Aulus Gellius
Attische Nächte
Reclam, 2018
Was ist drin?
Wikipedia und Knigge des griechisch-römischen Altertums.
- Lehrgedicht
- Römische Antike
Worum es geht
Ein Archiv der Antike
Über die Person des Aulus Gellius ist nur wenig bekannt. Dafür eröffnen seine Attischen Nächte, das einzige Werk, das er der Nachwelt hinterlassen hat, einen unschätzbar reichen und tiefen Einblick in die Welt der Spätantike. Die Attischen Nächte sind nicht weniger als eine Enzyklopädie des antiken Wissens. Verfasst in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr., versammeln sie Abstracts, die Gellius in langen Winternächten über eine Unmenge griechischer und lateinischer Quellen angelegt hat, und die alles enthalten, was der gebildete Römer zu seiner Zeit wissen musste, von Grammatik und Philosophie über Recht und Geschichte bis hin zu Medizin und Astrologie. Die Attischen Nächte sind Knigge und Wikipedia zugleich, enthalten Wissenswertes aus allen Sparten der Kultur, geben Tipps zum richtigen Verhalten in Gesellschaft und unterweisen den Leser in der richtigen Aussprache und Anwendung von Wörtern und Redeweisen. Fantastische Erzählungen und witzige Anekdoten peppen diese geballte Ladung Bildung immer wieder auf. Ein informatives, kurioses und unterhaltsames Archiv der antiken Kultur.
Take-aways
- Die Attischen Nächte sind eine Enzyklopädie des Wissens der Antike.
- Inhalt: In 20 Büchern präsentiert der adlige und gebildete Römer Aulus Gellius eine Fülle von Wissenswertem aus allerlei Gebieten der römischen und griechischen Kultur: Grammatik und Rhetorik, Philosophie und Pädagogik, Physik und Astrologie, Geschichte und Rechtswesen. Da hinein mischt er witzige Anekdoten und fantastische Erzählungen.
- Das Werk wurde in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. zur Zeit von Kaiser Hadrian verfasst.
- Es besteht aus etwa 400, thematisch und stilistisch bunt durchmischten Essays, Abhandlungen, Fabeln und Anekdoten.
- Die Attischen Nächte geben kostbare Einblicke in das kulturelle Leben der späten römischen Kaiserzeit.
- Gellius begann seine Aufzeichnungen während einer Bildungsreise nach Griechenland und wollte sie bis an sein Lebensende weiter ausbauen.
- Den Titel Attische Nächte wählte Gellius, weil er immer nachts an seinen Notizen arbeitete.
- Er versammelt knapp 300 Quellen der griechischen und lateinischen Literatur.
- Alles, was wir über das Leben des Aulus Gellius wissen, stammt aus diesem Buch.
- Zitat: „Körper und Geist der Menschen sind ja überaus eng miteinander verbunden, und daher auch die Krankheiten und Heilmittel bei Geist und Körper.“
Zusammenfassung
Römische Kultur
Die beiden Historiker Timaios und M. Varro berichten, dass der Name „Italien“ ursprünglich vom griechischen „italoi“ abstammte, was so viel bedeutet wie „Rinder“ – von denen es in alten Zeiten in Italien sehr viele gab. Rinder waren auch eine der ältesten Formen des Bußgeldes. Da sie so zahlreich waren, betrug die Höchststrafe 30 Rinder, während sie bei Schafen nur in zwei Stück bestand. Die Strafen in jener Zeit waren sehr streng. So durften Männer, die ihre Frauen auf frischer Tat beim Ehebruch ertappten, diese ohne Gerichtsurteil sofort und eigenhändig töten. Auch war es Frauen im alten Rom verboten, Wein zu konsumieren. Der Mann küsste deshalb seine Frau, um zu riechen, ob sie Wein getrunken hatte, und durfte sie eigenhändig züchtigen, falls sie gesündigt hatte. Römer, die ihren Acker oder ihr Pferd vernachlässigten, konnten ihres gesellschaftlichen Standes beraubt werden. Auch anstößige Äußerungen, etwa Lästerungen des römischen Volkes, konnten mit empfindlichen Geldstrafen geahndet werden. Und wer vor Gericht gähnte, lief Gefahr, mit der Prügelstrafe bedacht zu werden.
