Herta Müller
Atemschaukel
Fischer Tb, 2018
Was ist drin?
Wie poetisch darf Lagerliteratur sein? Herta Müllers Nobelpreisroman gibt eine Antwort.
- Roman
- Gegenwartsliteratur
Worum es geht
Das Trauma des Lagerlebens
Ursprünglich hatten Herta Müller und Oskar Pastior ein gemeinsames Buch geplant. Doch dann starb Pastior 2006, und Herta Müller beschloss, den Roman allein zu schreiben. Als Grundlage für ihre Erzählung von einem jungen Rumäniendeutschen, der 1945 nach Russland deportiert und dort interniert wird, dienten ihr Pastiors Aufzeichnungen aus seiner Zeit in einem sowjetischen Arbeitslager. Auch Herta Müllers Mutter war, wie Zehntausende Rumäniendeutsche, am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Russland verschleppt worden, worüber in der Familie allerdings nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. In einer ästhetisierenden Sprache, die die gewohnte Wahrnehmung aufbricht, schildert Herta Müller anschaulich den allgegenwärtigen Hunger, die Entbehrungen und Schikanen durch Lageraufseher. Ihr Roman Atemschaukel, für den sie 2009 den Literaturnobelpreis erhielt, führt vor Augen, wie Menschen im Lager ihrer Würde und Werte beraubt werden und moralisch verwahrlosen. Auf poetische, dabei höchst präzise Weise zeigt er zudem die traumatischen Folgen von Verschleppung und Unterdrückung.
Take-aways
- Atemschaukel ist der wohl bekannteste Roman der Schriftstellerin Herta Müller.
- Inhalt: 1945 wird der 17-jährige Rumäniendeutsche Leo Auberg in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert. Als Häftling und Zwangsarbeiter durchlebt er quälenden Hunger, Willkür und Entbehrungen. Allmählich passt er sich dem Lagerleben an. Als er fünf Jahre später entlassen wird, sind ihm die Welt und die alte Heimat fremd geworden.
- Herta Müller stützt sich auf Schilderungen ihrer Mutter und anderer Augenzeugen, vor allem aber auf die Lagererfahrung ihres Schriftstellerkollegen und Freundes Oskar Pastior.
- Ursprünglich planten Pastior und Müller ein gemeinsames Buch, doch nach Pastiors plötzlichem Tod 2006 schrieb Müller es allein.
- Nach dem Konzept der „Autofiktionalität“ vermischt Müller Erlebtes und Erdachtes.
- Ihre Sprache ist poetisch, ihr Stil reich an Bildern und Metaphern.
- Die Natur, Gegenstände und der allgegenwärtige Hunger werden personifiziert.
- 2009 erhielt Herta Müller für Atemschaukel den Literaturnobelpreis.
- Kritiker warfen ihr vor, das Lagergrauen poetisch zu überhöhen.
- Zitat: „Ich halte die Balance, die Herzschaufel wird zur Schaukel in meiner Hand, wie die Atemschaukel in der Brust.“
Zusammenfassung
Erinnerung wider Willen
Januar 1945 – noch herrscht Krieg. Der 17-jährige Rumäniendeutsche Leo Auberg soll aus dem rumänischen Hermannstadt in ein russisches Lager deportiert werden. Alle Verwandten haben ihm etwas mitgegeben: einen Mantel, Gamaschen, Handschuhe, einen Seidenschal, ein Necessaire. Leo hat keine Angst. Der Wegzug aus der Kleinstadt, in der er sich ständig beobachtet fühlt und wo er fürchten muss, dass seine heimlichen Rendezvous mit älteren Männern ans Tageslicht gelangen, kommt ihm sogar gelegen. Auch der Abschied von der Familie, die der nationalsozialistischen Ideologie anhängt und sich, als Siebenbürger Sachsen, der arischen Rasse zugehörig fühlt, fällt ihm nicht schwer. Er hofft, an einen Ort zu kommen, wo ihn niemand kennt. Nach rund zweiwöchiger Zugfahrt in einem Viehwaggon erreicht Leo zusammen mit anderen Deportierten – überwiegend Deutsche – das Lager irgendwo in der russischen Steppe. Hunger und Frost, Hitze und Läuse, schwere Arbeit in Fabriken oder auf Baustellen und ständige Angst vor den Schikanen der Aufseher gehören zum Alltag.
