Heinrich Böll
Ansichten eines Clowns
KiWi, 2011
Was ist drin?
Bölls Anklageschrift gegen katholische Heuchelei und Überheblichkeit.
- Liebesroman
- Gegenwartsliteratur
Worum es geht
Ein Clown rechnet ab
Der Clown Hans Schnier ist nicht besonders lustig: Für jedes Problem in seinem Leben findet er den Schuldigen – und das ist niemals er selbst. Heinrich Böll hat mit ihm eine Figur geschaffen, die sich gegen ihre Umgebung wendet und dieser eine Menge böser Absichten unterstellt. In manchen Fällen scheint diese Unterstellung zuzutreffen, in anderen wirkt sie mutwillig. Was Schnier bleibt, sind Wut und Resignation: Wut auf die Umstände, die sein Leben zerstört haben; Resignation angesichts der scheinbaren Übermacht seiner Gegner. Bei aller Leidenschaftlichkeit findet sich in seinen Anklagen doch ein wahrer Kern: Sie zeichnen ein facettenreiches Bild einer Zeit, in der strenge Moralvorstellungen und der „katholische Klüngel“ das gesellschaftliche wie das private Leben entscheidend mitbestimmten. Bölls Kritik an der Vermischung von persönlichem Glauben und Politik ist in einer Zeit, in der christliche Werte als Gegenbild zur islamistischen Bedrohung bemüht werden, in der über Kopftücher und Kruzifixe gestritten wird und der Papst seinen Einfluss in der Weltpolitik geltend macht, genauso aktuell wie vor 50 Jahren.
Take-aways
- Ansichten eines Clowns ist einer von Heinrich Bölls bekanntesten Romanen.
- Das Buch löste eine heftige Kontroverse um die Macht der katholischen Kirche in Deutschland aus.
- Inhalt: Der Clown Hans Schnier wurde von seiner großen Liebe Marie verlassen und verbringt nun dreieinhalb Stunden in seiner Wohnung in Bonn, während derer er mit Verwandten, Freunden und Bekannten telefoniert und auf sein bisheriges Leben zurückblickt. Schnier ist wütend und zutiefst verbittert: Er beschuldigt das katholische Umfeld Maries, ihre Beziehung zerstört zu haben.
- Katholische Kritiker sahen in dem Roman eine antikatholische Hetzschrift.
- Für Böll war er dagegen in erster Linie eine Liebesgeschichte.
- Daneben ist das Buch auch die Geschichte eines gescheiterten Künstlers, der sich von seiner Umgebung unverstanden und nicht ernst genommen fühlt.
- Der Roman entstand in der Adenauer-Ära Anfang der 60er Jahre, die von strengen Glaubens- und Moralvorstellungen geprägt waren.
- Böll verurteilte die Vermischung von Glauben und Politik scharf, wehrte sich jedoch dagegen, mit dem Clown Schnier gleichgesetzt zu werden.
- Der Autor wurde 1972 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
- Zitat: „Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der einen Clown versteht, nicht einmal ein Clown versteht den anderen, da ist immer Neid oder Missgunst im Spiel.“
Zusammenfassung
Ankunft in Bonn
Der Clown Hans Schnier trifft in seiner Heimatstadt Bonn ein. Kürzlich wurde er von seiner großen Liebe Marie Derkum verlassen. Sie ist nun mit einem Mann namens Heribert Züpfner zusammen. Marie besucht seit Jahren den „Kreis fortschrittlicher Katholiken“, zu dem auch ihr jetziger Verlobter gehört. Hans konnte dem Kreis nie viel abgewinnen und war von Anfang an erbost über die heuchlerische und weltfremde Art, mit der sich dessen Mitglieder anmaßten, Urteile über andere Menschen zu fällen.
