Cornelius Tacitus
Annalen
Artemis & Winkler, 2005
Was ist drin?
Das römische Kaiserreich aus der Sicht eines zeitgenössischen Moralisten: Lehrreich und amüsant wird eine Epoche lebendig.
- Geschichte
- Römische Antike
Worum es geht
Der Niedergang Roms zur Zeit der Kaiser
Das Römische Reich wurde im ersten Jahrhundert n. Chr. von Kaisern beherrscht, die sich mit ihrem Lebenswandel und ihren Untaten einen zweifelhaften und die Zeiten überdauernden Ruhm erwarben. Augustus begründete die Kaiserherrschaft: Unter Beibehaltung der republikanischen Institutionen wurde die tatsächliche Staatsgewalt fortan von nur einer Person ausgeübt. Dabei herrschte, abgesehen von gelegentlichen kriegerischen Konflikten in entfernten Provinzen, Friede im Römischen Reich – umso besser konnte sich die feine römische Gesellschaft ihren internen Zwistigkeiten widmen. Die Adligen lebten gefährlich: Ungerechtfertigte Verfolgung und Mord waren als Instrumente zur Gewinnung und Sicherung der Herrschaft an der Tagesordnung. Tacitus schildert detailreich die Entwicklung Roms zu einer zunehmend korrupten und lasterhaften Gesellschaft und den Weg zum antiken Überwachungsstaat. Den Fokus auf die Persönlichkeit der Kaiser gerichtet, lässt er oft mit bitterer Ironie sein Bedauern über den Verlust der alten republikanischen Werte durchschimmern. Bisweilen ist die Aufzählung von Ämterwechseln und Gerichtsprozessen etwas ermüdend, doch für die gelegentlichen Längen entschädigt die große literarische Qualität.
Take-aways
- Die Annalen des Tacitus sind eines der bekanntesten Geschichtswerke der Antike.
- Sie haben unser Bild vom Römischen Reich im ersten Jahrhundert n. Chr. entscheidend geprägt.
- Tacitus erzählt die Geschichte des Kaiserreichs zwischen 14 und 66 n. Chr., vom Tod des Augustus bis zur Herrschaft Neros.
- Die Annalen sind unvollständig überliefert: Es fehlen die Regierungszeit Caligulas, die Anfänge von Claudius’ Herrschaft und die letzten Jahre der Tyrannei Neros.
- Tacitus will die Erinnerung an die Kaiserzeit wachhalten. Er kontrastiert sie mit der Zeit der Republik, in der Freiheit und Tugend herrschten.
- Der Autor wird seinem eigenen Anspruch, unparteiisch zu berichten, nicht immer gerecht: Er steht auf der Seite der Republikaner, nicht der Monarchisten.
- Die Persönlichkeiten der Herrscher stehen im Mittelpunkt seiner Darstellung. Diese werden überwiegend negativ charakterisiert.
- Mord wird für die Kaiser zu einem selbstverständlichen Instrument zur Erlangung oder Sicherung der Macht.
- Damit vernichtet der römische Adel sich letztlich selbst.
- Die ehemals strengen Sitten und Gebräuche weichen zunehmend dem gesättigten und lasterhaften Lebenswandel des Adels.
- Tacitus schildert Probleme, etwa den Sittenverfall in der herrschenden Klasse des römischen Staatswesens, die vom Grundsatz her noch immer aktuell sind.
- Tacitus ist nicht nur ein Historiker, sondern auch ein großartiger Erzähler, der den Leser mit wortgewaltigen Schilderungen von Schlachten und Intrigen erfreut.
