Leo Nikolajewitsch Tolstoi
Anna Karenina
Diogenes Verlag, 1985
Was ist drin?
Die Tragödie eines gefallenen Engels: In Tolstois Mammutwerk verstrickt sich die schöne Anna Karenina in eine Affäre und stürzt ins Unglück.
- Liebesroman
- Realismus
Worum es geht
Ehebruch mit Folgen
Drei berühmte Ehebrecherinnen kennt die europäische Literatur: die deutsche Effi Briest, die französische Madame Bovary und die russische Anna Karenina. Anna ist vielleicht diejenige, die man am meisten bedauern sollte. Doch gerade das tut Tolstoi nicht. Er mischt sich selten belehrend oder gar urteilend in die Handlung seines minutiös realistisch erzählten Meisterwerks ein. Für ihn ist Anna Karenina einfach eine Frau, die an ihren Leidenschaften und dem Druck der Gesellschaft zugrunde geht. Wegen einer Affäre mit dem militärischen Haudegen Wronskij zieht sie sich die Verachtung der adligen Kreise zu. Vom Mann kalt abgewiesen, ihres Kindes beraubt und schließlich auch der Zuneigung ihres Liebhabers nicht mehr sicher, begeht sie Selbstmord, indem sie sich vor einen rollenden Zug wirft – ironischerweise an genau der Stelle, wo sie einst ihren Geliebten kennen gelernt hat. Tolstoi braucht für diese Geschichte mehr als 1000 Seiten. Er schreibt in sehr detaillierter realistischer Manier und wendet meisterhaft den inneren Monolog an, um Annas Gefühle darzustellen. Anna Karenina ist neben Krieg und Frieden Tolstois bekanntester und beliebtester Roman – und ungleich besser zu lesen als jener.
Take-aways
- Neben Krieg und Frieden ist Anna Karenina der zweite wichtige Roman Tolstois.
- Inhalt: Als Anna Karenina ihren Bruder in Moskau besucht, lernt sie den schneidigen Offizier Wronskij kennen, der sich augenblicklich in sie verliebt und ihr zurück nach St. Petersburg folgt. Die beiden haben eine Affäre, von der schließlich Annas Ehemann und die ganze Petersburger Gesellschaft erfahren. Anna wird von Wronskij schwanger und flieht mit ihm nach Italien. Nach ihrer Rückkehr ist sie gesellschaftlich ruiniert. Sie sieht keinen Ausweg mehr und wirft sich vor einen Zug.
- Der Roman spielt in St. Petersburg, in Moskau und auf dem Land.
- Er bietet einen intimen Einblick in die höchsten Kreise der russischen Gesellschaft.
- Die Haupthandlung wird mit verschiedenen anderen Familienmodellen und Beziehungen kontrastiert, die glücklicher verlaufen.
- Der Konflikt des Romans besteht nicht in erster Linie aus privaten Auseinandersetzungen, sondern liegt im Druck, der von der Gesellschaft ausgeht.
- Thematisiert wird die Frage nach Schuld, Verurteilung und Vergebung.
- Tolstoi verarbeitete mehrere Elemente aus seinem persönlichen Umfeld: So kam beispielsweise eine Nachbarsfrau Tolstois auf dieselbe Weise um wie Anna.
- Der Roman erschien in Fortsetzungen zwischen 1875 und 1877 in der Zeitschrift Russkij vestnik und 1878 in Buchform.
