Horaz
Ars Poetica
Reclam, 2011
Was ist drin?
Das Süße mit dem Nützlichen verbinden – Horaz’ Dichtungstheorie.
- Sprache & Kommunikation
- Römische Antike
Worum es geht
Die Geburt der römischen Regelpoetik
Nach dem jähen Ende seiner politischen Karriere hatte Quintus Horatius Flaccus – zu Deutsch „Horaz, das Schlappohr“ – viel Zeit, sich der Dichtkunst zu widmen. Sein Motto: „Carpe diem.“ Doch irgendwann wurde es ihm zu bunt: Zu viele seiner Zeitgenossen produzierten nach seiner Auffassung grottenschlechte Literatur. Und so wurde das Schlappohr zum Schlitzohr: Er griff zur Feder, schrieb ein formvollendetes Briefgedicht über die Dichtung und führte damit die Möchtegernpoeten in einen solchen Irrgarten aus Regeln und Ermahnungen, dass sie nur entmutigt wieder herausstolpern konnten. Die Ars Poetica wurde für Jahrhunderte zu einem der einflussreichsten Texte über die Dichtung und ihre Regeln. Wahrscheinlich aber würde Horaz sich über die zahlreichen vergeblichen Versuche der vergangenen Jahrhunderte amüsieren, ein „Dichten für Dummies“ aus seinem Kunstwerk abzuleiten.
Take-aways
- Horaz’ Briefgedicht Ars Poetica (Die Dichtkunst) ist neben Aristoteles’ Poetik der wichtigste dichtungstheoretische Text der Antike.
- Inhalt: Dichtung sollte harmonisch, einfach, formvollendet sowie dem Stoff und dem Publikum angemessen sein und alles meiden, was unwahrscheinlich, unnatürlich und frevelhaft ist. Ziel ist es, die Menschen zu belehren und zu unterhalten. Der begabte Dichter sollte den alten griechischen Meistern nacheifern, des Übens nicht müde werden und sich von falschen, schmeichlerischen Freunden fernhalten.
- Der römische Lyriker Horaz schrieb den Brief zwischen 23 und 8 v. Chr.
- Horaz wollte, dass sich die politische Größe Roms in der Dichtung widerspiegelte.
- Neben einem Lehrstück ist der Brief auch ein Angriff auf die dilettantischen Modepoeten, die Horaz zutiefst verachtete.
- Er vertrat selbst den Idealtypus des gelehrten Dichters, dem er das wahnsinnige Genie entgegensetzte.
- Die Epistel ist metrisch perfekt, aber scheinbar willkürlich und sprunghaft geschrieben.
- Horaz’ Nachfolger versuchten immer wieder, aus der Ars Poetica eine systematische Poetik abzuleiten.
- Bis zum 18. Jahrhundert blieb das Werk maßgeblich und inspirierte zahllose neue Poetiken.
- Zitat: „Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen.“
Zusammenfassung
Die Grenzen der künstlerischen Freiheit
Maler und Dichter dürfen durchaus ihre Fantasie spielen lassen – doch sollten sie nicht willkürlich zusammenführen, was nicht zusammengehört: Der künstlerischen Freiheit sind durch die natürlichen Vorgaben Grenzen gesetzt. Schlangen paaren sich nicht mit Vögeln, und Lämmer suchen nicht die Gesellschaft von Tigern. Kein Dichter sollte sich bei der Auswahl seines Stoffs überheben. Ein Werk muss geschlossen und einheitlich sein, seine Teile sollen ein harmonisches Ganzes bilden. Wortneuschöpfungen, sparsam angewendet und geistreich aus griechischen Begriffen abgeleitet, sind gestattet. Mit der Sprache ist es wie mit der Natur oder mit vom Menschen erschaffenen Werken: Worte sterben, neue entstehen, und manchmal werden auch längst vergessene Begriffe wiedergeboren.