„Alles, was ich habe, trage ich bei mir. Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.“ (S. 7) “
60 Jahre nach der Entlassung aus dem Lager, in dem er fünf Jahre seines Lebens verbracht hat, versucht Leo sich an Einzelheiten zu erinnern, auch wenn er das alles lieber vergessen würde. Doch Gegenstände, die er damals besaß, wie eine Zahnbürste oder ein Kamm, suchen ihn nachts heim, rauben ihm den Schlaf und versetzen ihn zurück ins Lager.
Hunger, Kälte und Todesangst
Neben dem chronischen Hunger, Heimweh und Langeweile quält Leo im Lager eine Verwandlung, die er an sich selbst beobachtet: Infolge der ständigen Beschimpfungen und Schläge ist er innerlich stur und schwermütig geworden, nach außen dagegen unterwürfig und feige. Er hegt Misstrauen gegen seine Mithäftlinge, denen er wider besseres Wissen unterstellt, sie würden sich bei der schweren körperlichen Arbeit auf der Baustelle schonen oder ihn ausnutzen. Ständig muss er Zementsäcke schleppen. Der Zementstaub setzt sich überall fest, kriecht ihm in die Poren, und schließlich meint er, er selbst sei aus Zement.
„Ich muss mich erinnern gegen meinen Willen. Und auch wenn ich nicht muss, sondern will, würde ich es lieber nicht wollen müssen.“ (S. 34)
Im Frühjahr und im Sommer sammeln die Lagerinsassen auf den Schutthallen Meldekraut, das sie auf Feuerstellen kochen. Nach der Arbeit gehen sie manchmal im Dorf hausieren. Oft werden sie abends qualvollen Appellen unterzogen, bei denen sie stundenlang stillstehen müssen. Pro Baracke gibt es 68 Pritschen. Einige Lagerinsassen genießen Privilegien, etwa der Ukrainer Tur Prikulitsch, ein Adjutant der Lagerleitung, oder Prikulitschs Freundin Bea Zakel, die in der Wäscheausgabe arbeitet und einen Mantel und Lederschuhe trägt.
„Ich halte die Balance, die Herzschaufel wird zur Schaukel in meiner Hand, wie die Atemschaukel in der Brust.“ (S. 82) “
Bei eisiger Kälte, bekleidet nur mit Latschen aus Holz und Segeltuch und mit Watteanzügen, die sich mit Regen und Schnee vollsaugen, schleppen die Lagerinsassen halb verhungert schwere Zementsäcke. Als Irma Pfeifer aus ungeklärten Gründen in eine Mörtelgrube fällt, werden die anderen daran gehindert, sie zu retten. Die Aufseher behaupten, Irma sei hineingesprungen. Mit stillem Entsetzen beobachten die Insassen, wie Irma im Mörtel versinkt.
„Der Hungerengel sagte: Speichel macht die Suppe länger, und früh Schlafengehen macht den Hunger kürzer.“ (S. 111)
Einmal werden die Lagerinsassen mitten in der Nacht geweckt. Sie müssen sich hinter einem Fabrikgebäude aufstellen. Alle sind überzeugt, dass sie erschossen werden. Zwischen Todesangst und betörenden Visionen von seinem Begräbnis erinnert sich Leo daran, was seine Großmutter zu ihm gesagt hat, als er abgeholt wurde: „Ich weiß, du kommst wieder.“ Als sich herausstellt, dass die Insassen mit Hacken Löcher in den gefrorenen Boden schlagen sollen, ist Leo erleichtert. Hungern und frieren und schuften ist immer noch besser als sterben.
