Arthur Schnitzler
Anatol
Fischer Tb, 2004
Was ist drin?
Zwischen Langeweile und Nervosität: das Leben eines beziehungsunfähigen Frauenhelden im Wien des Fin de Siècle.
- Drama
- Moderne
Worum es geht
Der melancholische Ästhet in der Dauerschleife der Affären
Anatol ist ein Wiener Lebemann an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er jagt flüchtigen Vergnügungen nach und empfindet doch eine existenzielle Langeweile. In all seinem Denken und Handeln geht es ausschließlich um ihn selbst, um seine Stimmungen, seine Empfindungen, seine Wahrnehmungen. Was nach einer unerträglichen Lektüre klingt, wird durch Schnitzlers pointierte Dialoge ein amüsantes Leseerlebnis. Schnitzler zeichnet mit seinem Dramenzyklus ein aufschlussreiches Bild der Wiener Gesellschaft und verknüpft dabei Themen aus Medizin und Psychologie mit gesellschaftlichen Debatten der Zeit. Er karikiert gesellschaftliche Typen und entlarvt die Doppelmoral, die Frauen nicht die gleiche sexuelle Freizügigkeit zugesteht wie Männern. Vor allem aber beschreiben die Anatol-Dramen ein Lebensgefühl der Dekadenz, das typisch für das Wien des Fin de Siècle war. Romantische Liebe und sozialer Realismus waren passé, Introspektion hieß die Devise der Zeit. Wenngleich sich diese dekadente Stimmung überlebt haben mag, so sind Anatols Beziehungsunfähigkeit, seine zwanghafte Selbstbespiegelung und sein angeknackstes Männerbild heute genauso aktuell wir vor 100 Jahren.
Take-aways
- Der Dramenzyklus Anatol ist Arthur Schnitzlers Erstlingswerk.
- Inhalt: Der Wiener Lebemann Anatol gerät wiederholt in unangenehme Beziehungssituationen. Er versucht etwa, eine Frau loszuwerden, eine zu gewinnen oder sich von der Treue einer Geliebten zu überzeugen. Sein Freund Max steht ihm als Gesprächspartner zur Seite.
- Anatol besteht aus sieben lose verbundenen, in sich geschlossenen Einaktern.
- In jeder Episode steht eher das Seelenleben des Protagonisten als eine äußere Handlung im Zentrum.
- Die Figuren sind nicht individualisiert, sondern entsprechen bestimmten Typen. Anatol selbst verkörpert den dekadenten, selbstverliebten Männertyp.
- Dem Zyklus vorangestellt ist ein Prolog von Hugo von Hofmannsthal, der eng mit Arthur Schnitzler befreundet war.
- Obwohl das Drama 1892 fertiggestellt wurde, fand die Uraufführung erst 1910 in Wien und Berlin statt.
- Wie Anatol hatte auch Schnitzler mit Eifersucht zu kämpfen.
- Arthur Schnitzler gehörte der Gruppe „Jung-Wien“ an, die für die literarische Moderne wegweisend war.
- Zitat: „Ich bin stets ein Hypochonder der Liebe gewesen …“
Zusammenfassung
Die Frage an das Schicksal
Max bewundert seinen Freund Anatol dafür, dass ihm die Frauen zu Füßen liegen und er wie ein Zauberer über sie verfügen kann. Anatol hingegen ist unglücklich, weil er meint, dass Cora, seine Geliebte, ihn betrügt. Zwar erlaubt er sich selbst ständig wechselnde Affären, doch er erträgt es nicht, dass auch Frauen dieses Recht für sich beanspruchen. Für Anatol sind Frauen ein Objekt des Hasses und der Begierde zugleich. Max bringt ihn auf die Idee, Cora zu hypnotisieren und sie unter Hypnose zu ihrer Treue zu befragen. Anatol ist einverstanden, erhofft er sich doch Erleichterung und neuen Machtgewinn.