„Kurz, sei das Werk, wie es wolle, nur soll es geschlossen und einheitlich sein.“ (S. 5)
Ein guter Dichter weiß, welches Versmaß am besten zur Gattung und zum Inhalt passt: Homer hat das ideale Maß für das Heldenepos entwickelt. Und je nachdem, ob man eine Komödie oder eine Tragödie schreibt, muss ein anderes Versmaß gewählt werden. Alles hat seinen Platz, und kein Dichter sollte sich anmaßen, an diesen Gesetzen zu rütteln. Für beide Dramengattungen gilt: Hohle Worthülsen und ellenlange, pathetische Formulierungen lassen die Zuschauer in der Regel kalt. Je schlichter, emotionaler und erlebnisnaher die Sprache ist, desto eher bringt sie die Menschen zum Lachen und Weinen. Ebenso wie das Versmaß müssen auch die Worte zum Inhalt passen. So gehören zornige Worte zu einer drohenden Miene und scherzende zu einem schelmischen Gesichtsausdruck. Zuerst kommt das Gefühl, dann die Sprache. Stehen diese Aspekte nicht miteinander im Einklang, wird man vom Volk nicht ernst genommen.
Die Psychologie der Charaktere
Die Zuschauer erwarten, dass Figuren sich ihrer Herkunft entsprechend verhalten und auch so reden: Eine dominante Herrin spricht anders als ihre fleißige Amme, und die Worte des Assyrers unterscheiden sich von denen des Thebaners. Aus der Sagenwelt bekannte Figuren soll der Dichter nicht neu erfinden: Achill muss so rastlos und jähzornig bleiben, wie er einst erschaffen wurde. Neue, dem Publikum unbekannte Charaktere müssen die Bühne so verlassen, wie sie sie betreten haben. Grundsätzlich ist es besser, Bekanntes und Bewährtes wie die Dichtung von Troja in veränderter, origineller Form auf die Bühne zu bringen, als das Rad neu erfinden zu wollen. Der unübertroffene Homer mied weitschweifige Einleitungen und Umwege und führte stattdessen mitten hinein ins Geschehen. Seine Geschichten folgen einer raschen, unwiderstehlichen Erzähllogik: Am Anfang steht der unscharfe Qualm, durch den langsam das Licht der Ereignisse bricht – und nicht etwa umgekehrt, wie es die schlechtesten Dichter versuchen.
„Immer schon war es erlaubt und wird auch immer erlaubt sein, Wörter, vom Stempel der Gegenwart geprägt, in Umlauf zu setzen.“ (S. 7)
Jede Altersgruppe hat ihre Besonderheiten: Knaben sind impulsiv und spielerisch, bartlose Jünglinge sorglos, verschwenderisch und lasterhaft, Männer im gesetzten Alter knüpfen und pflegen für ihren Erfolg wichtige Beziehungen und scheuen übereilte Entscheidungen, während die Greise oft zögerlich und furchtsam sind, vergangene Zeiten preisen und die verderbten Sitten der Jugend beklagen. Altersbedingte Eigenschaften sind universal. Deshalb sollte man etwa niemals einem Jüngling greisenhafte Züge verpassen.
Die Gesetze der Bühne
Es liegt in der Natur des Theaters, dass Ereignisse entweder vor den Augen der Zuschauer stattfinden oder nacherzählt werden müssen. Freilich ist immer das glaubwürdiger, was die Menschen mit ihren eigenen Augen bezeugen können. Doch es gibt vieles, was man besser nicht auf die Bühne bringt: Wenn Medea ihre Kinder ermordet, Atreus menschliche Eingeweide kocht oder sich Figuren in Vögel und Schlangen verwandeln, dann sollte man die Erzählung bevorzugen. Der Versuch einer Darstellung wäre unglaubwürdig.
„Wie die Bäume mit ihren Blättern zur Jahresneige sich wandeln, ihre ersten abfallen, so sterben auch Wortveteranen, so blühen eben geborene Wörter und sind kräftig wie Jünglinge.“ (S. 9)
Ein Drama hat immer fünf Akte – wer diese Regel verletzt, verliert sein Publikum. Ein Gott als Retter sollte spärlich eingesetzt werden: Er darf nur dann vom Theaterhimmel herabschweben, wenn sich der tragische Knoten nicht anders auflösen lässt. Der Chor, begleitet von leiser Flötenmusik, verfolgt das Ziel, die Zuschauer moralisch zu erbauen. Er steht mit seinen Gesängen zwischen den Akten immer aufseiten der Guten, beruhigt die Erregten und beschwört die Götter, sie mögen den Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Eine Gattung für jeden Geschmack
Die Sehgewohnheiten eines Volks ändern sich, je weiter es auf dem Weg der kulturellen Entwicklung voranschreitet. Wenn selbst die armen Bauern an ihren freien Tagen ins Theater strömen, dann müssen sich die Dichter etwas Neues einfallen lassen, um auch die derberen Geschmäcker zu befriedigen. Das Satyrspiel verkehrt den Ernst einer Tragödie ins Komische, ist aber immer eine Gratwanderung zwischen harmlosem Klamauk und böser Satire der ehrwürdigen Tragödie. Die Faune sollten im Satyrspiel eine eigene, neue Sprache finden – schließlich kommen sie aus den Wäldern und dürfen nicht die Worte der ehrenhaften Bürger imitieren oder ehrlose Witze reißen. Die vornehmen Städter und Ritter könnten daran Anstoß nehmen und den Triumph des Verfassers im Dichterwettbewerb vereiteln.