„(...) ich leide nicht nur an Melancholie, Kopfschmerzen, (...) mein fürchterlichstes Leiden ist die Anlage zur Monogamie; es gibt nur eine Frau, mit der ich alles tun kann, was Männer mit Frauen tun: Marie, und seitdem sie von mir weggegangen ist, lebe ich, wie ein Mönch leben sollte; nur: ich bin kein Mönch.“ (S. 16 f.)
Seit der Trennung von Marie ist Hans in tiefe Melancholie verfallen, leidet häufig an Kopfschmerzen und trinkt zu viel. Sein Leben scheint aus den Fugen geraten zu sein. Das hat sich auch auf seine Karriere ausgewirkt: Mit seinen Auftritten verdient er immer weniger, er wird seltener gebucht, und nun hat er sich auf der Bühne auch noch das Bein verrenkt, sodass er kaum noch richtig laufen kann. Darüber hinaus ist er pleite und hat deshalb beschlossen, in seine Bonner Wohnung zurückzukehren – hier hat er bisher nur wenig Zeit verbracht – und von hier aus Freunde, Bekannte und Verwandte anzurufen, um sie um Geld zu bitten.
Kindheit und Jugend
Hans ist in Bonn aufgewachsen. Viele seiner Verwandten und Freunde leben noch immer hier. Mit seiner Kindheit verbindet Hans die schmerzliche Erinnerung an seine Schwester Henriette, die sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zur Flak gemeldet hat und gefallen ist. In Hans’ Augen sind seine Eltern mitschuldig an ihrem Tod, weil sie Henriette gehen ließen.
„Ich habe es lange schon aufgegeben, mit irgendjemand über Geld zu reden oder über Kunst. Wo die beiden miteinander in Berührung kommen, stimmt die Sache nie: die Kunst ist entweder unter- oder überbezahlt.“ (S. 38)
Die Schniers sind eine reiche Familie, die ihr Vermögen vor allem mit Braunkohleaktien erworben hat. Zu seiner Mutter hat Hans ein sehr angespanntes Verhältnis − die beiden haben sich seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Dennoch ruft er als Erstes bei ihr an. Allerdings bringt er das Gespräch zunächst auf Henriette, bevor er sich nach dem Rest der Familie erkundigt. Sein Bruder Leo ist vor einiger Zeit zum katholischen Glauben konvertiert – die streng protestantische Familie hat diesen Schock noch immer nicht verwunden. Seine Mutter hat bereits gehört, dass es bei Hans im Moment nicht so gut läuft, er verzichtet jedoch darauf, sie um Geld zu bitten.
„(...) sie fragte mich, ob ich sie denn schön fände und sie liebte, und ich sagte, sie sei das einzige Mädchen, mit dem ich ‚diese Sache‘ tun wollte, und ich hätte immer nur an sie gedacht, wenn ich an die Sache gedacht hätte, auch schon im Internat; immer nur an sie.“ (S. 46)
Hans und Marie Derkum kannten sich schon als Kinder. Maries Vater hatte einen kleinen Laden, in dem er Schulhefte, Süßigkeiten und Zigaretten verkaufte, und Hans verbrachte viel Zeit bei den Derkums zu Hause. Mit 21 Jahren brach Hans, der zu dieser Zeit ein Internat besuchte, die Schule ab und fasste den Entschluss, Clown zu werden – sehr zum Missfallen seiner Familie. Marie stand kurz vor dem Abitur, und Hans hatte vor einiger Zeit sein „fleischliches Verlangen“ für sie entdeckt. Eines Tages sah er Marie Hand in Hand mit Heribert Züpfner vor dem Jugendheim und beschloss, dass es an der Zeit war, mit ihr zu schlafen. Er schlich sich abends zu ihrem Haus und verbrachte die Nacht mit ihr. Für Hans war von Anfang an klar, dass sie nun Mann und Frau waren und dass sie ihr Leben zusammen verbringen würden. Am nächsten Morgen ging er kurz nach Hause, um seinem Bruder Leo zu erzählen, was vorgefallen war. Als er zu Derkums Laden zurückkehrte, war Marie nach Köln gefahren.