- Zitat: „,Ich will Liebe und sie ist nicht vorhanden. Also ist alles zu Ende‘, wiederholte sie die Worte, die sie an ihn gerichtet hatte. ‚Es muss ein Ende gemacht werden.‘“
Zusammenfassung
Ehekrach im Hause Oblonskij
Fürst Stepan Arkadjewitsch Oblonskij, der von seinen Freunden nur Stiwa genannt wird, erwacht eines Morgens in Moskau unsanft aus einem angenehmen Traum. Er hat nach einem Streit mit seiner Frau Dolly im Arbeitszimmer genächtigt, denn sie hat herausgefunden, dass er eine Affäre mit dem französischen Kindermädchen hatte. Stiwa ist darum heilfroh, dass seine Schwester Anna für den nächsten Tag ihren Besuch angekündigt hat. Anna lebt in St. Petersburg und ist mit dem angesehen Regierungsbeamten Karenin verheiratet. Sie bewegt sich in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen und ist wegen ihres Charmes und ihrer Schönheit überall ein gern gesehener Gast. Stiwa setzt alles auf Anna: Wenn eine seine Ehe noch retten kann, dann sie. Zur Mittagszeit begegnet er seinem alten Freund Konstantin Lewin, einem etwas unsicheren, grüblerischen und schüchternen Mann. Die beiden haben miteinander studiert und kennen sich schon eine Ewigkeit. Lewin verbringt die meiste Zeit auf seinem Landgut, weil er dem städtischen Leben nichts abgewinnen kann. Er ist in Stiwas Schwägerin Kitty Stscherbazkij verliebt. Deswegen empfiehlt ihm Stiwa, zum Eislaufen in den Park zu gehen: Denn dort würde sich die Familie der Angebeteten gegenwärtig aufhalten. Die beiden verabreden sich zum Essen und Lewin steuert anschließend direkt die Eislaufbahn im Park an.
Tanz auf dem Eis
Sofort kommt Kitty auf Lewin zu und bittet um einen gemeinsamen Lauf. Er ist entzückt. Dennoch ist Kitty nicht so vertrauensselig, wie er es sich gewünscht hätte. Und ihre Mutter macht keinen Hehl daraus, dass ihr seine Avancen nicht gefallen. Als die Situation peinlich zu werden beginnt, rettet ihn Stiwa, der zur Eisbahn kommt. In dem vornehmen Moskauer Lokal, wo sie sich hinbegeben, fühlt Lewin sich unwohl. Stiwa erkundigt sich, warum er vor einiger Zeit so abrupt aus Moskau abgereist sei. Lewin gibt zu, dass er in Kitty verliebt ist, es aber damals nicht für möglich gehalten hat, um ihre Hand anzuhalten. Stiwa ermutigt ihn, das nun zu tun. Und zwar bald: am besten auf dem Empfang der Stscherbazkijs am Abend. Denn Lewin hat einen Konkurrenten, der kurz nach seiner Abreise aufgetaucht ist und seitdem um Kitty wirbt: Fürst Wronskij, ein schneidiger junger Flügeladjutant.
Schicksalsbahnhof
Lewin setzt Stiwas Rat in die Tat um: Auf dem abendlichen Empfang macht er Kitty einen Heiratsantrag. Aber Kitty lehnt ab, denn insgeheim hofft sie auf einen Antrag von Wronskij. Lewin ist darüber zutiefst verbittert. Kittys Mutter freut sich über die Entscheidung ihrer Tochter, anders als ihr Vater, der Lewin Wronskij vorgezogen hätte. Doch Wronskij denkt gar nicht an eine Heirat mit Kitty. Am nächsten Tag begibt er sich zum Bahnhof, um seine Mutter vom Zug aus St. Petersburg abzuholen. Dabei trifft er Stiwa, der zum gleichen Zug will, um seine Schwester Anna zu empfangen. Wie es der Zufall will, sind die beiden Reisenden im gleichen Abteil unterwegs gewesen. Als Wronskij Anna Karenina aus dem Zug aussteigen sieht, ist er sofort gefangen von ihrer Schönheit, ihrer Vitalität und Lebensfreude. Plötzlich bricht ein Tumult aus: Ein Bahnwärter ist soeben von einem Zug überrollt worden.
Zurück nach St. Petersburg
Die Erwartungen, die Stiwa in Anna gesetzt hat, kann sie erfüllen: Es gelingt ihr, zwischen Stiwa und Dolly zu schlichten und die beiden wieder zu versöhnen. Auf einem Ball am nächsten Tag bittet Wronskij Anna um einen Tanz – und hört gar nicht mehr auf, mit ihr zu tanzen. Kitty mag Anna eigentlich sehr, als jedoch sogar der letzte Tanz nicht an sie, sondern an Anna geht, ist sie enttäuscht. Sie glaubt nun, dass Wronskij niemals um ihre Hand anhalten wird und im Grunde kein Interesse an ihr hat. In der Folgezeit kränkelt sie und wird immer schwächer, so schwach, dass ihre Eltern mit ihr zur Kur nach Deutschland fahren müssen. Der Mann, den sie abgewiesen hat, macht sich Vorwürfe: Frustriert verlässt Lewin Moskau und fährt zurück aufs Land. Anna ist das enge Verhältnis, das sie in so kurzer Zeit zu Wronskij aufgebaut hat, unangenehm. Sie verlässt ihren Bruder und fährt mit dem Zug zurück nach St. Petersburg. Während eines kurzen Aufenthalts begegnet sie Wronskij, der unumwunden zugibt, dass er da sein will, wo sie ist. Anna ist empört, aber auch geschmeichelt. Als Karenin, ihr Ehemann, sie am Bahnhof abholt, fallen ihr zum ersten Mal seine abstehenden Ohren auf. Plötzlich gefällt ihr gar nichts mehr: Seine spöttische Art, sein Aussehen und selbst der gemeinsame Sohn Serjosha erregen in ihr Enttäuschung und Unwillen.
Die Affäre
Anna geht in der folgenden Zeit, entgegen ihrer bisherigen Gewohnheit, häufiger auf Feste und Bälle in St. Petersburg: Sie hofft, Wronskij dort zu treffen. Mit Erfolg. Es kommt so weit, dass sich Anna auf Partys der Fürstin Betsy mit Wronskij an einen separaten Tisch zurückzieht und mit ihm lange Gespräche führt – ohne die restliche Gesellschaft und ihren Mann zu beachten. Man munkelt. Man ahnt etwas. Karenin konfrontiert seine Frau mit dem Verdacht und hält ihr die moralischen und gesellschaftlichen Folgen ihres Verhaltens vor. Von diesem Tag an wendet sich Anna eindeutig von ihrem Mann ab, und aus ihrer heimlichen Vorliebe für Wronskij wird eine – mehr oder weniger offen ausgetragene – Affäre. Anna hat nicht das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, denn mehr und mehr wird ihr klar, dass der hölzerne Karenin sie gar nicht liebt. Ein ganzes Jahr zieht so ins Land. In dem Augenblick, in dem der Ehebruch schließlich vollzogen ist, sieht Anna Wronskij mit Tränen in den Augen an und sagt: „Ich habe nun nichts mehr außer dich.“ Hin- und hergerissen zwischen dem so lange ersehnten Glück und der Angst vor dem Unglück und der Schuld wälzt sich Anna in der Nacht auf ihrem Lager. Sie hat Albträume.
Tödlicher Pferdesport
Die Gesellschaft nimmt Notiz von der Affäre. Als Wronskijs Mutter erfährt, dass ihr Sohn sogar seine Karriere opfert, um bei Anna zu bleiben, wittert sie eine Liebesaffäre „im Wertherstil“, die sie nicht gutheißen kann. Kurz vor einem wichtigen Pferderennen, an dem Wronskij für sein Regiment teilnimmt, sagt Anna ihm, dass sie schwanger ist. Wronskij will, dass sie Karenin zu einer Scheidung drängt, um ihre Beziehung zu legitimieren. Anna jedoch kann sich dazu nicht entschließen. Innerlich aufgewühlt begibt sich Wronskij zur Rennbahn. Sein treues Pferd Frou-Frou, mit dem er scheinbar besser umgehen kann als mit Menschen, sichert ihm fast den Sieg – wenn da nicht die letzte Hürde wäre. Mitten im Sprung lehnt sich Wronskij zu schnell zurück, Frou-Frou sackt ein, stolpert, stürzt und bricht sich das Rückgrat. Wronskij überlebt den Sturz, ist aber erschüttert, sein geliebtes Pferd zu verlieren. Anna, die mit ihrem Mann das Rennen besucht hat, gerät außer sich, als sie dies mit ansehen muss. Natürlich bemerkt Karenin Annas Gefühlswallungen. Erneut stellt er sie zur Rede und muss erfahren, dass sie Wronskij liebt. Er will, dass sie weiterhin seine Ehefrau spielt, um nach außen hin den Schein zu wahren. Später kommt er zu dem Entschluss, ihr die Scheidung zu verweigern und von ihr zu verlangen, die Affäre aufzugeben.