Das beherrschende Thema Essen
Brot ist im Lager das kostbarste Gut. Jeden Morgen gilt es, sich zu entscheiden, ob man die spärliche Tagesration sofort isst oder ob man sich einen Teil für den Abend aufhebt. Wer es schafft, standhaft zu bleiben, bewahrt sein Brot unter dem Kopfkissen auf. Eines Abends nach der Arbeit entdeckt Albert Gion, dass seine fünf aufgesparten Brotstückchen weg sind. Er verdächtigt Karli Halmen als Brotdieb und schlägt ihm ein paar Zähne aus. Auch einige der anderen Barackenbewohner, unter ihnen Leo, beteiligen sich an der brutalen Strafaktion. Sie schleppen den blutenden Karli nach draußen und pinkeln ihm ins Gesicht. Leo spürt, wie der Hunger ihm den Verstand und jegliche Moralität raubt.
„Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.“ (S. 116)
Das beherrschende Thema im Lager ist Essen. Alle reden übers Essen, die Frauen noch mehr als die Männer, und sie erzählen sich Kochrezepte wie Witze. Manchmal geht Leo nach der Arbeit in die Frauenbaracke zu Trudi Pelikan, die wie er aus Hermannstadt kommt. Dann sitzen sie auf ihrem Bett und er erzählt von Urlaubstagen mit seiner Mutter, als er essen durfte, was er wollte. Alle lauschen ihm gebannt. Danach stellen sie sich zum Essenfassen an, löffeln schweigend ihre wässrige Suppe aus dem Blechgeschirr. Jeder hat seine eigene Methode, die Suppe zu strecken. Leo isst langsam, zwingt sich, die Löffel nicht zu zählen, und schluckt zwischendurch Speichel, um sich vorzumachen, er würde mehr essen.
Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten
Als Leo eines Tages wieder im Dorf hausieren geht, lädt ihn eine alte Frau in ihr Haus ein. Sie gibt ihm Kartoffelsuppe und schenkt ihm ein weißes Taschentuch. Ihr Sohn ist in einem sibirischen Lager interniert und Leo spürt: Was sie ihm Gutes tut, tut sie eigentlich für ihren Sohn. Er fühlt sich überfordert damit, noch ein anderer sein zu müssen, da es für ihn ja schon eine Last ist, er selbst zu sein. Das Taschentuch, das ihm so gute Dienste leisten könnte, und sei es nur als Tauschobjekt, benutzt er nicht. Er bewahrt es als eine Art Reliquie in seinem Koffer auf. Er glaubt, dass das Taschentuch der Ding gewordene Satz seiner Großmutter ist: „Ich weiß, du kommst wieder.“ Er sieht in ihm gar seinen einzigen Verbündeten im Lager.
„Die Klarheit ist groß: 1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot.“ (S. 144)
Die Lagerinsassen haben einen nüchternen Umgang mit den Gestorbenen gelernt. Noch bevor die Totenstarre eintritt, ziehen sie ihnen die Kleidungsstücke aus, und sie essen das Brot, das diese sich angespart haben. Bei allem Eigennutz herrscht im Lager jedoch ein Tabu: Die schwachsinnige Planton-Kati, die zu keiner Arbeit herangezogen werden kann, an der jeder Befehl abprallt und die in ihrer Einfalt die Herrschenden lächerlich erscheinen lässt, darf keiner betrügen. An ihr machen die Lagerinsassen wieder gut, was sie sich gegenseitig antun.
Resignation und Gleichgültigkeit
Einmal findet Leo auf einem Tauschbasar einen Zehnrubelschein, den er für Essen und Trinken ausgibt. Auf dem Rückweg erbricht er sich unter Tränen – das ganze kostbare Essen ist verloren und sein Magen wieder leer. Er erkennt: Das Lager ist sein Zuhause, es sorgt für ihn. Der Wachposten winkt ihn herein, er findet den Weg zu seiner Baracke. Er braucht keinen Freigang und kein zusätzliches Essen, ja nicht einmal sich selbst, sondern nur sein Bettgestell und seine dünne Suppe und das tägliche Stück Brot. Die Arbeit hält ihn am Leben: Ein Schaufelhub entspricht einem Gramm Brot.