Zusammenfassung
Der Kaiser ist tot, es lebe der Kaiser
Als Kaiser Augustus im Alter von 77 Jahren stirbt, hat er 57 Jahre lang das Römische Reich regiert und ihm relative Stabilität beschert. Mit Geschenken hat er die Soldaten und das Volk für sich gewonnen und nach und nach sämtliche Staatsgewalten an sich gezogen, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen. Nach seinem Tod wird seine Verehrung als Gott beschlossen. Noch zu Lebzeiten hat er seinen Stiefsohn Tiberius, den seine zweite Gattin Livia mit in die Ehe gebracht hat, zu seinem Nachfolger bestimmt. Unmittelbar nach Augustus’ Tod wird sein Enkel Agrippa umgebracht. Weil Tiberius ein potenzieller Rivale um die Macht war, wird er des Mordes verdächtigt, jedoch ohne Folgen. Er will den Anschein erwecken, vom Staat gerufen zu worden zu sein, und lässt sich deshalb vom Senat lange bitten, während er de facto die Macht des Kaisers seit Augustus’ Tod bereits ausübt. Die Zeit des Machtwechsels erscheint einigen unzufriedenen Soldaten günstig, um höheren Sold und eine Verkürzung ihrer Dienstzeit von 20 auf 16 Jahre zu verlangen. Es kommt zur Meuterei einiger Legionen in Pannonien (heute eine Region, die aus Teilen Ungarns, Sloweniens, Kroatiens und Österreichs besteht) und Germanien. Offiziere werden umgebracht und verjagt. Doch mit Gewalt, etwas Geld und Versprechungen werden die Aufstände niedergeschlagen. Vergeblich hoffen die Truppen in Germanien, ihr Oberbefehlshaber Germanicus, ein Neffe und Adoptivsohn des Tiberius, wolle selbst herrschen und sie deshalb unterstützen. Dieser lässt seine Frau Agrippina mit ihrem Sohn, dem späteren Kaiser Caligula, in Sicherheit bringen.
Der Sieg über die Germanen
Als einzige ernst zu nehmende Feinde der Römer sind in dieser Zeit einige germanische Stämme übrig geblieben. Ihr Anführer Arminius hat die Römer in der Varusschlacht wenige Jahre zuvor vernichtend geschlagen. Nach der Rebellion im eigenen Heer startet Germanicus einen spontanen Feldzug gegen diese Stämme. Mit Feuer und Schwert verwüsten die Römer ganze Landstriche und töten deren Bewohner. Germanicus führt in den folgenden Jahren weitere Feldzüge gegen die Stämme an. Wegen des unwirtlichen Klimas müssen sie stets in den kurzen Sommern durchgeführt werden. Die Römer nehmen zunächst Arminius’ Gattin gefangen. Dann finden sie, sechs Jahre nach der Varusschlacht, die Überreste der vernichteten Legionen und bestatten sie ehrenvoll. Die anschließenden Kämpfe enden unentschieden. In waldiger und morastiger Umgebung den ortskundigen Einheimischen unterlegen, siegen die Römer letztlich aber doch noch: aufgrund besserer Waffen und ihrer Disziplin, nicht zuletzt aber auch wegen der Uneinigkeit der germanischen Stämme.
„Die Stadt Rom haben ursprünglich Könige beherrscht; die Freiheit der Republik und das Konsulat begründete L. Brutus. Zur Diktatur griff man nur gelegentlich bei Bedarf.“ (S. 17)
Doch nach dem militärischen Triumph in der Entscheidungsschlacht zwischen Weser und Elbe müssen die Römer eine schwere Niederlage gegen die Natur einstecken: Als der größte Teil des Heeres sich auf 1000 Schiffen die Ems abwärts und dann über die Nordsee und die Rheinmündung in ihre Winterquartiere begeben will, zerstört ein schwerer Sturm fast die gesamte Flotte und tötet viele Soldaten. Die aufkeimende Hoffnung der Germanen erstickt Germanicus mit einem gewaltigen Truppenaufgebot im Keim. Tief beeindruckt von der Fähigkeit der Römer, so schnell nach ihrer Schwächung durch die Naturgewalten wieder ein schlagkräftiges Heer gegen sie ins Feld zu führen, geben die Germanen für längere Zeit Ruhe.