Trennung von Marie
Immer wenn Hans sich vorstellt, dass nun an seiner Stelle Züpfner die Möglichkeit hat, Marie bei alltäglichen Dingen zu beobachten, wird er rasend vor Eifersucht. Hans hat es immer geliebt, ihr beim Anziehen oder beim Zähneputzen zuzuschauen, und er vermutet, dass Züpfner sein Glück gar nicht zu schätzen weiß.
„Ich wusste natürlich, dass es Standesämter gab und dort irgendwelche Trauungszeremonien vollzogen und Urkunden ausgestellt wurden, aber ich dachte, das wäre eine Sache für unkirchliche Leute und für solche, die sozusagen dem Staat eine kleine Freude machen wollten.“ (S. 80)
Bevor Hans und Marie sich trennten, war ihre Beziehung durch zwei Fehlgeburten belastet worden. Der Grund für ihren letzten Streit war jedoch, dass Marie Hans zur Heirat überreden wollte und außerdem auf der katholischen Erziehung ihrer gemeinsamen Kinder bestand. Hans erklärte sich bereit, kirchlich zu heiraten und ihr sein schriftliches Einverständnis dazu zu geben, dass ihre Kinder im katholischen Glauben erzogen werden sollten. Eine zusätzliche standesamtliche Trauung war ihm jedoch zu viel. (Erst später erfuhr er, dass man sich erst standesamtlich trauen lassen musste, wenn man kirchlich heiraten wollte.) Die Beziehung zu Hans, die aus Maries katholischer Perspektive eine Sünde war, stellte für sie einen „metaphysischen Schrecken“ dar, den Hans nie nachvollziehen konnte und bis heute nicht nachvollziehen kann. Seiner Ansicht nach sind sie vor Gott seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht Mann und Frau, und jetzt, da sie ihn verlassen hat, lebt sie in Unzucht und begeht Ehebruch. Kurz vor ihrer Trennung teilte Marie ihm mit, dass sie sich mit einigen Mitgliedern des Kreises, darunter Heribert Züpfner und Prälat Sommerwild, getroffen hatte. Nun geht Hans davon aus, dass die Katholiken Marie beeinflusst und sie dazu gebracht haben, ihn zu verlassen.
„Fast jedes Kind in Bonn wusste, dass Marie Derkum mit einem von den Braunkohlenschniers durchgebrannt war, ‚kurz vor dem Abitur, und sie war doch so fromm‘.“ (S. 93)
Nach der Trennung schrieb er Marie Briefe, die er an ein anderes Mitglied des katholischen Kreises, Herrn Fredebeul, schickte. Nun ruft er dort an, um sich nach dem Verbleib der Briefe zu erkundigen. Frau Fredebeul teilt ihm mit, dass sie ungeöffnet zurückgekommen seien und dass sie ihm die aktuelle Adresse von Marie nicht geben könne. Danach telefoniert Hans mit Kinkel, einem weiteren Mitglied des Kreises, mit dem er schon früher häufig Differenzen hatte. Hans wirft Kinkel offen vor, dass Maries katholische Freunde sie zum Ehebruch überredet hätten und sie nun vor ihm verstecken würden. Zudem kündigt er an, Prälat Sommerwild zu ermorden.
Feierabend
Hans denkt über seine Arbeit nach. Ein wichtiges Problem für einen Clown besteht darin, dass er immer dann arbeiten muss, wenn die Nichtkünstler Feierabend haben. Wenn er dann Feierabend hat, glauben alle anderen, mit ihm über seine Arbeit sprechen zu müssen. Er hat stets diejenigen beneidet, die einen echten Feierabend haben. Hans war immer ungeduldig, wechselte seine Nummern oft und hatte eigentlich nie Urlaub. Jetzt zwingen ihn das verletzte Knie und die fehlenden Engagements, über sein Leben und seine Arbeit nachzudenken. Die einzige wirkliche Entspannung hat ihm jeweils das Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spielen mit Marie geboten, das er jetzt schmerzlich vermisst.
„Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der einen Clown versteht, nicht einmal ein Clown versteht den anderen, da ist immer Neid oder Missgunst im Spiel.“ (S. 106)
Hans lässt sich ein Bad ein und denkt darüber nach, dass sich Marie bei allem, was sie mit Züpfner tut, wie eine Hure vorkommen muss, wenn sie es zuvor schon mit Hans getan hat. Das gilt nicht nur für Sex: Auch beim Kartenspiel oder wenn sie ihm ein Butterbrot macht, muss sie doch an nichts anderes denken können, als dass sie damit Hans hintergeht. Er steigert sich immer mehr in seine Wut auf Sommerwild hinein, dem er die Hauptschuld an Maries Weggang gibt, und malt sich aus, wie er den verhassten Prälaten umbringen könnte.
„Der Feierabend des Nichtkünstlers ist die Arbeitszeit eines Clowns.“ (S. 109)
Hans’ Agent Zohnerer ruft an und legt ihm nahe, sich nach der letzten vernichtenden Kritik für mindestens drei Monate zum Üben zurückzuziehen. Er solle erst dann auf die Bühne zurückzukehren, wenn er mit dem Trinken aufgehört habe und wieder mehr Geld für seine Auftritte verlangen könne.
Streit mit Sommerwild
Prälat Sommerwild ruft an und sagt, dass er sich Sorgen um Hans mache, da er ihn möge. Darüber hinaus möchte er mit ihm über die Vorfälle sprechen, um seine eigene Sicht darzulegen. Sommerwild wirft Hans vor, sich gegen die Hochzeit mit Marie gesträubt zu haben, und bittet ihn einzusehen, dass die Beziehung ohnehin so gut wie am Ende gewesen sei. Hans klagt Sommerwild seinerseits an, Marie hinter seinem Rücken dazu überredet zu haben, ihn zu verlassen. Der Prälat bleibt während des ganzen Gesprächs sehr ruhig und nimmt alle Schmähungen gelassen hin. Er sieht Hans’ Problem vor allem in dessen Monogamie und glaubt, er habe Marie verloren, weil er sich nicht die Mühe gemacht habe, um sie zu kämpfen. Nun sei es dafür jedoch zu spät, denn Marie und Züpfner hätten bereits geheiratet und befänden sich gerade in den Flitterwochen in Rom. Die Tatsache, dass die beiden ausgerechnet nach Rom gefahren sind, trifft Hans tief: Er hat selbst früher mit Marie dorthin fahren wollen, u. a. um dem Papst zuzujubeln. Marie fand jedoch die Vorstellung, dass ein Agnostiker dem Papst zujubeln könnte, pervers. Nun sieht Hans sie vor sich, wie sie mit Züpfner die Flitterwochen verbringt, wie sie in ein paar Jahren in ihrem neuen spießigen Heim mit ihm und ihrer Tochter lebt, wie sie die langweiligen, engstirnigen Mitglieder des Kreises empfängt und wehmütig an den Clown denkt, den sie verloren hat.
Besuch vom Vater
Die Klingel reißt Hans aus seinen Gedanken. Sein Vater steht vor der Tür. Er ist gekommen, um mit Hans über dessen Geldprobleme zu sprechen. Bisher hat er sich immer geweigert, seinem Sohn auszuhelfen. Selbst als Hans und Marie in Köln lebten, unterstützte der Vater sie nie. Die beiden waren auf die Hilfe Fremder angewiesen, während Hans’ Familie ihm ihr beträchtliches Vermögen vorenthielt.
„Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sie mit Züpfner ‚die Sache‘ tun würde (...). Ich konnte mir nur vorstellen, dass sie mit Züpfner Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen würde – und das machte mich rasend.“ (S. 116)
Hans wird klar, dass er zum ersten Mal ein echtes Gespräch mit seinem Vater führt. Der bietet ihm an, seine weitere Ausbildung im Bereich der Pantomime zu bezahlen, doch Hans lehnt ab. Er möchte zu Hause trainieren und neue Nummern entwickeln, um dann auf die Bühne zurückzukehren. Für die Zwischenzeit bittet er seinen Vater um Unterstützung. Hans erzählt ihm, dass er und seine Geschwister als Kinder trotz des Reichtums der Familie immer vom Hunger geplagt waren. Der Vater beginnt zu weinen, und Hans erkennt, dass sie nun nicht mehr über Geld sprechen können, weil sich sein Vater so sehr in ein Gefühl der Tragik hineingesteigert hat. Deshalb ruft er, nachdem dieser gegangen ist, dessen Geliebte, Frau Brosen, an. Er spekuliert darauf, dass sie den Vater überzeugen kann, ihn zu unterstützen, doch sie macht ihm wenig Hoffnung. Enttäuscht und verbittert beendet Hans das Gespräch. Er denkt wieder an Marie in Rom und nimmt sich vor, den Papst um eine Audienz zu bitten: Er will ihm mitteilen, wie gemein die deutschen Katholiken zu ihm sind.
Erinnerungen und Pläne
Hans blättert in der Zeitung und entdeckt einen Artikel über Herbert Kalick, einen Bekannten aus Kindheitstagen, der kürzlich das Bundesverdienstkreuz für die „Verbreitung des demokratischen Gedankens in der Jugend“ erhalten hat. Kalick war seinerzeit ein glühender Anhänger des NS-Regimes. Er zeigte Hans einmal wegen Defätismus an und forderte bei der Bestrafung unerbittliche Härte. Außerdem schlug er vor, die Kinder aus dem Waisenhaus für den Endkampf zu mobilisieren. Vor zwei Jahren lud Kalick Hans ein, um sich mit ihm zu versöhnen. Hans ging mit Marie hin, erteilte Kalick Absolution, gab ihm eine Ohrfeige und ging wieder.
„Aber fast alle gebildeten Katholiken haben diesen gemeinen Zug, entweder hocken sie sich hinter ihren Schutzwall aus Dogmen, werfen mit aus Dogmen zurechtgehauenen Prinzipien um sich, aber wenn man sie ernsthaft konfrontiert mit ihren ‚unerschütterlichen Wahrheiten‘, lächeln sie und beziehen sich auf ‚die menschliche Natur‘.“ (S. 148)
Hans fühlt sich kraft- und hoffnungslos. Er überlegt, wie tief er in Zukunft noch sinken wird. Wird er die katholischen Heuchler um Verzeihung bitten? Vielleicht sogar konvertieren? Oder soll er sich lieber bei seiner Familie einschmeicheln? Er ist sich sicher, dass er am Ende in der Gosse landen wird, und nimmt sich vor, sich mit seiner Gitarre an den Bahnhof zu setzen, katholische Kirchenlieder zu singen und sich so ein paar Münzen zu verdienen. Außerdem könnte er dort auf Marie warten, die ja irgendwann aus Rom zurückkommen muss.
„Diese Leute verstehen nichts. Sie wissen zwar alle, dass ein Clown melancholisch sein muss, um ein guter Clown zu sein, aber dass für ihn die Melancholie eine todernste Sache ist, darauf kommen sie nicht.“ (S. 212)
Hans denkt darüber nach, dass sie noch nicht einmal ihren Kindern etwas anziehen kann, ohne sich wie eine Hure zu fühlen. Schließlich hat er mit ihr über beinahe jedes Kleidungsstück, das sie tragen könnten, schon einmal gesprochen. Er ist überzeugt, dass sie ihn genauso vermisst wie er sie. Hans geht ins Bad, um sich komplett weiß zu schminken, und zieht sich dann um. Der Kleiderschrank, in dem nichts mehr von Marie ist, wirkt auf ihn niederschmetternd: als sei sie mit tödlicher Präzision aus seinem Leben geschnitten worden. Er stellt sich vor, wie die Leute wohl auf seinen Tod reagieren würden: Sommerwild und Fredebeul, sein Vater und natürlich Marie.