Scheidung?
Lewin, der von Stiwa erfahren hat, dass Kitty nun doch nicht Wronskij geheiratet hat, genießt das Landleben, freut sich an körperlicher Arbeit, ja mäht sogar zusammen mit den Bauern das Feld. Er entwickelt eine Theorie über kooperative Landwirtschaft mit seinen Bauern. Auch besucht er Dolly, die mit ihren Kindern auf das Landgut der Familie gefahren ist. Dolly ermutigt Lewin dazu, erneut bei Kitty vorzusprechen. Doch das wagt er nicht, obwohl er sie immer noch liebt. Anna und ihr Mann leben derweil in einem anhaltenden Spannungsverhältnis. Sie wohnen zwar zusammen, aber er weiß, dass sie sich regelmäßig mit Wronskij trifft. Als Karenin eines Abends früher aus der Oper nach Hause kommt, begegnet er seinem Rivalen auf der Türschwelle. Die Tatsache, dass der Ehebruch in seinem eigenen Haus stattfindet, lässt Karenins Kragen platzen. Er teilt Anna mit, er werde die Scheidung vorbereiten und ihr gemeinsamer Sohn Serjosha werde bei ihm bleiben.
Zwischen Leben und Tod
Auf einer Reise nach Moskau begegnet Karenin Stiwa, der ihn zu einer Dinnerparty einlädt. Auf der Party versucht Dolly erfolglos, Karenin die Scheidung auszureden. Auch Lewin und Kitty sind eingeladen. Die beiden kommen sich wieder näher und am Ende des harmonischen Abends steht fest: Sie wollen heiraten. Nach der Party erhält Karenin ein Telegramm von Anna: Sie liege im Sterben und bitte ihn zu kommen und ihr zu vergeben. Nach anfänglichem Zögern reist er tatsächlich nach St. Petersburg. Anna hat ihr Kind mit Wronskijs Hilfe entbunden und droht nun den Folgen der schweren Geburt zu erliegen. Karenin zeigt sich edel und gütig: Er vergibt Anna ihre Fehltritte und will die Scheidung nicht weiterverfolgen. Wronskij ist über so viel Edelmut erschüttert. Er geht nach Hause und will sich mit seinem Revolver erschießen, verfehlt aber das Herz und wird gerettet.
Italien
Nur langsam erholt sich Anna wieder. Der Frieden, der noch an ihrem „Totenbett“ geherrscht hat, verflüchtigt sich mit jedem Tag ihrer Genesung. Sie will Wronskij sehen, als sie erfährt, dass er einen höheren Posten weit weg von ihr erhalten könnte. Von Stiwa angespornt, beginnt Karenin erneut mit den Scheidungsvorbereitungen. Dies wiederum lässt in Wronskij neue Hoffnung aufkeimen: Gemeinsam mit Anna reist er nach Italien. In der Zwischenzeit läuten für Lewin und Kitty die Hochzeitsglocken. In Italien ist Anna so glücklich wie nie zuvor. Auch Wronskij ist glücklich, jedoch beginnt er sich zu langweilen. Er hat seine Karriere für Anna aufgegeben und ist frustriert. Seine Liebe für sie ist zwar noch immer stark, aber sie beginnt nachzulassen. Romantik allein reicht ihm nicht. Sie kehren nach Russland zurück, mit dem Plan, aufs Land zu ziehen.