Tod des Germanicus
Germanicus hätte gern sein Werk vollendet und die germanischen Stämme endgültig unterworfen. Doch Kaiser Tiberius gönnt ihm diesen Ruhm nicht und beordert ihn nach Rom zurück. Von hier aus wird Germanicus auf eine Reise durch die vorderasiatischen Provinzen und Ägypten geschickt. Mit übergeordneter Befehlsgewalt ausgestattet, gerät er mit Gnaeus Piso, dem Statthalter von Syrien, aneinander. Piso missachtet Germanicus’ Anordnungen. Auf der Rückkehr aus Ägypten erkrankt dieser schwer. Er stirbt, überzeugt davon, von Piso vergiftet worden zu sein. Die Überführung seiner Asche von der Südspitze Italiens bis nach Rom durch seine Gattin Agrippina gerät zu einem Triumphzug für den beim Volk angesehenen und überaus beliebten Germanicus. Tiberius aber freut sich, statt zu trauern: Hat er doch nun einen Rivalen um die Macht weniger. Germanicus wird in einer Urne im Mausoleum des Augustus beigesetzt. Das römische Volk beobachtet mit Spannung den Prozess gegen Piso, und es droht, bei einem Freispruch selbst Hand an den Giftmischer zu legen. Piso wird noch vor dem Urteilsspruch mit durchschnittener Kehle aufgefunden.
„Deshalb beabsichtige ich, nur weniges über Augustus, und zwar das Ende seiner Regierung, zu berichten, dann den Prinzipat des Tiberius und die Folgezeit darzustellen, ohne Abneigung und Vorliebe, wofür mir jeglicher Anlass fehlt.“ (S. 17)
Innenpolitisch festigt Tiberius seine Machtposition, indem er Gegner ermorden oder sie mit Prozessen wegen Majestätsbeleidigung oder vermeintlicher Umsturzversuche verfolgen lässt. Wahlen für die höchsten Beamtenstellen finden zwar weiterhin statt, jedoch beeinflusst der Kaiser die Besetzung der Ämter maßgeblich. Magier und Wahrsager werden aus der Stadt vertrieben oder umgebracht. Schauspieler werden zeitweilig ganz aus Italien ausgewiesen, weil man befürchtet, sie könnten mit ihren Reden und Darbietungen Unruhen auslösen. Besondere Beachtung findet stets der Getreidepreis, denn Rom ist zu seiner Versorgung mit Lebensmitteln von Lieferungen aus seinen Provinzen und Kolonien abhängig. Versorgungsengpässe führen zu Preissteigerungen. Um das Volk ruhig zu halten, werden die Getreidepreise bei Bedarf eingefroren und aus der Staatskasse subventioniert. Zu besonderen Anlässen werden Geldgeschenke unter der Bevölkerung verteilt.
Aufstieg und Fall des Seianus
Tiberius zieht sich auf die Insel Capri zurück. Hier verbringt er die letzten elf Jahre seines Lebens. Zwar macht er manchmal Ausflüge aufs Festland, sogar bis in die Umgebung von Rom, er setzt jedoch nie wieder einen Fuß in die Hauptstadt. Seine Regierungsgeschäfte führt er per Brief. So verschlossen und misstrauisch Tiberius auch ist, gewinnt doch in dieser Zeit der Befehlshaber der Prätorianergarden, Aelius Seianus, entscheidenden Einfluss auf ihn. Dass er den Kaiser vor herabstürzenden Steinen mit seinem Körper schützt, trägt sicher zur Vertrauensbildung bei. Er wird zu Tiberius’ wichtigstem Berater, der Weg zum Kaiser führt bald nur noch über ihn. Er etabliert ein System, in dem sich Günstlinge für seine Gefälligkeiten mit Verbrechen erkenntlich zeigen müssen. Angst vor Denunziation und Verfolgung vergiftet das Leben in Rom. Seianus’ Ziel ist die Macht, und auf dem Weg dorthin beseitigt er etliche Konkurrenten um die Kaisernachfolge. Den Kaisersohn Drusus hat er schon Jahre zuvor mithilfe eines langsam wirkenden Giftes aus dem Weg geräumt. Es gelingt Seianus, von Tiberius zum Mitregenten eingesetzt zu werden. Doch auf dem Höhepunkt seiner Macht wird seine Verschwörung aufgedeckt – Seianus und seine Kinder werden hingerichtet.