„Ich blickte mich im Spiegel an (...). Es war das Gesicht eines Selbstmörders, und als ich anfing, mich zu schminken, war mein Gesicht das Gesicht eines Toten.“ (S. 255)
Leo, den Hans schon seit Stunden zu erreichen versucht, ruft endlich zurück. Die beiden haben nicht mehr miteinander gesprochen, seit Leo zum katholischen Glauben konvertiert ist. Leo bietet Hans seine gesamten Ersparnisse – sechs Mark und sieben Pfennig – an, weigert sich jedoch, so spät am Abend noch zu ihm zu kommen, um ihm in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Als Leo anmerkt, dass er kürzlich mit Heribert Züpfner gesprochen habe, verliert Hans die Fassung. Er erklärt seinem Bruder, dass er ihn nicht mehr sehen wolle. Kurz vor halb zehn, etwa dreieinhalb Stunden nach seiner Ankunft in Bonn, nimmt er seine Gitarre und seine letzte Zigarette und macht sich auf den Weg zum Bahnhof.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der Roman ist in 25 Kapitel gegliedert. Hauptfigur und Ich-Erzähler Hans Schnier verbringt dreieinhalb Stunden in seiner Wohnung in Bonn und telefoniert in dieser Zeit mit Freunden, Bekannten und Verwandten. Die Gespräche werden immer wieder von Rückblicken unterbrochen, in denen Hans Episoden aus seinem bisherigen Leben berichtet. Die Darstellung seiner Biografie reicht zwar von seiner Kindheit bis zum aktuellen Zeitpunkt, ist aber bruchstückhaft, und die einzelnen Episoden sind nicht chronologisch angeordnet.
Der Roman ist in leicht verständlicher, mitunter sachlich-schlichter Sprache geschrieben, die von einigen Kritikern, unter ihnen Marcel Reich-Ranicki, sogar als zu schlicht empfunden wurde. Vor allem die fast emotionslose Wiedergabe von Ereignissen wurde dem Roman immer wieder vorgeworfen. Doch es gab auch Stimmen, die gerade darin seine Stärke sahen, so der Kritiker Walter Widmer: „Man könnte von einer sachlichen Leidenschaft sprechen, die sich an Fakten entzündet und durch Fakten wirken will.“
Interpretationsansätze
- Ansichten eines Clowns erzählt die Liebesgeschichte von Hans und Marie, die als junge Erwachsene ein Paar wurden und dann fünf Jahre in wilder Ehe lebten. Marcel Reich-Ranicki, der sonst nur wenig Gutes an dem Roman finden konnte, urteilte in der Zeit: „Heinrich Böll zeigt, was so selten gezeigt wird: den Alltag einer Liebe.“ Der Autor selbst sagte 1967 in einem Fernsehinterview: „Ich glaube, dass kein Buch so sehr missverstanden wurde wie die Ansichten eines Clowns. Es war eigentlich nur eine Liebesgeschichte, wirklich nicht mehr.“
- Die Liebesgeschichte ist jedoch eng verwoben mit einer Milieustudie: Die katholische, gebildete Oberschicht Bonns und Kölns wird porträtiert und vom Romanhelden der Heuchelei bezichtigt. Der Clown entlarvt die inneren Widersprüche des Glaubens, indem er sich diesem Thema ohne jedes „Gefühl für Metaphysik“ nähert. Der Roman wurde aus diesem Grund von katholischen Kritikern als antikatholisches Pamphlet verunglimpft.
- Bölls Anliegen war es, einen Einblick in das Leben während der Adenauer-Ära zu geben, das von einer strengen Moral und einem starken Einfluss des Katholizismus geprägt war. 1985 nannte er das Buch bereits einen „historischen Roman“, der von einer vergangenen Epoche erzähle, in der katholische Verbände eine entscheidende moralische wie auch politische Macht darstellten.