„Hungerwörter, also Esswörter, beherrschen die Gespräche, und man bleibt doch allein. Jeder isst seine Wörter selbst.“ (S. 158) “
Beim Tanzabend muss Trudi Pelikan sitzen bleiben. Seit ihre Zehen erfroren und amputiert worden sind, kann die einst so elegante und damenhafte junge Frau nur noch auf Fersen laufen. Während die Musiker Seemanns- und Heimatlieder spielen, erzählt Trudi von der Krankenbaracke, wo sie jetzt arbeitet: von den unterschiedlichen Krankheiten und den verschiedenen jahreszeitlichen Wellen, in denen die Menschen sterben. Sie warnt Leo davor, im Winter zu sterben: Die Leichen werden im Hof gestapelt, bis sie gefroren sind, und anschließend zerhackt und in Löchern vergraben, damit man keine Gräber schaufeln muss.
„Wenn man nur Haut und Knochen ist, sind Gefühle tapfer. Ich bin lieber feig. Der Unterschied ist minimal, ich nutze meine Kraft, um nicht zu weinen.“ (S. 190)
Leo weiß, dass viele, die er vom Sehen kannte, gestorben sind. Aber wenn sie nicht vor seinen Augen gestorben sind, sind sie für ihn nicht tot. Er will lieber nicht wissen, wo sie geblieben sind, sonst wächst nur seine Angst. Sofern es sich nicht um Bekannte handelt, betrachtet man die Toten als ein Geschäft: Man nimmt ihnen die Dinge, die sie nicht mehr brauchen können. Das wird nicht als verwerflich gesehen: Würde man selbst sterben, würden die anderen ebenso mit einem umgehen. Angesichts all des Leidens und Sterbens herrscht allgemeine Gleichgültigkeit. Scham kann man sich im Lager, wo man nüchtern und praktisch denken muss, nicht leisten.
Fantasie und Selbstbetrug
Obwohl alle einander gleichen und nur noch Haut und Knochen sind, hungert jeder für sich allein. Am Hunger eines anderen teilzunehmen ist nicht möglich. Jeder hat seine eigenen Hungerwörter oder vielmehr Essenswörter, die er sich im Kopf aufsagt: „Hochzeitssuppe“, „Leberknödel“, „Hasenbraten“. Der Hunger bringt den Advokaten Paul Gast dazu, seiner Frau Heidrun das Essen zu stehlen, bis sie stirbt. Der Hunger beseitigt die Unterschiede zwischen den Menschen und den Geschlechtern – und doch hat jeder seinen ganz eigenen, persönlichen Hunger. Der „Hungerengel“ ist Leos ständiger Begleiter bei allem, was er tut. Essen beherrscht seine Gedanken, er träumt vom Essen und riecht überall köstliche Speisen. Noch 60 Jahre später bereitet Essen ihm „Mundglück“.
„Nur der Mond trug eine weiße Haube und fingerte mir im Gesicht wie eine Krankenschwester.“ (S. 198)
Nachdem er schwer erkrankt ist und drei Tage in der Krankenbaracke versorgt wurde, wird Leo in den Keller unter der Fabrik versetzt, wo er zusammen mit Albert Gion Tag und Nacht die glühende Schlacke aus den Kohleöfen schaufeln muss, die die Dampfkessel heizen. Benebelt von Kohlegasen, Flugasche und Hunger fantasiert er sich die Arbeit schön, betrügt sich selbst, indem er in jeder Schicht ein Kunstwerk sieht. Die Schlacke riecht für ihn nach Flieder und Aprikosen und Leo stellt sich vor, er mache sich nach der Arbeit fein und gehe in Wien oder Bukarest ins Kaffeehaus. Die giftigen Substanzen, denen er ausgesetzt ist, zerfressen seine Haut und Schleimhäute. Doch er deutet sie um in süchtig machende Düfte von Schuhcreme, Tannenharz und Zitronenblüten, die alte Erinnerungen an die Heimat wecken.