Skandal
Drei Monate nach der Heirat mit Kitty ist Lewin ein wenig desillusioniert. Sein Idealbild von der Ehe schwindet, er wird pragmatischer. Nun verstrickt er sich in die gleichen „Streitigkeiten über gar nichts“, die er bei anderen Paaren immer belächelt hat. Kitty ist an seiner Arbeit kaum interessiert. Wenig später kommt heraus, dass sie schwanger ist. In St. Petersburg versucht Anna nach ihrer Rückkehr unter schwierigsten Umständen ihren geliebten Sohn Serjosha wiederzusehen. Dabei wird ihr klar, was sie verloren hat. Als sie es wagt, in die Oper zu gehen, bricht das ganze Gewitter der gesellschaftlichen Ächtung über sie herein: Die Damen in den umliegenden Logen beschimpfen sie und verlassen ihre Plätze, um nicht neben ihr sitzen zu müssen. Anna macht Wronskij eine Szene: Er habe sie in diese unmögliche Situation gebracht und nun enthalte er ihr auch noch das Einzige vor, was ihr geblieben sei: seine Liebe. Langsam, so scheint es, entgleitet den beiden die Situation. Sie reisen aus St. Petersburg ab und begeben sich auf Wronskijs Landgut. Dort bekommt Anna Besuch von Dolly. Auch wenn diese den Luxus bewundert, möchte sie mit Anna nicht tauschen.
Schicksalsbahnhof zum Zweiten
Weil sich Wronskij verstärkt politisch engagiert, gibt es immer häufiger Streit zwischen ihm und Anna. Sie fühlt sich alleingelassen, weiß nichts mit ihrer Zeit anzufangen und langweilt sich. Eigentlich hat das Paar nach seiner Rückkehr nach Moskau heiraten wollen, aber Karenin verweigert nun doch wieder die Scheidung. Anna entwickelt Symptome von Verfolgungswahn und Eifersucht. Einmal, als Wronskij einen Tag länger fortbleibt als angekündigt, schreibt sie ihm ein Telegramm. Um ihn herbeizulocken, gibt sie vor, ihr gemeinsames Kind sei krank. Wronskij fühlt sich zunehmend in seiner Freiheit beschnitten. Aus Liebe wird Groll und aus Groll wird Hass. Immer öfter verlässt er das Haus, um ja nicht da zu sein und sich Annas Vorwürfe anhören zu müssen. Schließlich, nach einem besonders heftigen Streit, will Anna Wronskij hinterherreisen. Sie begibt sich zum Bahnhof – da fällt ihr der Tag ein, an dem sie sich kennen gelernt haben. Ein Bediensteter hat sich damals vor den Zug geworfen. Anna kann ihre Verzweiflung nicht mehr überwinden: Sie setzt ihrem Leben auf die gleiche Weise ein Ende.
Lewins Erleuchtung
Wronskij spricht nach Annas Tod kaum ein Wort mit jemandem. Als nach zwei Jahren eine proserbische Stimmung in Russland aufkommt, engagiert er sich, inzwischen ein menschliches Wrack, in dem Krieg der Serben gegen die Türken – in der Hoffnung, auf dem Schlachtfeld zu fallen. Lewin und Kitty führen ein trautes Familienleben. Lewin, der immer an Gott gezweifelt hat, erfährt am Ende seiner langen Suche nach dem wahren Glauben ausgerechnet von einem Bauern, dass Nächstenliebe täglicher Gottesdienst ist. Um diese Erkenntnis reicher kann er sich nun auch richtig an seiner kleinen Familie freuen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Wie schon mit seinem Mammutwerk Krieg und Frieden lieferte Tolstoi mit Anna Karenina ein gewaltiges Epos ab: Die Geschichte entspinnt sich auf knapp 1300 Seiten und in acht großen Teilen, die in mehrere Kapitel gegliedert sind. Nach dem vierten Teil ist ein Wendepunkt erreicht: Anna flieht mit Wronskij nach Italien, ohne geschieden worden zu sein, und Lewin und Kitty geben sich ihr Heiratsversprechen. Nach Annas Selbstmord im siebten Teil ist der Roman noch nicht beendet: Tolstoi wendet sich im achten Teil der Tagespolitik zu (u. a. der „Serbenfrage“) und betrachtet das weitere Leben seiner Charaktere in einem größeren, nationalen Kontext. Unter der Vielzahl der Figuren im Roman, die wegen der russischen Namenskonventionen auch noch verwirrend viele Namen tragen, ragen zwei Familien heraus, auf die Tolstoi sich konzentriert: Die spannungsreiche Dreiecksgeschichte um Anna, Karenin und Wronskij treibt die Haupthandlung voran und wird mit Lewins und Kittys langem Weg zueinander kontrastiert. Tolstoi schreibt aus der Perspektive eines allwissenden, anonymen Erzählers, der uns einen Einblick in die Gedanken und Gefühle der handelnden Personen gewährt. Ein wichtiges Stilmittel ist der innere Monolog, bei dem der Erzähler die Gedanken direkt – und nicht als indirekte Paraphrase – an den Leser weitergibt, so z. B. kurz bevor sich Anna vor den Zug wirft.
Interpretationsansätze
- Nicht der Ehebruch ist das Hauptthema des Werks, sondern die Frage nach Schuld, Verurteilung, Indifferenz, Vergebung – und letztlich die Frage nach dem Sinn des Lebens: Tolstoi deutet dies an, indem er den Roman mit einem biblischen Motto beginnen und mit Lewins Antwort auf die Sinnsuche enden lässt. Dem heutigen Leser, dem Scheidung alltäglich ist, droht die metaphysische Tiefendimension des Werks zu entgehen.
- Tolstoi verwendet verschiedene Motive, die auf spätere Ereignisse vorausdeuten. Eines der stärksten Motive ist der Bahnhof: Hier trifft Anna ihren Verehrer zum ersten Mal, hier bricht sie mit ihm zu mehreren Reisen auf und hier findet sie schließlich ihr Ende. Auch das Pferderennen kann symbolisch gesehen werden: Das Ende von Wronskijs Pferd Frou-Frou erinnert an Anna, der Wronskijs egoistisches Verhalten später ebenfalls das Genick brechen wird. Wronskijs Schuld wird in dieser Szene überdeutlich.
- Der Konflikt des Romans entspinnt sich weniger im Privatleben der Figuren als vielmehr unter dem immensen Druck der Gesellschaft. Hier zeigt sich Tolstoi als feiner Beobachter der St. Petersburger Gesellschaft, die er persönlich ablehnt und der er in seinem Roman das einfache Landleben entgegenstellt. Die Intrigen, das lächerliche Spiel der Konventionen und die künstlich hochgehaltene Entrüstung über Annas „Fall“ wirken wie ein Gift, das eine gütliche Einigung in der Ehebruchsaffäre verunmöglicht.
- Annas Liebhaber Wronskij gestaltet Tolstoi rätselhaft. Der Leser bekommt kaum Einblick in Wronskijs Gedankenwelt. Er erscheint als Figur, die fast ausschließlich aus äußerer Handlung besteht.
- Kontrastiert wird dies mit der intimen und farbenfrohen Beschreibung der Gedanken und Gefühle von Lewin und Anna. Die Titelheldin ist so beseelt von ihrer Sucht nach Lebensglück, dass sie ihre Ehe opfert. Sie glaubt an die romantische Liebe und an die Familie. Ihren Sohn liebt sie abgöttisch und kann sich nur schwer von ihm trennen. Was sie am meisten verabscheut, sind Oberflächlichkeit, Lüge und Heuchelei. Davor flieht sie zunächst in die Arme Wronskijs und, als dessen Liebe erkaltet, sogar in den Tod. In Lewin formuliert Tolstoi seine eigene Suche nach Glauben und Lebenssinn.