„Die alte dumme Phrase! Immer wollen wir uns einreden, die Weiber seien darin anders als wir!“ (Anatol über die Treue, S. 38)
Schon betritt Cora das Zimmer, und als Max das Thema Hypnose anspricht, kommt sie Anatol sogar zuvor, indem sie ihn bittet, einmal von ihm hypnotisiert zu werden. Anatol setzt seinen Plan sogleich um, streicht ihr über Stirn und Augen und gebietet ihr, nun in allem die Wahrheit zu sagen. Als Max Anatol auffordert, Cora endlich zu ihrer Treue zu befragen, windet sich Anatol jedoch. Er behauptet zunächst, man müsse die Frage präziser fassen. Auch verbesserte Formulierungen lehnt er ab. Stattdessen erfindet er zahllose Erklärungen, wieso sie die Frage ihrer Untreue bejahen könne, obwohl sie ihn dennoch liebe. Anatol zeigt für alle nur denkbaren Manifestationen der Untreue plötzlich Verständnis – ohne jedoch Cora die entscheidende Frage zu stellen. Schließlich bittet er Max, ihn allein zu lassen: Er könne die Schmach nicht ertragen, bedauert zu werden. Doch selbst in Abwesenheit seines Freundes wagt er es nicht, Cora auf die Probe zu stellen, sondern weckt sie aus der Hypnose auf. Die perplexe Cora kommt zu sich und Max tritt wieder ein. Als Cora auf Anatols Frage nun ihre Liebe zu ihm gesteht, umarmt er sie heftig. Max verabschiedet sich, doch die Liebenden hören ihn in ihrer leidenschaftlichen Umarmung nicht.
Weihnachtseinkäufe
Am Weihnachtsabend trifft Anatol im verschneiten Wien auf Gabriele, die Weihnachtseinkäufe gemacht hat; die beiden sind offenbar miteinander bekannt. Sein galantes Angebot, ihr tragen zu helfen, nimmt sie nur widerwillig an. Sie wundert sich, dass er sie überhaupt anspricht und tut seine Nachfrage nach ihrem Gemahl und den Kindern als geheucheltes Interesse ab. Allerdings möchte sie mehr über Anatols aktuelle Situation und seine derzeitige Beziehung erfahren. Anatol erklärt ihr, dass er nichts tue und sein Leben verbummle. Gabriele spottet über die Tatsache, dass seine aktuelle Geliebte eine Frau aus der Vorstadt ist. Beim Blick in die Schaufenster schlägt sie ihm spöttisch eine Reihe von Geschenken für sie vor.
„Wenn ich es hören muss, das Furchtbare, wenn sie mir antwortet: Nein, ich war dir nicht treu – so soll ich allein es sein, der es hört. Unglücklich sein – ist erst das halbe Unglück, bedauert werden: Das ist das ganze!“ (Anatol, 47)
Anatol versucht, das Bild zurechtzurücken, das sie von seiner Dame hat, sie jedoch bohrt weiter, bis Anatol in ähnlich höhnischem Ton kontert: Die Ablehnung von Frauen, die ihn eigentlich liebten, habe ihn verbittert und zynisch gemacht. Er mokiert sich über die Typen der „großen Welt“, in der Gabriele lebt. Sich selbst bezeichnet er als leichtsinnigen Melancholiker und sie als böse Mondäne. Dagegen schwärmt er von der Anmut und dem Geist seiner gegenwärtigen Geliebten, die aus der „kleinen Welt“ stamme. Gabriele bedauert, heimkehren zu müssen, obwohl sie Anatols Mädchen gern begutachten würde. Bevor sie in den Wagen steigt, überreicht sie ihm Blumen für seine Geliebte. Diese soll er weitergeben mit den Worten, sie kämen von einer Frau, die den Mut nicht hatte, so zu lieben wie Anatols derzeitiges Mädchen.