Der weinrote Schal
Eines Tages gibt Leo Bea seinen geliebten weinroten Seidenschal, den er in seinem Koffer verwahrt hat. Der Schal ist immer noch zart und glänzend – und führt ihm so seine eigene Verwahrlosung umso deutlicher vor Augen. Bea soll den Schal für ihn auf dem Basar gegen Zucker und Salz eintauschen. Kurz darauf trägt Prikulitsch den Schal und von Bea bekommt Leo nichts dafür. Auf Nachfrage behauptet Prikulitsch, er habe den Schal immer schon getragen.
„Ich habe ewig nicht geweint, meinem Heimweh trockene Augen beigebracht. Ich habe mein Heimweh sogar schon herrenlos gemacht.“ (S. 212)
Wenig später schickt Prikulitsch Leo zum Kartoffellesen auf den Kolchos, den man im Lager mehr als alles andere fürchtet. Die Frauen, die dort arbeiten, leben in Erdlöchern, arbeiten ungeschützt in glühender Hitze und verdursten oder infizieren sich mit Tetanus. Leo glaubt, das sei sein Tod, doch am Abend darf er ins Lager zurück – nicht ohne sich vorher die Ärmel und Hosenbeine mit Kartoffeln vollgestopft zu haben. Leo begreift, dass Prikulitsch auf diese Weise seinen weinroten Seidenschal bezahlen wollte. Später nach seiner Heimkehr erfährt er, dass Prikulitsch mit einer Axt erschlagen worden ist.
Zurück in der Heimat
Gefühle hat Leo nicht. Er weint fast nie und hat gelernt, Heimweh ohne Tränen zu empfinden. Aber er fühlt sich nicht stärker, sondern schwächer als andere im Lager, die sich Gefühle erlauben. Das Heimweh wird mit der Zeit inhaltslos, es hat mit dem konkreten Ort, an dem man zu Hause war, nichts mehr zu tun. Erst als Leo erfährt, dass er einen Bruder bekommen hat, weint er. Er glaubt, seine Mutter habe ihn endgültig aufgegeben und einen Ersatz für ihn gefunden.
„In der Hautundknochenzeit hatte ich nichts mehr im Hirn außer dem ewig sirrenden Leierkasten, der Tag und Nacht wiederholte: Kälte schneidet, Hunger betrügt, Müdigkeit lastet, Heimweh zehrt, Wanzen und Läuse beißen.“ (S. 249)
Im vierten Jahr, das Leo im Lager verbringt, bessern sich die Zustände. Die Insassen erhalten Geld und können sich Essen kaufen. Sie werden sogar eitel und modebewusst. Leo träumt von der Heimkehr, zugleich aber fürchtet er sich vor der Freiheit. Die Welt außerhalb des Lagers ist ihm abhandengekommen. Als er 1950 nach Hause kommt, ist ihm seine Familie, die gar nicht wissen will, was er erlebt hat, fremd. Er kann auch nicht über das Erlebte sprechen und beginnt, sich nach dem Lager zurückzusehnen. Er findet Arbeit in einer Fabrik, heiratet, trifft weiter Männer im Park. Er zieht nach Bukarest, später nach Österreich und schreibt seine Erinnerungen auf. Das Lagerleben lässt ihn nicht los, es hat ihn tief geprägt. Er ist ängstlich, geizig, opportunistisch, neidisch geworden und leidet unter Arbeitszwang.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der Roman Atemschaukel ist in 64 kurze, manchmal nur wenige Zeilen umfassende Kapitel mit prägnanten Überschriften unterteilt. Das Buch ist aus der Sicht des Ich-Erzählers Leo geschrieben, der 60 Jahre später rückblickend von Deportation, Lageralltag und Rückkehr in die Heimatstadt erzählt. Die Chronologie wird dabei immer wieder durch Erinnerungen an die Zeit vor der Deportation und durch Schilderungen der Gegenwart durchbrochen. Herta Müllers Sätze sind kurz und gerafft, oft auch unvollständig. Manchmal bestehen sie nur aus zwei Wörtern, ja sogar aus einem einzigen Wort. Immer wieder wechselt die Autorin zwischen Präteritum und Präsens, wodurch der Text etwas Zeitloses bekommt. Ihr Stil ist bildhaft und reich an Metaphern. Die Natur und Gegenstände werden ebenso personifiziert wie Gefühle – etwa der Hunger, der als „Hungerengel“ die Gedanken und Handlungen der Lagerinsassen beherrscht und als ständiger Begleiter des Erzählers auftritt. Oft fügt Müller einfache Worte zu Neuschöpfungen wie „dümmlichtapfer“, „krankhungrig“, „Herzschaufel“ oder „Tageslichtvergiftung“ zusammen.