„Es genügt nicht, dass Dichtungen schön sind; sie seien gewinnend, sollen den Sinn des Hörers lenken, wohin sie nur wollen.“ (S. 11)
Gerade den römischen Dichtern werden oft grobe Kompositionsfehler verziehen, und nicht jeder Kunstrichter hat ein Gespür für Metrik oder vermag es, Geschmacklosigkeiten von geistreichen Witzen zu unterscheiden. Die Begeisterung unserer Vorväter für einen minderwertigen Dichter wie Plautus ist dafür ein gutes Beispiel. Dabei genügt ein Blick auf die griechischen Vorbilder, um die wahren Meister zu erkennen. Man sagt, dass Thespis die Tragödie erfunden und Aischylos ihr die Masken, die langen Schauspielgewänder und die erhabene Sprache hinzugefügt habe. Einige römische Dichter versuchen, den von den Griechen gegangenen Weg zu verlassen, um die eigenen Helden und Taten zu feiern, mit Tragödien über römische Kriegsgeschichte etwa oder Komödien über das römische Alltagsleben. Doch dabei sollten Sie mehr Sorgfalt und Liebe fürs Detail an den Tag legen. Gute Dichtung sollte zehnmal gekürzt, poliert, geprüft und korrigiert werden, damit sie diesen Namen verdient.
Die richtige Einstellung
Die Faulenzer berufen sich auf Demokrit, der göttliche Inspiration, Genie und einen Hang zum Wahnsinn als Voraussetzung für echte Meisterwerke sah. Sie lassen sich Bart, Haupthaar und Fingernägel wachsen, ziehen sich in die Einsamkeit zurück und meiden die Bäder. Doch der erhoffte Ruhm ist es nicht wert, ein solches Leben zu führen. Horaz selbst würde unter diesen Umständen wohl die besten Gedichte von allen schreiben, doch dieser Preis ist ihm zu hoch. Da betätigt er sich lieber als eine Art Schleifstein, der das Eisen schärft, der aber selber nicht schneidet, und zwar indem er junge Dichter fördert und bildet und ihnen die wahre Meisterschaft vor Augen führt.
„Mit den Lachenden lacht, mit den Weinenden weint das Antlitz des Menschen. Willst du, dass ich weine, so traure erst einmal selbst (...)“ (S. 11)
Die Quelle dichterischen Könnens ist die tugendhafte Einstellung, wie sie in den sokratischen Schriften beschrieben wird. Wer gelernt hat, sein Vaterland und den eigenen Vater zu lieben, sein Amt pflichtbewusst auszuüben, gastfreundlich und tapfer zu sein, der wird sich von vorbildlichen Charakteren zu großen Werken leiten lassen. Oft fesselt ein Stück auch ohne kunstvolle Inszenierung und großes Pathos, wenn es allgemeine Wahrheiten ausspricht und edle Charaktere zeigt. Selbst die klangvollsten Verse sind wirkungslos, wenn ihnen die moralische Substanz fehlt.
Nutzen und Vergnügen vereint
Die Muse hat den ruhmsüchtigen Griechen Talent im Umgang mit der Sprache verliehen. Römische Knaben mühen sich mit endlosen Zahlenreihen und mathematischen Problemen ab. Dabei sollten sie sich in jungen Jahren mit den schönen Künsten beschäftigen. Wenn ihre Geister erst einmal eingerostet sind und sie nur noch an die Anhäufung von Vermögen denken, ist es zu spät.