Zeit des Schreckens
Eine Zeit des Terrors beginnt. Wie schon zuvor werden unter dem Vorwurf der Beleidigung oder Verschwörung unbequeme Bürger zum Schweigen gebracht. Nach dem Untergang des Seianus reicht es aus, mit ihm befreundet gewesen zu sein, um angeklagt, verbannt oder hingerichtet zu werden. Eine Atmosphäre der Einschüchterung bestimmt das Leben in Rom. Wer nicht hingerichtet oder vergiftet wird, den lässt man im Kerker oder im Hausarrest verhungern. Viele Angeklagte und Verfolgte kommen ihrer Verurteilung zuvor und bringen sich selbst um. Selbstmorde haben den Vorteil, dass das Vermögen nicht, wie bei Verurteilten, eingezogen wird; so bleibt es der Familie erhalten. Jahre später werden auf Befehl des Tiberius alle niedergemetzelt, die der Komplizenschaft mit Seianus verdächtigt werden, im Kerker einsitzen und noch auf ihr Urteil warten. Tiberius stirbt im Alter von 77 Jahren auf Capri. Als sein Tod durch Altersschwäche bereits unmittelbar bevorsteht, lässt ihn sein Vertrauter Macro durch das Überwerfen von Decken ersticken. Da der Kaiser die meisten potenziellen Nachfolger hat beseitigen lassen, bleibt nur sein Enkel Caligula übrig, ein Sohn des Germanicus. Seinen grausamen Charakter verbirgt Caligula hinter heuchlerischer Bescheidenheit. Solchermaßen seinem Großvater Tiberius angepasst, besteigt er den Kaiserthron.
Neros Tyrannei
Caligula kann sich nur vier Jahre an der Macht und an seinem zügellosen Treiben erfreuen, dann wird er umgebracht. Sein Nachfolger ist Germanicus’ Bruder Claudius, tatsächlich jedoch beherrschen dessen Ehefrauen nacheinander das Römische Reich. Als seine zweite Gattin Messalina ohne Scheidung öffentlich einen anderen Mann heiratet, ist dies selbst dem sonst eher stumpfsinnigen Claudius zu viel: Er befiehlt ihre Ermordung. Danach heiratet er seine Nichte Agrippina. Diese bringt ihren Sohn Lucius Domitius, der den Beinamen Nero trägt, mit in die Ehe und lässt ihn von Claudius adoptieren. Agrippina ist die Urheberin des Giftanschlags auf den Kaiser: Als das erste Gift nicht wirkt, verabreicht ihm sein Arzt – auf eine Feder gestrichen, die ihm wie üblich das Erbrechen erleichtern soll – das letztlich tödliche.
„Den Arminius trieb abgesehen von seiner angeborenen Leidenschaftlichkeit der Gedanke, dass seine Gattin geraubt, dass das Kind, das sie zur Welt bringen würde, der Sklaverei ausgesetzt sei, zum Wahnsinn, und er stürmte durch die Cheruskerlande, Waffen gegen Segestes, Waffen gegen den Caesar fordernd.“ (S. 85)
Nun ist der Weg frei für Nero. Mit 16 Jahren wird er zum Kaiser. Erzogen wird er von Burrus und dem großen Rhetoriker Seneca. Zunächst haben die Lehrer noch einen mäßigenden Einfluss auf den Jüngling. Doch zunehmend entfaltet er sein grausames Wesen. Die lange Reihe seiner Morde beginnt mit der Tötung seines Stiefbruders Britannicus. Weitere Verwandte fallen seiner Mordlust zum Opfer. Seine Mutter Agrippina, die ihm erst zur Macht verholfen hat und deren Einfluss er nun fürchtet, überlebt ein inszeniertes Schiffsunglück leicht verletzt, wird aber bald darauf von Neros Gehilfen erstochen. Seine Gattin Octavia, die Tochter des Kaisers Claudius, verstößt, verbannt und ermordet er wenig später. Schon früh gibt Nero Beispiele für seine Zügellosigkeit: Verkleidet streift er durch Bordelle und Kneipen, sucht und findet mit seinen Begleitern die Gelegenheit für Raufereien.
Rom brennt
Weite Teile Roms werden unter Neros Herrschaft von einer schrecklichen Feuersbrunst zerstört. Ausgehend vom Circus, frisst sich das Feuer durch die eng bebaute und planlos gewachsene Stadt. Es verbrennen gleichermaßen Tempel, Paläste und Mietshäuser. Das Feuer wütet sechs Tage lang weitgehend ungehindert. Denn Löschversuche werden oft von Leuten vereitelt, die sich auf einen Auftraggeber berufen, in Wahrheit aber nur hemmungslos plündern wollen. Erst durch das Schlagen einer Brandschneise wird das Feuer gestoppt. Von den 14 Bezirken Roms bleiben lediglich vier unversehrt, drei werden völlig zerstört, und von den übrigen sieben sind nur Reste erhalten. Schnell verbreitet sich das Gerücht, Nero selbst habe das Feuer legen lassen, um die Stadt – dann nach ihm selbst benannt – neu zu errichten. Während das Feuer wütete, habe er auf seiner Hausbühne den Untergang Trojas besungen und diesen mit dem Brand Roms verglichen. Um die Untertanen zu besänftigen und die Gerüchte im Keim zu ersticken, sucht Nero Schuldige für die Katastrophe. Er findet sie in den Christen. Sie werden verfolgt, verhaftet und ermordet. In die Felle von Tieren eingenäht, werden sie von Hunden zerfleischt, oder sie werden ans Kreuz geschlagen und in den Nächten als lebende Fackeln verbrannt.
„So bewegte man sich beim Reden auf einem schmalen und schlüpfrigen Weg unter einem Fürsten, der den Freisinn fürchtete und die Schmeichelei hasste.“ (über Tiberius, S. 203)
Der Brand hat Platz für eine Neuanlage der Stadt geschaffen. Nero baut einen gigantischen Palast, der mit Grünanlagen, Teichen, Waldstücken und Aussichtspunkten beeindrucken soll. Die neuen Gebäude dürfen keine gemeinsamen Mauern mehr haben, werden teils ohne Holzbalken errichtet und müssen über Geräte zum Feuerlöschen verfügen. Die neuen Viertel werden großzügiger angelegt als die alten: Die höchstens 18 Meter hohen Häuser erhalten Innenhöfe und Säulengänge, und zwischen den Häuserzeilen bleibt Platz für breite Straßen. Einen Nachteil jedoch hat die neue Pracht: Die niedrigeren Häuser und breiteren Straßen geben auch der Sonne mehr Raum und steigern so die Gluthitze in der Stadt.
„Mir tritt, je mehr Ereignisse aus den neueren oder alten Zeiten ich mir vergegenwärtige, umso deutlicher das launische Zufallsspiel, dem das menschliche Leben in allen Bereichen unterworfen ist, vor Augen.“ (S. 223)
Nero gefällt sich besonders in der Rolle als Wagenlenker und Kitharaspieler – für einen Angehörigen der herrschenden Schicht ein eigentlich unwürdiges Verhalten. Nachdem er sich lange auf private Vorstellungen beschränkt hat, sucht er nun bei Zirkusspielen die Öffentlichkeit. Applaus bekommt er dank bezahlter Claqueure und tatkräftiger Mithilfe von Soldaten, die weniger Eifrige zum Beifall prügeln. Nero ist so verhasst, dass sich viele Offiziere und Adlige einer Verschwörung zu seiner Ermordung anschließen. Doch am Tag vor dem Mordanschlag wird der Plan verraten, etliche Beteiligte werden umgebracht. Auch Seneca, zu beträchtlichem Reichtum gekommen, wird verdächtigt, an dem Umsturzversuch gegen seinen ehemaligen Schüler beteiligt gewesen zu sein. Bei Nero längst in Ungnade gefallen, wird er zum Selbstmord gezwungen. Die weiteren Jahre von Neros Herrschaft sind geprägt von der Fortsetzung der Verfolgungen und Morde an zumeist Unschuldigen, die teils absurde Formen annehmen. So wird einer ganzen Familie noch nach ihrem Selbstmord der Prozess gemacht. Den nach ihrem Tod Abgeurteilten lässt Nero in seiner Gnade die freie Wahl der Todesart.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Annalen des Tacitus sind in 16 Bücher unterteilt. Überliefert sind allerdings lediglich zwölf. Es fehlen die Bücher VII bis X sowie einige Passagen der Bücher V, VI und XI. Damit bleiben dem Leser Teile von Tiberius’ Herrschaft, die gesamte Regierungszeit Caligulas und die ersten sechs Jahre von Claudius als Kaiser vorenthalten. Das letzte Buch endet wenige Jahre vor dem Ende der Herrschaft Neros – mitten in einem Satz. Es ist ungewiss, ob die Fortsetzung nicht erhalten geblieben ist oder ob der Autor durch seinen Tod an der Vollendung gehindert wurde. Man nimmt an, dass Tacitus sein Werk auf 18 Bücher angelegt hat. In den erhaltenen Teilen der Annalen nimmt die Ära des Tiberius den größten Raum ein, doch auch hier fehlen zweieinhalb Jahre, nämlich die Zeit, in denen Seianus, der Vertraute des Kaisers, den Höhepunkt seiner Macht erreicht und schließlich wegen seines Umsturzversuches hingerichtet wird. Selten sind Passagen, in denen Tacitus über seine Rolle als Geschichtsschreiber reflektiert oder allgemein philosophische Betrachtungen anstellt. Weil die Geschichtsschreibung in der Antike als eine Kunstform galt, bei der es nicht nur auf das Was, sondern auch auf das Wie der Berichterstattung ankam, ist sein Stil folgerichtig literarisch. Drastisch sind seine Schlachtbeschreibungen, teils ermüdend die Berichte über den Wechsel von Ämtern und den Verlauf von Prozessen. Tacitus’ Ton ist überwiegend lakonisch, manchmal bissig, und sein unverwechselbarer Stil stets so rhythmisch, dass die Annalen gut und flüssig zu lesen sind. Die Form des Werks reflektiert Tacitus’ innere Überzeugung: Der bekennende Republikaner und Gegner der Monarchie reiht Jahresberichte über die Zeit der Kaiserherrschaft aneinander. Damit folgt er einer Textform, die noch aus der Zeit der Republik stammt, er gibt ihr aber die nachrepublikanische Zeit zum Inhalt. Tacitus’ Zeitgenosse Sueton verfuhr anders: Er verfasste in Cäsarenleben Kaiserbiografien: Inhalt und Form decken sich und drücken nicht den inneren Widerspruch aus, auf den es Tacitus ankam.
Interpretationsansätze
- Tacitus will die Epoche der römischen Kaiserzeit ins Bewusstsein rücken. Als überzeugter Republikaner kann er sich mit der Regierungsform der Monarchie nicht abfinden. Sein Geschichtsbild ist darum von Negativität und düsterer Resignation geprägt.
- Er fordert zwar nicht die Wiederherstellung der republikanischen Staatsform, doch er will die republikanischen Werte am Leben erhalten, an erster Stelle „virtus“ und „libertas“: Tugend und Freiheit, was er in der Kaiserzeit schmerzlich vermisst.
- Tacitus nimmt die Perspektive eines Moralisten ein, der den Verlust der Republik nicht nur in politischer Hinsicht bedauert, sondern auch den Sittenverfall der herrschenden Schicht beklagt. Dabei dringt er tief in die Abgründe menschlicher Seelen und in die Handlungsmotivation der Kaiser ein.
- Seinem eigenen Anspruch, „sine ira et studio“ („ohne Zorn und Gunst“), also unparteiisch zu erzählen, kann Tacitus nicht immer gerecht werden. Seine Charakterisierungen der handelnden Personen sind klar von seinen eigenen Wertvorstellungen bestimmt. Die moderne Frage, ob auch die von ihm angelegten Wertmaßstäbe dem geschichtlichen Wandel unterliegen könnten, ist Tacitus fremd.
- Die Kunst der Rhetorik war für Politiker und Schriftsteller der Antike eine der wichtigsten Fähigkeiten. Eine zusätzliche Motivation für sein Schaffen war für Tacitus daher, Ruhm als Autor literarisch bedeutsamer Werke zu erwerben.
Historischer Hintergrund
Die Zeit der Kaiserherrschaft im antiken Rom
Rom kurz nach der Zeitenwende: Das Imperium erreichte unter der langen Regierungszeit des Kaisers Augustus seine bis dahin größte Ausdehnung. Es erstreckte sich vom Atlantik bis zum Persischen Golf, von der Nordsee bis nach Ägypten. Nur in Germanien, Britannien und im Orient war das Römische Reich gelegentlich noch in kriegerische Konflikte verwickelt. Unter diesen Voraussetzungen konnte sich Rom im Inneren weitgehend friedlich entwickeln. Augustus hatte sich (noch unter dem Namen Octavian) in den nach der Ermordung Julius Cäsars ausgebrochenen Bürgerkriegen gegen seine Gegner durchgesetzt und als neue Regierungsform das so genannte Prinzipat begründet. In dieser Herrschaftsform übte der Kaiser die gesamte Staatsgewalt aus, wenngleich die republikanischen Institutionen beibehalten wurden. Die gesellschaftlich bedeutendste Schicht war die Senatsaristokratie. Ihr gehörten nur Mitglieder alter, wohlhabender Familien an. Verarmte Senatoren wurden aus dem Senat entfernt.
Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. wurden anlässlich einer Volkszählung im Reich rund sechs Millionen Bürger gezählt. In der Stadt Rom lebten mehr Sklaven als freie Bürger. Die Bevölkerung war unter der Kaiserherrschaft ebenso wie zu Zeiten der Republik ständisch organisiert: Den alteingesessenen, einflussreichen Familien, den Patriziern, standen die Plebejer und die Soldaten gegenüber. Der Besitz von Geld bedeutete Ansehen, und zu Geld kamen viele Bürger Roms durch die Ausbeutung der römischen Provinzen und den Handel mit ihnen. Unter der Kaiserherrschaft konnte sich das durch die Bürgerkriege und Eroberungsfeldzüge geschwächte römische Staatswesen erholen. Die Verwaltung wurde besser organisiert und die Korruption eingedämmt.
Entstehung
Die Annalen sind Tacitus’ letztes Werk. Sie entstanden vermutlich zwischen 110 und 120 n. Chr. Tacitus hat für seinen Text, der eine Zeit behandelt, deren Ende er noch als Jugendlicher erlebt hatte, sicher die Werke anderer Historiker ausgewertet, von denen die bedeutendsten Livius und Sallust sind; er erwähnt jedoch nur sehr wenige namentlich. Als Senator standen ihm auch weitere Quellen offen, insbesondere die Protokolle des Senats und die Berichte von älteren Augen- und Ohrenzeugen des Geschehens. Diese Zeuge erwähnt er an wenigen Stellen, vermutlich um die Glaubwürdigkeit zu unterstreichen. Man sollte bei der Lektüre stets die in der Antike geltenden Maßstäbe für Geschichtsschreibung bedenken, um den Annalen gerecht zu werden. Griechische und römische Geschichtsschreiber hielten sich nämlich nicht allzu lange mit den Quellen ihrer Werke auf. Stattdessen legten sie Wert darauf, die Ereignisse auf ihre Antriebskräfte zurückzuführen. Wichtig war ihnen auch eine anschauliche literarische Form. Erst nach dem Tod des Kaisers Domitian im Jahr 96 n. Chr. konnte sich Tacitus als Geschichtsschreiber betätigen. Unter Domitians Herrschaft war ihm das verwehrt, weil die freie Meinungsäußerung verboten war. Es ist anzunehmen, dass Tacitus die Annalen nicht vollenden konnte. Neben dem Abbruch des Textes mitten im Satz spricht die in den letzten Büchern fehlende kompositorische Strenge dafür, dass er ihnen nicht mehr ihre endgültige Fassung geben konnte.
Wirkungsgeschichte
Es ist unbekannt, wann die Annalen erstmals veröffentlicht wurden. Sie gerieten wohl unmittelbar nach Tacitus’ Zeit in Vergessenheit, weil in der geistigen Atmosphäre des zweiten und dritten Jahrhunderts für den republikanischen Gelehrten kein Platz war. Im vierten Jahrhundert verfasste der spätantike Historiker Ammianus Marcellinus eine Fortsetzung der Geschichtswerke von Tacitus bis in seine Gegenwart. Im neunten Jahrhundert zitierte der Mönch Rudolf von Fulda in seinen Schriften Teile aus Tacitus’ Werk. Eine vermutlich im Kloster Corvey entstandene Handschrift aus derselben Zeit überliefert alles, was von den ersten sechs Büchern erhalten ist. Der Rest ist in einer Handschrift aus dem italienischen Monte Cassino enthalten.