Episode
Anatol besucht Max in seinem Arbeitszimmer und bringt ihm ein Paket. Er will die Stadt verlassen, sich von seiner Vergangenheit befreien und daher alle Erinnerungen an seine früheren Geliebten – verewigt auf Papier – bei dem Freund zurücklassen. Anstatt sie zu verbrennen, möchte er gelegentlich in ihnen wühlen, um die alten Lieben wieder aufleben zu lassen. Er hat alle Ereignisse seines Jugendlebens sorgsam in Päckchen geschnürt und geordnet, wobei allein das Stichwort der Aufschrift die entsprechende Geschichte in Erinnerung ruft.
„Eines ist mir klar: Daß die Weiber auch in der Hypnose lügen ... Aber sie sind glücklich – und das ist die Hauptsache.“ (Max, S. 48)
Max nimmt wahllos ein Päckchen, liest die Aufschrift laut vor und lässt sich die Erinnerungen an die Verflossene von Anatol erzählen. Für Anatol sind all seine Mädchen und Frauen nur Episoden in seinem Leben. Selbst während er noch bei ihnen ist, erlebt er die Beziehung bereits in der Erinnerung. Zwar ist er sich sicher, dass er für seine Geliebten die Welt bedeutet; sie sind für ihn jedoch nur flüchtige Liebeleien. Anatol ist überzeugt, dass die Frauen ihn geliebt haben, auch wenn Max in seinen Fragen leise Zweifel anbringt. Der Freund macht ihn ironisch darauf aufmerksam, dass Frauen für Anatol nur ein Instrument zur Erzeugung einer gewissen Stimmung sind – ein Mittel, an dem er sich berauscht. So war es auch mit Bianca, einer Zirkusdame, mit der Anatol eine Affäre hatte und deren Päckchen er mit „Episode“ betitelt hat. Max kennt Bianca ebenfalls. Sie hat ihm gerade einen Brief geschrieben und wird ihn am Abend wiedertreffen. Anatol wird hellhörig und möchte sie nun ebenfalls wiedersehen.
„Ich suche ein Asyl für meine Vergangenheit.“ (Anatol, S. 59)
Es klopft an der Tür, Anatol versteckt sich auf Max’ Geheiß, während Bianca eintritt. Sie sagt Max, dass er der Einzige sei, dem sie geschrieben habe; nur er sei ein wahrer Freund. Als sie Anatol entdeckt, wird sie verlegen: Sie kann sich nicht erinnern, wo sie ihn schon einmal getroffen hat. Erzürnt geht Anatol davon. Selbst als Max ihr Anatols Namen nennt, kann Bianca sich nicht an ihn erinnern. Als die Erinnerung schließlich zurückkommt, ist Anatol bereits verschwunden. Bianca hat jahrelang nicht an ihn gedacht und ihn spontan mit einem Mann aus St. Petersburg verwechselt. Max zeigt ihr schließlich die Blume, die Anatol in Erinnerung an sie aufbewahrt hat, und wirft das Päckchen dann in den Kamin. Dort gehöre es hin. Zu sich sagt er, dass er seinen Freund Anatol damit rächt. Max fordert Bianca auf zu erzählen, was sie als kleine Künstlerin in den letzten Jahren gemacht hat.
Denksteine
Aus Angst, dass Emilie ihn betrügen könnte, stöbert Anatol am Vorabend ihrer Hochzeit die Briefe seiner Freundin durch. Als er zwei kleine Edelsteine – einen Rubin und einen schwarzen Diamanten – findet, ist er außer sich und stellt Emilie wütend zur Rede. Er vermutet noch mehr Schmuckgeschenke von einem heimlichen Verehrer und bezichtigt alle Frauen, Leidenschaft nur zu heucheln und aus Prinzip zu lügen. Emilie versucht erst gar nicht, sich zu verteidigen, und erzählt ihm stockend, dass an dem Tag, an dem sie ihre erste Liebe erlebte, dieser Rubin aus dem Medaillon fiel, das sie trug. Sie war 16 Jahre alt. Obwohl für sie alle Männer uninteressant geworden sind, seit sie Anatol kennt, kann sie ihre erste Liebe nicht vergessen.
„Sie war fort – plötzlich aus meinem Leben. Ich versichere dir, das kommt manchmal vor. Es ist, wie wenn man irgendwo einen Regenschirm stehen läßt und sich erst viele Tage später erinnert ... Man weiß dann nicht mehr, wann und wo.“ (Anatol, S. 63)
Anatol wird durch ihr Geständnis und die Erinnerung an ihre Vergangenheit nur noch wütender. Emilie ist ebenfalls enttäuscht, als er sagt, dass sie für ihn nur wie alle anderen Frauen sei. Anatol schwenkt nun um und will plötzlich mit ihr im Park spazieren gehen. Doch dann fällt sein Blick auf den schwarzen Diamanten, dessen Wert Emilie auf eine Viertelmillion beziffert. Anatol wirft den Stein zu Emilies Entsetzen in den Kamin und schimpft sie verächtlich eine Dirne, bevor er geht.
Abschiedssouper
Anatol und Max warten im Restaurant Sacher auf die Tänzerin Annie, die gerade ihre Ballettvorstellung beendet hat. Anatol möchte ein Abschiedssouper mit ihr verbringen und sich von ihr trennen; Max soll ihm beistehen. Seit einer Woche soupiert er täglich mit Annie, ist jedoch nicht imstande, die Trennung auszusprechen. Sie langweilt ihn zwar, doch zugleich hat er eine neue Bekanntschaft noch nicht ganz für sich gewonnen. Anatol behauptet, das Doppelspiel nicht länger zu ertragen, was der skeptische Max sarkastisch kommentiert. Zwar haben sich Anatol und Annie eine unverbindliche Beziehung geschworen, doch nun wagt er nicht, ihr wehzutun. Anatol hat Max um sein Beisein gebeten, da er sich von ihm Unterstützung und die Beschwichtigung der enttäuschten Geliebten erhofft.
„Diese Mädchen und Frauen – ich zermalmte sie unter meinen ehernen Schritten, mit denen ich über die Erde wandelte. Weltgesetz, dachte ich – ich muß über euch hinweg.“ (Anatol, S. 64)
Schon tritt Annie mit weißer Federboa und lässigem, breitem Hut ein. Sie raunzt Anatol an, er hätte doch schon längst auftragen lassen können. Auch sie hat ihm etwas Wichtiges mitzuteilen: Da sie sich ja versprochen haben, sich immer die ganze Wahrheit zu sagen, nimmt Annie seine Trennung vorweg und erklärt, dass sie heute das letzte Mal mit ihm speise; sie habe sich in einen anderen verliebt. Die Ironie bringt Max zum Lachen. Anatol lässt seine Wut am Kellner aus und will wissen, wer der neue Geliebte ist. Annie gesteht, dass es sich um Karl, einen Künstlerkollegen, handelt, und ärgert sich zugleich über ihre Ehrlichkeit. Anatol schäumt weniger wegen des neuen Liebhabers als vielmehr wegen der Tatsache, dass Annie ihr Wort nicht gehalten hat – denn sie war schon in Karl verliebt, als sie noch mit Anatol zusammen war. Annie erklärt erneut, dass sie ihn nicht mehr liebe, woraufhin Anatol entgegnet, das kümmere ihn gar nicht, denn seine Neue sei viel schöner und besser als Annie. Die Komik der Situation lässt Annie lachen. Anatol behauptet, er sei ihrer Untreue zuvorgekommen und habe sie angesichts ihrer Rücksichtslosigkeit so behandelt, wie sie es verdiene. Sie geht mit einem ordinären Lächeln und stopft sich zum Abschied die Taschen mit Zigaretten für ihren Neuen voll.
Agonie
Anatol bittet Max, bei ihm im Zimmer zu bleiben, weil er oft vergeblich auf seine Geliebte Else wartet und das Alleinsein nicht erträgt. Seit über zwei Jahren ist er mit ihr, einer verheirateten Frau, liiert. Er fühlt sich müde und nervös. Einerseits weiß er, dass es aus ist; andererseits hat er nicht die Aufrichtigkeit, mit ihr Schluss zu machen. Max ermuntert ihn, ehrlich zu sein. Anatol sehnt sich gerade in den letzten Tagen einer Liebesbeziehung nach Glück und glaubt wie im Rausch an trügerische Momente. Max erklärt ihm, derartige Beziehungen täten ihm nicht gut: Er schleppe zu viel Vergangenheit mit sich herum, der Moder der Liebe laste auf ihm. Max rät ihm zu einer Reise und lässt ihn allein.
„Nicht ich habe etwas übersehen, was an ihr war; sondern du sahst, was nicht an ihr war.“ (Max über Bianca, S. 67)
Schon betritt Else das Zimmer, sie kann jedoch nicht lange bleiben. Anatol gesteht ihr einmal mehr seine Liebe. Als sie auf ihren baldigen Abschied verweist, wird er aber schnell wütend. Er beschuldigt sie, als dummer Backfisch den falschen Mann geheiratet zu haben. Sie sei lüstern und verlogen zugleich, eine Kokette, die sich zufällig Anatol als Geliebten gewählt habe, weil sie in ihrer Ehe unglücklich sei. Als er sie wegschickt, beteuert sie ihre Liebe und Anbetung. Anatol fordert sie daraufhin auf, mit ihm in ein anderes Land zu fliehen, doch sie schreckt zurück. Sie stimmt ihn milder, indem sie verspricht, am nächsten Morgen alles wiedergutzumachen.
Anatols Hochzeitsmorgen
An seinem Hochzeitsmorgen ist Anatol schlecht aufgelegt und ärgert sich über seinen Diener Franz. Max kommt zu Besuch, da er Trauzeuge sein soll. Anatol hat, wie sich herausstellt, die Nacht mit einer Geliebten verbracht. Der Polterabend am Vorabend hat ihn traurig gemacht. In der kalten Winternacht ist ihm bewusst geworden, dass er nach seiner Heirat kein freier Mann mehr sein wird und sein Junggesellenleben aufgeben muss. Er ließ sich vom Karneval anstecken und folgte einer Gestalt, die ihm bekannt vorkam – es war jene Ilona, die nun im Nebenzimmer schläft. Er kannte sie bereits zuvor. Unter dem Vorwand einer Reise hatte er sich vor wenigen Wochen von ihr getrennt. Obwohl er an diesem Tag eine andere heiraten wird, hat Anatol Ilona in der Nacht gesagt, dass er sich nicht mehr von ihr trennen will. Max drängt ihn zur Eile und bezeichnet sein Verhalten als unmoralisch.
„Ich mußte die letzte Woche jeden Abend zweimal soupieren: mit der einen, die ich gewinnen – und mit der andern, die ich loswerden wollte ... Es ist mir leider noch keines von beiden gelungen ...“ (Anatol, S. 82)
Als Ilona ins Zimmer kommt, besteht sie darauf, Anatol nicht gehen lassen zu wollen. Sie ist über die anstehende Hochzeit offenbar nicht informiert und droht, vor der Kirche einen Skandal anzuzetteln, würde er jemals heiraten. Als der Diener das Brautbouquet bringt, wird sie jedoch misstrauisch, und trotz aller Ausflüchte Anatols kommt die Wahrheit ans Licht. Ilona will ihm vor Wut das Bouquet aus der Hand reißen, woraufhin Anatol vor ihr flüchten muss. Sie beschuldigt ihn, ein Heuchler und Betrüger zu sein, klagt Max der Mitschuld an und schwört Rache, bevor sie weinend auf dem Diwan niedersinkt. Als der Wagen für Anatol und Max vorfährt, verlässt Anatol ängstlich das Haus, nicht ohne Ilona einen Kuss aufs Haar zu drücken. Max beschwört Ilona, nicht kindisch zu sein und sich davor zu hüten, Anatol zur Trauung hinterherzulaufen. Er beschwichtigt sie, indem er ihr Komplimente macht und ihr sagt, es sei noch nicht alles verloren, vielleicht werde Anatol seine Frau ja eines Tages verlassen und zu Ilona zurückkehren. Dann geleitet er sie aus dem Raum.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die sieben Einakter, aus denen der Anatol-Zyklus besteht, können auch als eigenständige Texte angesehen werden, denn jeder ist in sich geschlossen. Erst in der Gesamtschau entsteht jedoch der Effekt des ewig Gleichen: Es gibt weder eine Entwicklung noch ein Ende, sondern nur einen Zirkel; im Prinzip könnte die Handlung am Ende wieder von vorn beginnen. Das Figurenpersonal ist sehr eingeschränkt und besteht praktisch in jeder Szene jeweils aus Anatol, seinem Freund Max und einer Frau; gelegentlich tritt ein Kellner oder ein Diener hinzu. Diese kammerspielartige Situation dient dazu, die Beziehungen und Spannungen zwischen den Charakteren unter ein Brennglas zu rücken. Die Figuren sind dabei nicht individualisiert, sondern entsprechen bestimmten Typen. Eine äußere Handlung entwickelt sich nicht, der Kern der Stücke besteht in Introspektion und im verbalen Schlagabtausch. Der Zyklus ist in der Sprache der Wiener Gesellschaft um 1900 – z. T. mit dialektalem Einschlag – geschrieben. Dem Werk ist ein lyrischer Prolog aus der Feder von Loris vorangestellt – ein Pseudonym des 18-jährigen Hugo von Hofmannsthal. Darin wird die Seelenkomödie Anatols angekündigt und der Wirklichkeitsverlust des Protagonisten, seine Melancholie und Theatralik hervorgehoben.
Interpretationsansätze
- Während sich Sigmund Freud wissenschaftlich der Traumdeutung widmete, beschäftigte Schnitzler sich auf literarischem Weg mit dem Unbewussten. Etwa in der Episode, als Anatol versucht, der vermeintlichen Untreue seiner Geliebten mithilfe einer Hypnose auf die Spur zu kommen, während er zugleich der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken will. Er lebt in Illusionen, und diese sollen erhalten bleiben.
- Der galante Träumer Anatol verkörpert eine verletzte Männlichkeit, die nicht hinnehmen kann, dass Frauen das gleiche Recht auf freie Beziehungen haben wie Männer. Anatol steht für einen selbstverliebten, nervösen Männertypus voller Bindungsangst und Eifersucht.
- Als typischer Vertreter der Dekadenz des Fin de Siècle sieht Anatol den Verfall schon dann, wenn sich eine Beziehung gerade erst anbahnt. Er antizipiert bereits zu Beginn das Ende. Diese dekadente Grundstimmung spiegelt sich auch in der Sprache der Figuren, die zu Bonmots und Aphorismen neigen und ihre Theatralik dadurch noch steigern.
- Der Gegensatz zwischen Stadt und Vorstadt – zwischen der „großen Welt“ und der „kleinen Welt“ – prägt auch die Menschen, die an den entsprechenden Orten leben: In der Stadt dominieren die abgeklärten Mondänen, in der Vorstadt die unschuldigen „süßen Mädel“, deren Natürlichkeit dem dekadenten Bourgeois einen willkommenen Fluchtpunkt bietet.
- Der Anatol-Zyklus zeichnet vor allem subjektive Momentaufnahmen und Empfindungen nach und ist damit typisch für den Impressionismus: Das öffentliche soziale Leben ist nicht von Interesse. Die Figuren sind ausschließlich sich selbst zugewandt und beschreiben psychische Vorgänge, Wahrnehmungen und Stimmungen.
- Kritiker haben die Figur des Anatol häufig biografisch interpretiert, da Schnitzler ähnlich wie Anatol ständig wechselnde Frauenbeziehungen hatte und sich als Arzt für Seelenforschung und Hypnose interessierte. Marxistisch oder soziologisch orientierten Kritikern wiederum gilt Anatol als Verkörperung der Bourgeoisie, die sich historisch überlebt hat.
Historischer Hintergrund
Das Fin de Siècle in Wien
Um 1890 war Wien die Hauptstadt des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn, in dem zahlreiche ethnische Gruppen und verschiedene Sprachen und Religionen zusammenkamen. Die Bevölkerungszahl stieg sprunghaft an, Industrie und Verkehr entwickelten sich stürmisch, Parteien und Interessenvereinigungen wie Gewerkschaften wurden gegründet. Der aufkommende Nationalismus heizte Spannungen unter den Volksgruppen an. Ein Endzeitgefühl machte sich breit.
In dieser gesellschaftlichen Umbruchsituation warf die Wissenschaft herkömmliche Paradigmen wie Objektivität über den Haufen und bereitete einer neuen, subjektiven Weltsicht den Weg. Besonders das Wiener Judentum – Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein, Theodor Herzl, Arnold Schönberg, Gustav Mahler, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal – tat sich dabei hervor. Es erfand die Wiener Moderne, die den Aufbruch ins 20. Jahrhundert markierte. Auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet eröffnete Sigmund Freuds Psychoanalyse neue Welten: Das Unbewusste und Triebgesteuerte im angeblich rationalen Individuum wurde entdeckt und das Primat der Vernunft infrage gestellt. Maler wie Gustav Klimt und Egon Schiele widmeten sich der Darstellung von Sexualität und Erotik in der Wiener Boheme. Kritiker wie der Schriftsteller Karl Kraus entlarvten sarkastisch die scheinheilige Doppelmoral der Bürgerlichen. Der Autor Hugo von Hofmannsthal zog sogar in Zweifel, dass die Wirklichkeit in Sprache und Literatur darstellbar sei. Hofmannsthal war ebenso wie Arthur Schnitzler, Peter Altenberg und Felix Salten Mitglied im Zirkel „Jung-Wien“ um Hermann Bahr. Sie lehnten den bis dahin bestimmenden Naturalismus ab und wendeten sich einem Ästhetizismus zu, der „das Schöne“ suchte, anstatt zu versuchen, die Menschen durch die Darstellung sozialer Probleme aufzurütteln.
Der gesellschaftliche Umbruch spiegelte sich auch in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Seit Beginn der Industrialisierung waren Frauen nicht mehr nur Ehefrau und Mutter, sondern auch Erwerbstätige. Sie forderten die gesellschaftliche Gleichstellung und stellten die Dominanz der Männer infrage. Auf diese Bewegung reagieren viele Männer mit einer Dämonisierung der Frau zur „Femme fatale“. So versuchte etwa Otto Weininger, neben dem Antisemitismus auch den Frauenhass wissenschaftlich zu begründen.
Zugleich war die Gesellschaft der Doppelmonarchie von einer Doppelmoral geprägt. Während Männer sexuelle Freiheiten für sich in Anspruch nehmen konnten, wurden Frauen als Huren abgestempelt, wenn sie die gleichen Freiheiten für sich beanspruchten. Prostitution wurde unter der Hand geduldet, sogar gefördert, die „entehrten“ Frauen und Mädchen wurden jedoch aus der Gesellschaft verstoßen. Diese inneren Widersprüche der Wiener Gesellschaft und der Zerfall bürgerlicher Werte spiegelten sich in Kunst und Literatur jener Zeit.
Entstehung
Arthur Schnitzler wurde 1885 als Mediziner promoviert und arbeitete bis 1888 als Assistenzarzt an einem Wiener Krankenhaus. In dieser Zeit schrieb er zahlreiche medizinische Aufsätze, u. a. über Hypnose und Suggestion – Methoden, die er als Arzt auch einsetzte. Zugleich betätigte er sich bereits seit längerer Zeit als Schriftsteller. Er hatte schon als Elfjähriger zu schreiben begonnen und im Alter von 18 Jahren bereits 23 Dramen fertiggestellt. Der Anatol-Zyklus war sein Erstlingswerk. Er entstand zwischen Juni 1888 und November 1891. Schnitzler hatte eine Reihe von Einaktern geschrieben, die er für den Zyklus sorgfältig auswählte und ordnete.
Das Gefühl der Eifersucht, das bei Anatol immer wieder aufkeimt, hat durchaus biografische Züge: Wie aus Schnitzlers Tagebuch hervorgeht, verfolgte ihn das Bild, dass seine damalige Geliebte Marie Reinhard einem anderen gehören könnte.
Wirkungsgeschichte
Obwohl der Anatol-Zyklus 1892 fertiggestellt wurde, führte man das Drama erst 1910 auf, zeitgleich in Wien und Berlin. Allein das „Abschiedssouper“ kam als Einakter bereits 1893 zur Uraufführung. Wie alle Stücke Schnitzlers erfuhr auch der Anatol-Zyklus ebenso viel Ablehnung wie Beifall. Der literarische Durchbruch gelang Schnitzler erst mit dem Schauspiel Liebelei (1895).
Während Schnitzler selbst als Drehbuchautor seiner eigenen Werke tätig war und zahlreiche seiner Dramen als Verfilmungen Berühmtheit erlangten, wurde der Anatol-Zyklus nie verfilmt. Bekannt wurde im deutschsprachigen Raum zuletzt die stark geraffte Anatol-Aufführung des belgischen Regisseurs Luk Perceval 2008 an der Berliner Schaubühne.
Über den Autor
Arthur Schnitzler wird am 15. Mai 1862 als Sohn des jüdischen Klinikdirektors Johann Schnitzler in Wien geboren. Schon früh packen ihn die Leselust und das Interesse an der Schriftstellerei. Obwohl der Vater die literarischen Ambitionen seines Sohnes fördert, studiert Arthur auf dessen Wunsch Medizin in Wien. 1882 folgt ein Jahr beim Militär als Sekundararzt. 1885, mit 23, promoviert er in Medizin. In den folgenden Jahren arbeitet er als Assistenzarzt in verschiedenen Wiener Kliniken. Nach dem Tod des Vaters eröffnet er eine Privatpraxis. 1893 erscheint sein Dramenzyklus Anatol. Eine tiefe Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal beginnt. Schnitzler arbeitet vor allem für die Bühne: Sein Reigen von 1897 erregt einen Skandal wegen des vermeintlich pornografischen Inhalts und bleibt lange verboten. Mit der Novelle Lieutenant Gustl tut sich Schnitzler als Prosaschriftsteller hervor, allerdings kostet ihn die angebliche Verunglimpfung des Militärs seinen Offiziersrang. 1903 heiratet er seine Lebensgefährtin Olga Gussmann, mit der er bereits einen Sohn hat. In den folgenden Jahren kommen mehrere seiner Schauspiele zur Uraufführung, u. a. Der einsame Weg, Der grüne Kakadu und Das weite Land. Immer wieder ecken seine Werke bei der Zensur an: Neben dem Reigen betrifft das vor allem den Einakter Haus Delorne, der 1904 noch am Abend vor der Uraufführung verboten wird, und die Komödie Professor Bernhardi, die 1912 zwar in Berlin, nicht aber in Wien aufgeführt werden darf. Bei Kriegsausbruch 1914 bekennt sich Schnitzler zum Pazifismus: Im Unterschied zu vielen seiner Schriftstellerkollegen bricht er nicht in Kriegseuphorie aus. Nach der Trennung von seiner Frau im Jahr 1921 erzieht Schnitzler seine Kinder allein. 1922 macht er die nähere Bekanntschaft Sigmund Freuds, der in der Psychoanalyse zu ähnlichen Erkenntnissen kommt wie Schnitzler mit den Mitteln der Literatur. 1924 verwendet er die Technik des inneren Monologs in der Novelle Fräulein Else. 1926 erscheint die Traumnovelle. Schnitzler stirbt am 21. Oktober 1931.
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