„Rollt nur die griechischen Muster auf mit fleißiger Hand bei Nacht und bei Tage!“ (S. 21)
Dichter wollen dem Publikum nutzen oder ihm Freude bereiten. Wenn sie es ermahnen, sollten sie sich kurzfassen – nur so bleibt die Moral im Kopf der Menschen hängen. Wenn sie das Publikum unterhalten, sollten sie möglichst nah bei der Wahrheit bleiben, sonst verlieren sie das Vertrauen der Zuschauer. Am meisten Zuspruch aus allen Schichten und Altersklassen erhält der Dichter, der Belehrung und Unterhaltung in einem Werk vereint. Es kommt gar nicht darauf an, in jeder Hinsicht Perfektion zu erreichen, wenn der Gesamteindruck stimmt. Kein Musiker trifft immer den Ton und kein Schütze jedes Mal ins Ziel. Allerdings darf man einen Autor auf einen Fehler hinweisen und erwarten, dass er es beim nächsten Mal besser macht. Ansonsten gibt er sich der Lächerlichkeit preis.
Dichtung als Gemälde
Dichtung hat viel mit der Malerei gemein: Das eine Werk ist aus der Nähe betrachtet schöner, das andere wirkt besser aus der Ferne; es gefällt nur auf den ersten Blick oder auch noch nach dem zehnten. Ein Rechtsgelehrter kann sich Mittelmäßigkeit erlauben, ohne gleich seinen Beruf aufgeben zu müssen. Den Dichtern aber haben die Menschen, Götter und Marktgesetze die Mittelmäßigkeit verboten. Niemand braucht ihre Kunst unbedingt. Fehlt es ihr an Harmonie, dann verdirbt sie einem die Laune, ähnlich wie ein Musikerensemble, das nur schiefe Töne hervorbringt. Jeder Wettkampfsportler hält sich von den Disziplinen, die er nicht beherrscht, lieber fern. Doch wenn es um die Dichtung geht, glaubt jeder beliebige Freigeborene, sich an ihr vergehen zu dürfen.
„Den Griechen verlieh die Muse Talent, den Griechen, gerundeten Mundes zu sprechen, ihnen, die nach nichts außer nach Ruhm süchtig sind.“ (S. 25)
Deshalb wird dringend davon abgeraten, sich der eigenen Natur zu widersetzen. Wer etwas schreiben will, der lasse sich von sachverständigen Leuten beraten. Und anschließend sollte das Werk neun Jahre lang unter Verschluss bleiben, bevor man sich zur Publikation entscheidet. Denn die Worte, die man einmal von sich gegeben hat, lassen sich nicht mehr zurücknehmen.
Übung macht den Dichter
Die Künste haben die menschliche Zivilisation von Anfang an begleitet. Sie gingen Hand in Hand mit der Herausführung der Menschheit aus dem Zustand der Wildheit, der Einführung von Ehe und Gesetzen, dem Bau von Städten, der Anbetung der Götter und der Entwicklung der Kriegskunst. Was aber macht den besseren Dichter aus – Naturtalent oder regelmäßiges Üben? Weder noch, denn das eine ist ohne das andere wertlos. Die beiden Faktoren befruchten einander und sollten eine Freundschaft auf Lebenszeit eingehen. Schließlich muss ein Wettläufer von klein auf hart trainieren, um irgendwann die Siegerkrone zu erlangen, und ein Flötist lange üben, um Musikwettbewerbe zu gewinnen. Nur der Dichter erdreistet sich, die eigene Herrlichkeit zu preisen, noch bevor er sie irgendjemandem hat beweisen können.
„Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen.“ (S. 25)
Besonders arg treiben es die Reichen, die sich ihre Schmeichler erkaufen können. Wenn sie etwa Bürgschaften für arme Schlucker übernehmen und deren Schulden bezahlen, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Beschenkten vor Begeisterung über die Verse ihres Gönners erbleichen, heulen, hüpfen und mit den Füßen stampfen. Es heißt, dass Könige Menschen betrunken machen, um echte von falschen Freunden zu unterscheiden. Dichter haben ein solches Vorgehen nicht nötig, denn hier ist es mehr als offensichtlich, wenn jemand eine üble Gesinnung hat: Den untadeligen, sachverständigen und nicht korrumpierbaren Richter erkennt man daran, dass er Verbesserungen vorschlägt und Widerworte nicht gelten lässt. Er wird als echter Freund kunstwidrige und plumpe Verse kritisieren, Unnützes kürzen und Missverständliches zu klären versuchen, um so dem Dichter zukünftige Demütigungen und Niederlagen zu ersparen.