Interpretationsansätze
- Im Zentrum von Atemschaukel stehen die Gulag-Erfahrungen des Protagonisten. Beim Verfassen des Romans stützte die Autorin sich auf die Erzählungen ihrer nach dem Zweiten Weltkrieg internierten Mutter sowie auf andere Zeugenberichte, vor allem aber auf die ausführlichen Schilderungen ihres Schriftstellerfreundes Oskar Pastior, der fünf Jahre in russischer Gefangenschaft verbracht hatte.
- Der Roman ist keine objektive, historisch-biografische Darstellung. Damit folgt Müller dem Konzept der Autofiktionalität, das persönlich Erlebtes mit Erdachtem vermischt. Laut der Autorin besteht zwar eine Nähe zwischen Pastior und dem Ich-Erzähler Leo, beide sind aber nicht dieselbe Person.
- Bei aller realistischen, fast dokumentarischen Genauigkeit liegt der Autorin ein bloßes Abbilden von Realität fern. Ihre bevorzugte literarische Technik besteht vielmehr in einer ästhetisierenden Verfremdung, die durch genaues Hinsehen und Fokussierung auf das Detail jenseits aller vorgefertigten, normierten Wahrnehmung den Blick für Neues, Ungewohntes öffnet. So grenzt sie beispielsweise die Zeit der Handlung mit dem Hinweis auf den Januar 1945 und das Jahr 1950 genau ein. Zugleich aber wird die übliche Zeitwahrnehmung durch den ständigen Wechsel des Erzähltempus, durch den Einschub von Erinnerungen und durch Wortneuschöpfungen wie „Hautundknochenzeit“ oder „Die Zeit des Meldekrautessens“ aus den Angeln gehoben.
- Eine besondere Bedeutung kommt in Atemschaukel, ganz im Sinne einer Poetik der Dinge, den Gegenständen zu. Diese symbolisieren – wie das geschenkte Taschentuch oder der rote Seidenschal – die Bedürftigkeit und Abhängigkeit des Menschen. Zugleich führen sie auf konkrete Weise Entmenschlichung und Entrechtung im Lager vor Augen. Die von zu Hause mitgebrachten privaten Dinge, durch die sich die Lagerinsassen definieren, werden gegen Essen eingetauscht. Die materielle Not führt nach und nach zu einem vollkommenen Werte- und Identitätsverlust.
- Wenn der Protagonist am Ende beginnt, seine Erinnerungen an das Lager aufzuschreiben, und so eine Sprache für das Erlebte findet, ist das als Bekenntnis zu Sprache als Lebensbewältigung zu verstehen. Wie bei Primo Levi, Paul Celan, Imre Kertesz oder Ruth Krüger, in deren Tradition Müller sich sieht, bildet das Schreiben und damit das Aussprechen des Unsagbaren eine wirksame Strategie, erfahrene Traumata zu überleben.