Auf große Resonanz stieß Tacitus im Zeitalter des Absolutismus: Auf seine Schriften berief sich der so genannte Tacitismus, eine Variante des Machiavellismus. Im Zeitalter der Französischen Revolution hingegen wurde seine feindliche Einstellung zur Monarchie in den Vordergrund gestellt. Auch auf die Kunstgeschichte hatten seine Werke Einfluss: Die Herrschergestalten des Tacitus boten Stoff und Grundlage für zahlreiche Dramen. Tacitus’ einigermaßen positive Darstellung der Germanen erwählten deutsche Humanisten zur Basis ihres Bildes vom deutschen Nationalcharakter.
Der polnische Schriftsteller Henryk Sienkiewicz schrieb 1896 den Roman Quo Vadis?, der im Rom zur Zeit Neros spielt. Das Buch wie auch dessen Verfilmung wurden Welterfolge; der Autor erhielt 1905 den Nobelpreis für Literatur. Die heutige Geschichtswissenschaft hat das von Tacitus wie auch von Sienkiewicz vermittelte Bild der frühen Kaiserzeit allerdings stark relativiert: Das erste Jahrhundert sei eine Zeit des Friedens, des Wohlstands und der kulturellen Blüte gewesen, die Verwaltung habe im Gegensatz zu früher gut funktioniert und sei von Korruption sowie Unterdrückung weitgehend frei gewesen.
Über den Autor
Cornelius Tacitus wird vermutlich um 55 n. Chr. geboren, möglicherweise in Südgallien, der heutigen Provence; die Region ist ihm jedenfalls vertraut. Über sein Leben ist nur wenig bekannt. Vereinzelte Informationen finden sich in seinen eigenen Texten und in denen anderer Autoren, vor allem seines Freundes Plinius des Jüngeren. Um das Jahr 77 n. Chr. verlobt er sich und heiratet kurze Zeit danach; das Leben seines Schwiegervaters Julius Agricola beschreibt er später in Agricola (98 n. Chr.). Wohl im selben Jahr verfasst er die Germania, in der er jenes Volk nördlich der Alpen charakterisiert, das sich zum gefürchtetsten Gegner der Römer entwickelt hat. Wie viele ehrgeizige junge Römer besucht Tacitus die Rhetorenschule, die auf eine Karriere als Anwalt und Politiker vorbereitet, und durchschreitet dann die übliche Ämterlaufbahn bis hin zum Konsul. Zwischen 112 und 114 n. Chr. regiert er als Prokonsul die Provinz Asia, die dem westlichen Teil der heutigen Türkei entspricht. Plinius der Jüngere beschreibt ihn als besonders begabten Redner und Anwalt. Beide, Plinius und Tacitus, werden im Jahr 100 n. Chr. vom Senat mit der Anklage gegen Marius Priscus, den ehemaligen Statthalter der Provinz Africa, beauftragt: Dieser soll die Bewohner der Provinz erpresst haben. Tacitus’ Hauptwerke sind die Historien und die Annalen, sie machen ihn zum bedeutendsten Historiker Roms. Die Historien, fertiggestellt um 109 n. Chr., behandeln die Periode vom Vierkaiserjahr 69 n. Chr. bis zum Ende der flavischen Dynastie 96 n. Chr. In den Annalen, an denen er vermutlich bis zu seinem Tod arbeitet, widmet er sich der Geschichte vom Tod des Kaisers Augustus 14 n. Chr. bis zum Tod Neros im Jahr 68 n. Chr. Tacitus hat einen ausgeprägten Sinn für Spiritualität, er ist Mitglied einer der bedeutendsten römischen Priesterschaften. Er stirbt vermutlich um das Jahr 120 n. Chr.
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