Frauen sollten Tuniken tragen, die Arme und Beine bedecken, während Männer dieser Mode ebenso wenig folgen sollten wie der, sich die Beinhaare oder die Augenbrauen zu rasieren. Mehr noch als Herkunft und Reichtum wurde bei den alten Römern das Alter geehrt, und junge Menschen zollten bei jeder sich bietenden Gelegenheit älteren Mitbürgern Respekt. Dies änderte sich erst, als das Imperium mehr Nachwuchs benötigte und Belohnungen für das Kinderkriegen ausgab. Nun galten junge Männer, sofern sie Kinder hatten, mehr als kinderlose alte.
„Timaios hat in seiner Geschichte (…) geschrieben, dass Italien seinen Namen von einem griechischen Wort erhalten habe, da Rinder (…) in der alten griechischen Sprache ‚italoi‘ hießen, wovon es in Italien eine Vielzahl gab (…).“ (S. 85)
Besonderes wichtig war das Einhalten von Eiden und Versprechen. Dies belegt die Geschichte von zehn gefangenen römischen Soldaten, die von Karthago nach Rom geschickt wurden, um dort einen Gefangenenaustausch zu verhandeln: Sie hatten schwören müssen, bei einem negativen Bescheid durch den römischen Senat wieder in ihre Gefangenschaft zurückzukehren. Als der Senat tatsächlich den Vorschlag ablehnte, kehrten acht von ihnen in die Gefangenschaft zurück, obwohl ihnen von ihren Mitbürgern versichert wurde, dass sie ihr Heimkehrrecht geltend machen und bleiben dürften. Die zwei, die in Rom blieben, erklärten, sie hätten ihren Eid gar nicht gebrochen, da sie zunächst nur scheinbar aus dem Gefangenenlager aufgebrochen und vor ihrer Reise nach Rom noch einmal dorthin zurückgekehrt waren, wodurch der Eid erloschen sei. Dieser Vertrauensbruch empörte das römische Volk dermaßen, dass ihnen alle Ehre abgesprochen wurde.
„Diejenigen, die über die Lebensweise und Lebensführung des römischen Volkes geschrieben haben, sagen, dass die Frauen und Rom und Latium ihr Leben lang nüchtern geblieben seien (…)“ (S. 69)
Zu einem Gastmahl sollte man, laut M. Varro, mindestens drei und höchstens neun Personen einladen. Es sollte an einem passenden Ort zur richtigen Zeit und gut vorbereitet stattfinden. Die Gäste sollten weder zu geschwätzig noch zu still sein. Der Gesprächsstoff sollte wie die Nahrung einerseits gute Laune machen und andererseits auch nützlich sein: Das Gespräch sollte bilden und das Essen nahrhaft sein.
Historische Persönlichkeiten
Julius Cäsar benutzte in seiner Korrespondenz mit bestimmten Personen eine Geheimschrift, bei der die Korrespondenten nach einem geheimen Plan die Buchstaben des Alphabets vertauschten, weshalb in diesen Briefen scheinbar zusammenhanglose Buchstabenfolgen zu lesen sind. Der berühmte Konsul Cato hat mit seiner bescheidenen Lebensweise ein besseres Vorbild für Genügsamkeit gesetzt als viele großspurige Philosophen. Sein Haus war nur mit dem Nötigsten eingerichtet, freiwillig verzichtete er auf allerhand überflüssigen Luxus, etwa auf teure Sklaven. Vom Karthagerkönig Hannibal ist überliefert, dass er, als ihm der König Antiochos seine goldbesetzte und vor lauter Zierrat glänzende Armee vorführte und ihn fragte, ob das wohl für die römische Armee ausreichen würde, dem Antiochos schlagfertig und ironisch geantwortet habe: Für die Römer, auch wenn sie noch so gierig seien, sei das genug. Während Antiochos die Schlagkraft seiner Truppen meinte, sprach der spottende Hannibal von der üppigen Ausrüstung der Truppen als Beute für die Römer.
Dem berühmten Dichter Euripides soll prophezeit worden sein, dass er in Wettkämpfen siegen würde. Deshalb brachte ihn sein Vater nach Olympia, wo er tatsächlich ein erfolgreicher Sportler wurde, bevor er sich der geistigen Bildung zuwandte und bei den Philosophen Anaxagoras und Sokrates lernte. Mit 18 Jahren begann Euripides, in einer Höhle auf Salamis Tragödien zu schreiben. