischen Kultur beheimatet, sondern einzig in der englischen Sprache – ein Lebensgefühl, das er mit seinem literarischen Vorbild, dem gebürtigen Polen und Wahlengländer Joseph Conrad teilte. Naipaul konzipierte sein Werk als postkoloniale Spiegelung von Conrads Meisterwerk Herz der Finsternis über die koloniale Hölle im Kongo. „Siebzig Jahre später, an dieser Biegung des Flusses, hat sich Conrads Vision erfüllt“, schrieb er 1975 in dem Essay Ein neuer König für den Kongo; nur dass Mobutu, der neue Herrscher ohne „Maß, Glauben und Furcht“ nicht mehr weiß, sondern schwarz sei – „Er ist nicht durch den Kontakt mit der primitiven Wildnis verrückt geworden, sondern durch die von den Pionieren errichtete Zivilisation.“
Wirkungsgeschichte
Obwohl sein Literaturagent – den Naipaul bald darauf feuerte – den Roman als zu „vergeistigt“ bemängelt hatte, erntete er nach der Veröffentlichung im Mai 1979 große Anerkennung. Naipauls Fans lobten seine genaue Beobachtungsgabe, seinen geschmeidigen Stil und seine Fähigkeit, fesselnde und eindringliche Romanlandschaften zu schaffen. Viele verglichen ihn mit Conrad, und John Updike attestierte ihm ein Gespür für menschliche Abgründe im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche, das ihn an Leo Tolstoi erinnere. Doch Naipaul hatte zeitlebens viele Gegner. Der palästinensisch-amerikanische Literaturkritiker Edward Said beschuldigte ihn, sich bewusst zum „Zeugen der westlichen Anklage“ machen zu lassen, indem er „koloniale Märchen über braune und schwarze Menschen“ verbreite. Der Nigerianer Chinua Achebe nannte ihn einen Bewahrer der „tröstlichen Mythen der weißen Rasse“ und der Tobagoer E. M. Roach einen „kalten und höhnischen Propheten“.
Der Rassismusvorwurf greift nach Ansicht seiner Verteidiger jedoch zu kurz. Vielmehr habe Naipaul der bitteren Wahrheit ins Auge gesehen, dass in den Exkolonien ein neu gegründeter Staat nach dem anderen in Korruption, Armut und ethnisch motivierter Gewalt versank. „Naipaul ist wütend, nicht weil er zu wenig Mitgefühl mit den Eingeborenen aufbringt“, schrieb Ian Buruma in The New York Review of Books, „sondern im Gegenteil, er ist wütend, weil ihm ihr Elend so nahegeht.“ So oder so erhielt Naipaul 2001 den Literaturnobelpreis für seine Leistungen als „literarischer Weltenumsegler“, der in seinen Werken das thematisierte, was andere gern vergaßen: „Die Geschichte der Verlierer.“
Über den Autor
V. S. Naipaul wird am 17. August 1932 als Enkel indischer Zwangsarbeiter in Chaguanas auf Trinidad und Tobago geboren. Als 18-Jähriger geht er mit einem Stipendium an das Oxford University College. Doch im Großbritannien der 1950er-Jahre bleibt er ein Außenseiter. Er fühlt sich durch seine karibische Herkunft gedemütigt, was seine Entschlossenheit festigt, sich gegenüber den Briten beweisen zu wollen. Anfang 1955 heiratet er seine Studienfreundin Patricia Hale. Nach Jahren der Geldsorgen und Gelegenheitsjobs landet er 1961 mit dem autobiografischen Roman Ein Haus für Mr. Biswas (A Hourse for Mr Biswas) seinen ersten schriftstellerischen Erfolg. Von nun an reist er kreuz und quer durch das zerfallende britische Empire und schreibt düstere Reiseberichte, unter anderem 1962 Auf der Sklavenroute (The Middle Passage) über Westindien und 1965 Land der Finsternis (An Area of Darkness) über Indien. Für den Erzählband In einem freien Land (In a Free State) erhält er 1971 den Booker Prize, und mit An der Biegung des großen Flusses (A Bend in the River) erscheint 1979 sein umstrittener Roman über die postkolonialen Wirren im damaligen Zaire. Je älter Naipaul wird, desto genussvoller pflegt er sein Image als politisch unkorrekter Misanthrop: Er äußert sich abschätzig über Multikulturalismus und den Islam, Araber, Inder und Kinder, Schwule, Schwarze und Frauen. Außerdem gibt er freimütig zu, dass er seine Ehefrau psychisch misshandelt und seine langjährige Geliebte geschlagen habe – die Meinung anderer Leute ist ihm nach eigener Aussage herzlich egal. Nachdem er jahrzehntelang mit seiner Wahlheimat Großbritannien gerungen hat, kommt er dort 1989 zu höchsten Ehren: Königin Elisabeth II schlägt ihn zum Ritter. 2001 erhält er den Literaturnobelpreis. Am 11. August 2018 stirbt Naipaul in London.
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