Historischer Hintergrund
Russland im 19. Jahrhundert
Der russische Zar Alexander II., der mitten im Krimkrieg (1854–1856) auf den Thron kam, setzte in Russland mehrere grundsätzliche Reformen durch: 1864 führte er eine beschränkte Selbstverwaltung in den Städten und auf dem Land ein. Das „Zemstvo“ war das entsprechende politische Organ, dessen Verwaltung aus Vertretern des Adels, der Städter und der Bauern bestand und das als wichtige Basis für den russischen Liberalismus bezeichnet werden kann. Drei Jahre zuvor hatte Alexander II. bereits die Aufhebung der Leibeigenschaft nach dem Vorbild Preußens vorangetrieben: die so genannte Bauern-Emanzipation. Bisher waren die russischen Bauern unfrei gewesen und hatten mitsamt dem Grund und Boden, auf dem sie lebten, verkauft werden können. Jetzt wurde ihnen erlaubt, selbst Boden zu kaufen und auf eigene Rechnung zu bebauen, Vermögen zu erwerben und Arbeitskräfte einzustellen. Tolstoi begrüßte diese Reformen: Lewin, sein Alter Ego in Anna Karenina, versucht mit seinen Bauern ein partnerschaftliches Modell zu entwickeln. Auch ein außenpolitisches Thema hat Tolstoi im Roman verarbeitet: die „Serbenfrage“. Im Jahr 1875 revoltierten die Balkanvölker gegen die Unterdrückung durch das Osmanische Reich. Russland sympathisierte mit den Serben auf breiter Front, sodass Alexander II. im Januar 1877 den Krieg gegen die Türken eröffnete.
Entstehung
„Gestern Abend sagte er mir, dass er einen Typ von Frau im Sinn habe, verheiratet, der obersten Schicht zugehörig, die sich aber selbst verloren hat“, so berichtet Tolstois Frau von dem Tag, als ihr Ehemann sein neues literarisches Projekt umschrieb. Nach der langen Arbeit an dem Mammutwerk Krieg und Frieden und enttäuscht wegen der negativen Kritiken wandte sich der Schriftsteller einer privateren Geschichte zu. Er wollte einen Text schreiben, der das tägliche Leben abbildet. Schnell fand er ein Thema: Ehebruch. Romane mit diesem Inhalt erfreuten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts einer ausgesprochenen Beliebtheit.
Viele Elemente in Anna Karenina entstammen Tolstois direktem Umfeld. Den Vornamen und das furchtbare Ende seiner Heldin entnahm er einem Ereignis aus der Nachbarschaft: 1872 warf sich Anna Stepanowa Pirogowa nach einer Ehebruchtragödie vor einen Zug. Tolstoi, der Anna selbst gekannt hatte, besuchte sogar ihre Autopsie. Weitere Elemente aus dem Leben des Dichters spiegeln sich in einigen der Figuren des Romans: 1862 hatte Tolstoi mit 34 Jahren die 18-jährige Sophia Behrs geheiratet. Seine Beschreibung des jungen Eheglücks von Lewin und Kitty entspricht dem seiner eigenen Familie. Während er an dem Roman schrieb, erlebte er eine tiefe Sinnkrise und zweifelte an der russisch-orthodoxen Kirche und der Moralität der gesamten russischen Gesellschaft. Lewin, sein Alter Ego im Roman, macht die gleiche Krise durch und findet am Ende eine Antwort auf seine Sinnfrage. Wie schon Krieg und Frieden wurde auch Anna Karenina als Fortsetzungsroman zwischen 1875 und 1877 in der russischen Zeitschrift Russkij vestnik abgedruckt. In Buchform kam der Roman 1878 heraus.
Wirkungsgeschichte
Anna Karenina war sofort ein großer Erfolg für Tolstoi. Der Roman erschien als Vorabdruck in mehreren Teilen, und die Leser warteten jeweils begierig auf die Fortsetzung. Das Buch wurde zum Gesprächsthema in der russischen Gesellschaft. Wenn von Literatur gesprochen wurde, durfte man über Anna Karenina nicht hinweggehen. Nach Krieg und Frieden erkämpfte sich Tolstoi mit seinem zweiten Epos einen Platz unter den angesehensten russischen Autoren.