Historischer Hintergrund
Rumäniendeutsche nach dem Zweiten Weltkrieg
Ab dem 18. Jahrhundert wurden die Region des sogenannten Banats – heute zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn aufgeteilt – sowie die Region Siebenbürgen – heute in Rumänien – von Deutschen besiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des rumänischen Faschismus unter dem Diktator Ion Antonescu ließ die sowjetische Regierung Zehntausende Rumäniendeutsche zur Zwangsarbeit nach Russland deportieren. Zwischen Januar 1945 und Ende 1949 wurden nach Schätzungen rund 80 000 rumänische Staatsangehörige deutscher Herkunft auf Anordnung Josef Stalins verschleppt und in Lagern eingesperrt. Als Wiedergutmachung für die im Zweiten Weltkrieg von Nazi-Deutschland angerichteten Zerstörungen mussten sie Arbeitsdienst in sowjetischen Fabriken, Bergwerken und auf Feldern leisten. In den Lagern herrschten Hunger und katastrophale hygienische Zustände. Allein von den rund 30 000 verschleppten Siebenbürger Sachsen starben knapp 12 Prozent an den Folgen von Krankheit, Erschöpfung, Kälte und Mangelernährung.
Trotz Deportation und Vertreibung lebten zu Beginn der 1950er-Jahre immer noch rund 170 000 Deutsche in Rumänien. Es gab deutsche Schulen, deutsche Zeitungen, deutsche Verlage und eine lebendige deutschsprachige Literaturszene. 1972 gründete sich die „Aktionsgruppe Banat“ aus Autoren wie Rolf Bossert, Johann Lippet oder Ernest Wichner. Die Gruppe, die sich politisch an der Neuen Linken im Westen orientierte und in Opposition zum Diktator Nicolae Ceauşescu wie auch zu den deutschen Landsleuten mit ihren landmannschaftlichen Traditionen stand, wurde 1976 durch den rumänischen Geheimdienst Securitate aufgelöst. Einige ihrer Mitglieder sowie auch Herta Müller, die der Gruppe nahestand, traten daraufhin dem Literaturkreis „Adam Müller-Guttenbrunn“ bei. Hier führten sie ihre Gespräche über Politik und Literatur weiter, doch auch die Verfolgung durch den Geheimdienst setzte sich fort.
Entstehung
Herta Müllers Mutter wurde 1945 deportiert und verbrachte fünf Jahre in einem sowjetischen Arbeitslager. Gegenüber ihrer Tochter äußerte sie sich nur in Andeutungen über diese Zeit. Im Rumänien der Nachkriegszeit war das Thema noch viele Jahre nach Rückkehr der Deportierten tabu. Wie Müller im Nachwort zu Atemschaukel schreibt, bildeten die verstohlenen Gespräche im Familienkreis eine Konstante ihrer Kindheit. 2001 begann sie damit, Gespräche mit ehemaligen Zwangsarbeitern aus ihrem Dorf sowie die Erinnerungen ihres Freundes Oskar Pastior, eines rumäniendeutschen Dichters, aufzuzeichnen. Pastior war im Januar 1945 als 17-Jähriger aus Hermannstadt ins russische Donbas deportiert und dort in ein Arbeitslager interniert worden. Er kehrte erst 1949 nach Rumänien zurück, wo er sich zunächst seinen Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter verdiente, dann sein Abitur nachholte und später Germanistik studierte. Ab 1969 lebte er als freier Schriftsteller und Übersetzer in West-Berlin.
Nach eigenen Aussagen versuchte Herta Müller, Pastior möglichst genaue Informationen über das Leben und die Arbeit im Lager zu entlocken – von der Beschreibung von Materialien wie Kohle oder Zement bis hin zur präzisen Schilderung von Arbeitsvorgängen wie dem Schaufeln oder dem Steinpressen. Gemeinsam begaben sie sich 2004 auf Spurensuche in das Gebiet, das heute in der Ukraine liegt. Zwar waren längst alle Spuren des Lagers beseitigt worden, dennoch war die Reise ergiebig. Der ebenfalls mitreisende Ernest Wichner erzählte später, Herta Müller habe Pastior befragt, alles aufgeschrieben und intensiv mit ihm darüber diskutiert. Als Oskar Pastior 2006 plötzlich starb, stellte Herta Müller nach anfänglichen Zweifeln den Roman allein fertig. Atemschaukel erschien 2009 im Carl Hanser Verlag.
Wirkungsgeschichte
Atemschaukel wurde von großen Teilen der Literaturkritik begeistert aufgenommen und 2009 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Im selben Jahr erhielt Herta Müller für Atemschaukel den Nobelpreis für Literatur. In der Begründung des Komitees hieß es, die Autorin zeichne „mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit“. Rezensenten wie der Dichter Michael Lentz oder der Journalist und ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumann bezeichneten den Roman als Meisterwerk. Es gab aber auch kritische Stimmen, die von „Entbehrungskitsch“ und „Kunstschneeprosa“ sprachen oder dem Buch vorwarfen, die Gulag-Erfahrungen Dritter poetisch zu überhöhen. Die Debatte darüber, ob es legitim ist, das Lagergrauen zu poetisieren, zumal aus zweiter Hand, hält bis heute an.
Die Entdeckung, dass Oskar Pastior in den 1960er-Jahren als Spitzel für die Securitate gearbeitet hatte, brachte Herta Müllers Werk, das nach der Nobelpreisverleihung zum Bestseller geworden war, 2010 erneut in die Schlagzeilen. Müller selbst zeigte nach anfänglicher Bestürzung Verständnis für Pastior und sagte, die Enthüllungen könnten ihre freundschaftlichen Gefühle für ihn nicht beeinträchtigen.
Über die Autorin
Herta Müller wird am 17. August 1953 in Niţchidorf geboren. Ihre Eltern sind Banater Schwaben, die in Rumänien zur deutschen Minderheit zählen. Die ehemals wohlhabende Familie wird 1945 unter dem russischen Regime enteignet, die Mutter in die Sowjetunion deportiert und zu mehrjähriger Zwangsarbeit verurteilt. Der Vater, ein ehemaliger SS-Soldat, arbeitet als LKW-Fahrer. Nach dem Abitur an einem deutschsprachigen Gymnasium, das Herta Müller gegen den Willen der Mutter besucht, studiert sie an der West-Universität Temeswar Germanistik und Rumänistik. Nebenbei schreibt sie auf Deutsch und nimmt an Treffen des linksgerichteten Schriftstellerzirkels „Aktionsgruppe Banat“ teil. 1976 beginnt sie, als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik zu arbeiten. Nachdem sie sich mehrfach geweigert hat, für den rumänischen Geheimdienst Securitate Spitzeldienste zu leisten, wird sie 1979 entlassen. Sie beginnt als Aushilfslehrerin an Schulen und unterrichtet privat Deutsch. Ab 1984 ist sie als freie Schriftstellerin tätig. Ihr Debütroman Niederungen (1982) und weitere Veröffentlichungen werden in Rumänien zensiert, sie selbst wird verfolgt und immer wieder verhört. Zusammen mit ihrer Mutter und ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Richard Wagner, reist sie 1987 nach Deutschland aus, doch die Nachstellungen durch die Securitate enden auch hier nicht. Sie lebt in Berlin, nimmt aber immer wieder Gastprofessuren an deutschen und ausländischen Universitäten wahr. Mit ihrem Roman Herztier (1994), für den sie den Kleist-Preis und den International Impac Dublin Literary Award, einen der weltweit höchstdotierten Literaturpreise, erhält, wird Herta Müller erstmals einem breiteren Lesepublikum bekannt. Nach der Scheidung von Wagner 1990 heiratet sie in dritter Ehe Harry Merkle, mit dem sie das Drehbuch zum Film Der Fuchs – Der Jäger (1993) schreibt. 2009 erhält Müller den Literaturnobelpreis für den Roman Atemschaukel.
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