Wie rasende Bären
Jeder vernünftige Mensch meidet den wahnsinnigen Dichter wie einen Aussätzigen. Selbst wenn dieser ernsthaft in Not gerät, so wird ihm kaum jemand zu Hilfe kommen. Und falls doch einer Erbarmen in sich spüren sollte, so kann man von einer Einmischung nur abraten. Denn wer weiß, ob der Fanatiker sich nicht absichtlich in die missliche Lage gebracht hat? Der sizilianische Dichter und Naturphilosoph Empedokles sprang schließlich auch in den glühend heißen Ätna, nur damit man ihn für einen unsterblichen Gott halte. Sollen die besessenen Genies doch zugrunde gehen. Man muss sich fragen, warum sie überhaupt Verse ausspucken. Etwa um das Erbe ihrer Väter zu besudeln? So einer ist gefährlich wie ein rasender Bär, der aus dem Käfig ausgebrochen ist und jeden, der ihm begegnet, verjagt. Wen er aber erwischt, den bringt er durch Vorlesen seiner ungenießbaren Werke schier um.
Zum Text
Aufbau und Stil
Das Briefgedicht Ars Poetica lässt sich inhaltlich in zwei Teile gliedern: Im ersten erläutert Horaz seine Ansprüche an die Dichtung, im zweiten jene an den Dichter. In seinen 476 Gedichtversen führt er selbst vor, was er von anderen verlangt: Im klassischen Versmaß der griechisch-lateinischen Dichtung, dem Hexameter, vereint er konsequent den Inhalt mit der Form und kontrastiert beides mitunter ironisch. So beginnt er z. B. mit der Beschreibung eines surrealen Gemäldes, in dem der Kopf einer schönen Frau auf dem Hals eines Pferdes steckt, der in einen Fischkörper übergeht – ein Beispiel für unstimmige, verfehlte Kunst; und im Folgenden liefert er selbst ein Sammelsurium scheinbar zusammenhangloser Gedanken. Einen roten Faden sucht man vergeblich. Stattdessen spaziert Horaz launisch zwischen Dichtungstheorie, Kollegenschelte, Gesellschaftsanalyse und Küchenpsychologie hin und her, setzt mit lebendigen Bildern und Metaphern farbige Akzente und ist sich für keinen praktischen Ratschlag zu schade. Wenn man die originallateinischen Verse deklamiert, lässt sich deren geniale Knappheit und musikalische Eleganz erahnen – ebenso wie die Aussichtslosigkeit einer angemessenen Übersetzung.
Interpretationsansätze
- Die Ars Poetica formuliert einen Großteil der klassischen Grundsätze der Dichtung: Anzustreben sind Einfachheit („simplicitas“) und Angemessenheit („aptitudo“) der Darstellung sowie eine Harmonie des Ganzen. Der Dichter soll als „kundiger Nachahmer“ die Realität abbilden und Form und Inhalt miteinander in Einklang bringen.
- Viele dieser Maximen fanden sich schon in Aristoteles’ 300 Jahre zuvor verfasster Poetik, die Horaz vermutlich kannte. Neu war hingegen die Forderung, Dichtung solle unterhalten und belehren, „Süßes und Nützliches“ („utile dulci“) verbinden. Auch die Dramentheorie der fünf Akte taucht erstmals bei Horaz auf.
- Horaz vertrat selbst den Idealtypus des gelehrten Dichters (Poeta doctus), der die griechischen Meister studiert und imitiert, unermüdlich an seiner Kunst feilt. Dem setzte er die verabscheuungswürdigen Antitypen des einsamen, wahnsinnigen Genies und des reichen, ruhmsüchtigen Dilettanten entgegen.
- Um Letztere von ihren peinlichen Ergüssen abzuhalten, habe Horaz seine Leser absichtlich an der Nase herumgeführt, so die Theorie des Aufklärers Christoph Martin Wieland: Die scheinbare Unordnung der Ars Poetica ist nach dieser Lesart ein subtiler Trick zur Abschreckung von Möchtegernliteraten. Wenn das stimmt, sind nicht wenige Literaten und Kritiker bei ihrer Suche nach einer Systematik der Dichtung dem Schlitzohr Horaz auf den Leim gegangen.