- Ansichten eines Clowns ist zudem die Geschichte eines gescheiterten Künstlers, der sich von seiner Umgebung unverstanden und nicht ernst genommen fühlt. In einzelnen Passagen werden der Alltag des umherziehenden Clowns, typische Auftritte, Reaktionen des Publikums, Probleme mit dem Agenten sowie der Umgang mit Erfolg und Misserfolg geschildert.
- Böll führt im Roman vor, wie die Autoritätshörigkeit der Nazizeit in der Bundesrepublik der Adenauer-Ära weiterlebt, kaschiert von einem demokratischen oder katholischen Deckmantel.
Historischer Hintergrund
Die Adenauer-Ära
Der erste Bundeskanzler der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland war Konrad Adenauer, der 14 Jahre lang an der Spitze des christlichen Parteienbündnisses CDU/CSU (später CDU/CSU und FDP) stand. Die Phase der Gründung und Etablierung der Bundesrepublik wird deshalb mit dem Begriff „Adenauer-Ära“ bezeichnet.
Die ersten Ziele der neu gewählten Regierung waren in den frühen Jahren die Entnazifizierung, die Wiederbewaffnung und die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität. Die Bundesrepublik gliederte sich nach und nach in die westeuropäische Staatengemeinschaft ein und erklärte sich, u. a. durch den Eintritt in die NATO 1955, dazu bereit, gemeinsam mit den anderen Westmächten die Expansion der Sowjetunion zu verhindern. Mit dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 wurde Deutschland endgültig zum Brennpunkt des Kalten Krieges, in dem sich West und Ost gegenüberstanden.
Ludwig Erhard, der während der gesamten Amtszeit von Konrad Adenauer den Posten des Wirtschaftsministers innehatte und nach Adenauers Rücktritt im Jahr 1963 zum zweiten Bundeskanzler gewählt wurde, entwickelte für Deutschland das Konzept einer sozialen Marktwirtschaft. Dieses wurde in den 50er Jahren mit der Unterstützung Adenauers umgesetzt und führte zum so genannten Wirtschaftswunder.
Entstehung
Heinrich Böll schrieb Ansichten eines Clowns 1962, veröffentlich wurde der Roman ein Jahr danach. Zeitgleich mit Böll kritisierten mehrere andere deutsche Autoren die enge Verflechtung von katholischer Kirche und deutscher Regierung sowie die immer größeren Differenzen zwischen Amtskirche und Katholiken. Die wichtigsten Vertreter dieser kritischen Position waren Rolf Hochhuth und Carl Amery. Hochhuth versuchte mit seinem Theaterstück Die Stellvertreter die Rolle der katholischen Kirche im NS-Regime aufzuarbeiten, während Amery sich in seinem Buch Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute mit den engen Beziehungen zwischen deutschem Katholizismus und der CDU auseinandersetzte.
Dass dieses Thema auch für den Katholiken Böll von zentraler Bedeutung war, ist offenkundig. Bereits vor der Veröffentlichung des Romans setzte er sich in Aufsätzen und Essays damit auseinander. In einem Programmheft zur Uraufführung der Bearbeitung seines Romans für die Bühne in Düsseldorf schrieb er 1970: „Der Roman entstand zu einer Zeit, als man in der BRD noch offiziell und öffentlich bereit war, nicht nur Konfession und Religion miteinander zu verwechseln, nein, man übte einen konfessionellen Terror aus, der politisch hohe Zinsen brachte.“ Diesen Terror, nicht den Katholizismus an sich, wollte Böll an den Pranger stellen.
Den wichtigsten literarischen Einfluss auf Ansichten eines Clowns sehen Kritiker in J. D. Salingers Der Fänger im Roggen. Böll hat sich nachweislich intensiv mit Salinger auseinandergesetzt. Zwischen den beiden Romanen lassen sich erstaunliche Parallelen ziehen, insbesondere was die Hauptfiguren Hans Schnier und Holden Caulfield betrifft.
Wirkungsgeschichte
Innerhalb der zeitgenössischen Kritik lassen sich zwei Debatten ausmachen: Die erste, die gleich nach Erscheinen des Romans durch eine Kritik von Marcel Reich-Ranicki angestoßen wurde, ging um die Bewertung von Ansichten eines Clowns als literarischem Werk. Die Meinungen reichten hier von offener Ablehnung bis zu lobender Anerkennung.
Die zweite Debatte, die dem Roman bis heute seine sozialhistorische Bedeutung verleiht, wurde dagegen nicht um die Form, sondern um die Aussage des Werkes geführt: Katholische Kritiker werteten den Roman als antikatholische Hetzschrift und befürchteten eine negative Beeinflussung der Leser. Sie setzten die Aussagen des Clowns meist ungefiltert mit den Überzeugungen des Autors gleich – eine Unterstellung, gegen die sich Böll immer wieder zur Wehr setzte. Die größte Gefahr sahen diese Kritiker in der Möglichkeit, dass Ansichten eines Clowns gar zur Schullektüre werden könnte. Diese Vermutung hat sich bestätigt: Der Roman steht noch heute auf dem Lehrplan für die Oberstufe.
Die wenig sachlich geführte Kontroverse mutet inzwischen befremdlich an. Schon 1985 hat Heinrich Böll in einem Nachwort angemerkt: „Nachgeborene werden kaum begreifen, wieso ein solch harmloses Buch seinerzeit einen solchen Wirbel hervorrufen konnte. Lernen können sie an diesem Buch, wie rasch in unseren Zeiten ein Roman zum historischen Roman wird.“
Über den Autor
Heinrich Böll wird am 21. Dezember 1917 in Köln geboren, wo er erst die katholische Volksschule und anschließend das staatliche Gymnasium besucht. Er beginnt eine Ausbildung zum Buchhändler, wird dann jedoch für ein Jahr zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Kurz nach Aufnahme eines Studiums der Germanistik und der klassischen Philologie wird er 1939 in die Wehrmacht einberufen. Im Krieg wird er mehrfach verwundet. Ab 1944 manipuliert Böll seine Krankheits- und Urlaubsscheine, um nicht mehr an die Front zu müssen. 1945 gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung nimmt er die literarische Arbeit wieder auf und kann 1947 eine erste Erzählung im Rheinischen Merkur veröffentlichen. Buchpublikationen und Rundfunksendungen folgen. In vielen Texten setzt sich Böll mit der NS-Vergangenheit und den gesellschaftlichen Verhältnissen im Deutschland der Nachkriegszeit auseinander. 1951 erhält er den Literaturpreis der Gruppe 47. Bölls kritische Haltung gegenüber der katholischen Kirche in Deutschland schlägt sich in seinem Roman Ansichten eines Clowns nieder, der 1963 erscheint. Ab 1964 hält Böll Vorlesungen an der Goethe-Universität Frankfurt, 1971 wird er zum Vorsitzenden des P.E.N.-Clubs, der internationalen Schriftstellervereinigung, gewählt. 1972, nachdem im Spiegel sein Artikel Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? publiziert wurde, in dem er sich für einen fairen Prozess für Ulrike Meinhof einsetzte, wird Böll als RAF-freundlicher „Ziehvater des Terrorismus“ öffentlich verunglimpft. Im gleichen Jahr erhält er den Literaturnobelpreis. 1974 erscheint sein Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum, eines seiner bekanntesten Werke. 1976 tritt er aus der katholischen Kirche aus. In den folgenden Jahren engagiert er sich in der Friedensbewegung. Heinrich Böll stirbt am 16. Juli 1985 in seinem Haus in Langenbroich. An seiner Beerdigung nehmen viele Prominente teil, unter anderem der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
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