Für den russischstämmigen Schriftsteller und Literaturprofessor Vladimir Nabokov war Tolstoi schlicht „der größte russische Prosaautor“. Der englische Dichter Matthew Arnold lobte den Realismus in Tolstois Schreibweise: „Wir sollten Anna Karenina nicht als Kunstwerk betrachten, sondern als ein Stück Lebenswirklichkeit. Denn ein Stück Lebenswirklichkeit ist es in der Tat.“ Auch Tolstois Zeitgenosse Fjodor Dostojewski äußerte sich hingerissen: „Anna Karenina ist ein vollkommenes Kunstwerk. Dieser Roman enthält eine menschliche Botschaft, die in Europa noch nie vernommen wurde und die die Menschen der westlichen Welt brauchen.“
Tolstoi hat mit der Figur der Anna Karenina eine der berühmtesten Ehebrecherinnen und mit ihrer Geschichte einen der wichtigsten Gesellschafts- und Familienromane des 19. Jahrhunderts geschaffen. Das Werk reiht sich ein zwischen die großen europäischen Romane mit ähnlichem Thema: Madame Bovary von Gustave Flaubert (1856) und Effi Briest von Theodor Fontane (1895). Als einer der beliebtesten Stoffe der Weltliteratur wurde der Roman über 25-mal verfilmt. Besonders berühmt ist die Verfilmung von Edmund Golding mit Greta Garbo in der Hauptrolle (1927).
Über den Autor
Leo Nikolajewitsch Tolstoi wird am 9. September 1828 in Jasnaja Poljana in eine russische Adelsfamilie hineingeboren. Weil er früh seine Eltern verliert, wird er von einer Tante erzogen. Zwischen 1844 und 1847 besucht er die Universität von Kasan, doch das Studium der Orientalistik und Rechtswissenschaft bricht er ohne Examen ab. Auch den ursprünglichen Plan, in den diplomatischen Dienst einzutreten, verwirft er. Von den Ideen Rousseaus beflügelt, versucht er das System der Leibeigenschaft auf seinen Gütern abzuschaffen, was ihm jedoch nicht gelingt. Nach Jahren des Nichtstuns und angesichts angehäufter Spielschulden meldet er sich 1851 freiwillig zum Militärdienst. Er nimmt an den Kämpfen im Kaukasus und am Krimkrieg teil. Ab 1856 geht er auf zwei größere Europareisen. Nach seiner Hochzeit mit der erst 18-jährigen Sofia Andrejewna Bers, mit der er 13 Kinder haben wird, lässt er sich 1862 an seinem Geburtsort nieder und verzeichnet erste kleine schriftstellerische Erfolge. Ab 1869 erleidet Tolstoi eine tiefe Sinnkrise, nicht zuletzt, weil ihm die Widersprüche zwischen seinem eigenen Leben im Wohlstand und seinen politischen Überzeugungen unauflösbar erscheinen. Er liest Schopenhauer, was seine pessimistische Grundeinstellung noch weiter vertieft. Seine Arbeit wird zunehmend von ethischen und religiösen Themen bestimmt. Unter diesen Vorzeichen entstehen auch seine großen Romane Krieg und Frieden (1868/69) und Anna Karenina (1875–1877). 1901 lehnt er den Nobelpreis für Literatur ab, weil ihm inzwischen jede Art von Organisation – sogar soziale und kulturelle – suspekt ist; auch die Exkommunikation aus der russisch-orthodoxen Kirche (er weigert sich u. a., die Dreieinigkeit Gottes anzuerkennen) im selben Jahr nimmt er gelassen hin. Im November 1910 versucht er seiner zunehmend zerrütteten Ehe durch eine heimliche Flucht zu entkommen und will künftig besitzlos und einsam leben. Auf der Bahnstation von Astapowo stirbt er noch im gleichen Monat, am 20. November 1910, an einer Lungenentzündung.
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