- Die Römer waren Meister in der kreativen Aneignung der Leistungen anderer: Als einziges Volk in der Antike verehrten sie die alten Griechen nicht nur, sondern reproduzierten deren Werke auch in ihrer Sprache und kleideten sie neu ein. Auch Horaz ermahnte seine Leser in der Ars Poetica zum Studium der Alten. Paradoxerweise tat er dies aber in einer eigenen literarischen Neuschöpfung: der poetischen Epistel.
- Die Ars Poetica ist eher als praktischer Leitfaden denn als abstraktes Manifest zu verstehen: Horaz vertrat eine lebensnahe, vom Epikureismus beeinflusste Philosophie. Von den Menschen erwartete er nicht mehr, als dass sie gemäß ihren Fähigkeiten dazu beitrugen, das Zusammenleben auf Erden harmonisch zu gestalten – und die Literatur sollte sie zu einem tugendhaften, beschaulichen und konfliktarmen Leben erziehen.
Historischer Hintergrund
Kunst als Staatspropaganda
Drei Jahrzehnte vor Christi Geburt hörte die römische Republik faktisch auf zu bestehen: Oktavian, der Großneffe und Ziehsohn des 44 v. Chr. ermordeten Caesar, riss alle Macht an sich und ließ sich zum Kaiser Augustus ausrufen. Zwar bereitete diese Entwicklung vielen überzeugten Republikanern Bauchschmerzen, doch das Chaos aus der Zeit vor Augustus hatten die Römer gründlich satt. In den 100 Jahren seit 133 v. Chr. hatten über ein Dutzend Bürgerkriege das Land verwüstet und gespalten. Die Reichen waren immer reicher und die Armen immer ärmer und zahlreicher geworden, sodass Letztere willige Opfer machthungriger Politiker wurden, die sie mit „Brot und Spielen“ bestechen konnten. Augustus unternahm einige innenpolitische Reformen, um den größten Missständen ein Ende zu setzen: Der Aufbau eines bezahlten Beamtenapparats und eines stehenden, besoldeten Heers gehörten ebenso dazu wie der – wohl missglückte – Versuch, seine Untertanen per Gesetz zu mehr Sittenstrenge, ehelicher Treue und Moral zu zwingen. Gleichzeitig nahm er als begnadeter Meister der Propaganda die Kunst in seinen Dienst: Die größten Architekten des Reichs errichteten zu seinen Ehren Prachtbauten, Bildhauer verewigten ihn, einen in Wahrheit eher kränklichen Mann, in gottgleicher Schönheit, und Dichter wie Horaz, Properz, Ovid und Vergil sangen ihm bestellte Heldenlieder. Augustus sagte einmal, er habe Rom als Stadt aus Backstein vorgefunden und hinterlasse sie als Stadt aus Marmor. Tatsächlich ließ er das Bild von sich selbst als stattlichem, treusorgendem und gütigem Heilsbringer so oft in Stein meißeln und auf Papyrus und Pergament verewigen, dass für abweichende Deutungsmuster kein Platz blieb.
Entstehung
Wie viele Adlige seiner Zeit versuchte auch Augustus sich als Tragödienschreiber, gab aber frühzeitig auf und scherzte, dass sein Ajax nicht, wie das mythische Original, ins Schwert gestürzt, sondern in den Schwamm gefallen sei – weil man mit Schwämmen Tinte löschte. Horaz’ strenges Urteil blieb ihm so erspart. Dieser verachtete nämlich die schreibenden Dilettanten und Modepoeten seiner Zeit, die sich seiner Ansicht nach an der lateinischen Sprache versündigten. Und so versuchte er, vor allem die Gattung des seit Jahrzehnten vernachlässigten Dramas im Sinn der augusteischen Kunstideale zu erneuern (ohne freilich selbst je eines zu verfassen): Die politische Größe Roms sollte sich endlich in seiner Dichtung widerspiegeln.
Ursprünglich war das Briefgedicht, das heute als Ars Poetica berühmt ist, schlicht nach seinen Adressaten benannt: Der „Brief an die Pisonen“ richtete sich an die Familie von Lucius Calpurnius Piso, einem einflussreichen Politiker der späten römischen Republik. Im Brief griff Horaz vermutlich einige Thesen aus dem verlorenen Traktat des griechischen Theoretikers Neoptolemos von Parion (drittes Jahrhundert v. Chr.) auf. Über die genaue Datierung der Epistel sind die Experten uneins: Einige vermuten die Jahre 23–18 v. Chr. als Entstehungszeit, andere 14–8 v. Chr. Vieles in der Epistel deutet darauf hin, dass es sich um das Alterswerk eines gesetzten, lorbeergekrönten Nationaldichters handelt. Horaz schrieb keine Lyrik mehr. Nach Angaben des römischen Klatschbiografen Sueton blieb er bis zehn Uhr morgens in seinem mit Spiegeln umstellten Bett liegen. Eine Stellung als Privatsekretär des Augustus soll er dankend abgelehnt haben. Horaz sah sich nunmehr als freidenkerischer Kritiker und Lehrmeister seiner Zunft. Zwar nannte er sich selbst ein „Schwein aus der Herde des Epikur“, er wollte jedoch keinem Meister „blinden Gehorsam“ erweisen.
Wirkungsgeschichte
Der Rhetoriklehrer Quintilian verpasste dem Pisonenbrief im Jahrhundert nach seiner Entstehung als Erster den programmatischen Titel De Arte Poetica – und trieb damit ganze Hundertschaften von Literaturtheoretikern in die Verzweiflung, die keine systematische Poetik in der launischen Plauderei entdecken konnten. Der Dichter und Humanist Julius Caesar Scaliger gab dahingehende Bemühungen 1561 entnervt auf: „Horaz trägt seine so betitelte ,Kunstlehre‘ so kunstlos vor, dass seine ganze Schrift eher eine Satire zu sein scheint.“ Dennoch galt die Ars Poetica bis zum 18. Jahrhundert noch vor Aristoteles’ Poetik als kanonische, antike Poetologie und wurde zum Vorbild für die Gattung der epistolaren Poetik.
„Ich habe mir ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz“, pries der nicht eben uneitle Horaz das eigene Werk, und erhielt 1900 Jahre später Zuspruch von einem anderen Größenwahnsinnigen: „Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine horazische Ode gab“, schrieb Friedrich Nietzsche in der Götzendämmerung. Heute gilt Horaz als bedeutendster Lyriker der lateinischen Sprache. Mit seinem weltberühmten Motto „Carpe diem“ prägte er die Popkultur und die Abreißkalender- und Selbsthilfeindustrie des 20. und 21. Jahrhunderts wie kein anderer Römer vor oder nach ihm.
Über den Autor
Horaz wird am 8. Dezember 65 v. Chr. in der süditalienischen Stadt Venusia geboren. Sein Vater – ein freigelassener Sklave, der es zu Wohlstand gebracht hat – investiert viel in die Erziehung seines begabten Sohnes und begleitet ihn nach Rom, wo er die renommierte Rednerschule des Grammatikers Orbilius besucht. Mit 19 Jahren geht Horaz nach Athen, um an der Platonischen Akademie Philosophie und Literatur zu studieren. Nach der Ermordung Caesars im März 44 v. Chr. schließt er sich in Athen dem Caesarmörder Brutus an, der dort unter jungen Römern Mitkämpfer für die „Freiheit der Republik“ rekrutiert. Horaz wird Militärtribun, doch nach der Niederlage bei Philippi ist seine militärisch-politische Karriere beendet, der ererbte Besitz wird enteignet. Horaz erkauft sich eine anspruchslose Sekretärsstelle im Schatzamt und beginnt zu schreiben. Vergil wird auf sein Werk aufmerksam und macht ihn mit dem einflussreichen Kunstförderer und Augustus-Vertrauten Maecenas bekannt. Dieser schenkt Horaz ein Landgut in den Sabinerbergen, das dem Dichter ein zurückgezogenes und wirtschaftlich gesichertes Leben ermöglicht. In den ersten Jahren entstehen die Satiren und Epoden, in denen Horaz vorsichtig die verdorbenen Sitten seiner Zeit anprangert. Es folgen die Oden, lyrische Gedichte nach dem Vorbild der griechischen Lieddichtung, in denen Liebe, Freundschaft, Politik und Philosophie besungen werden. In den Episteln legt er seine Lebens- und Moralphilosophie dar und betätigt sich als Literaturkritiker. Der längste Brief ist heute unter dem Namen Ars Poetica (Die Dichtkunst) bekannt. Horaz wandelt sich im Lauf seines Lebens von einem stürmischen Republikaner zum konservativen Parteigänger des Augustus, der als Poeta laureatus Festlieder für offizielle Staatsanlässe verfasst. Er stirbt am 27. November 8 v. Chr., wenige Monate nach dem Tod seines Mäzens.
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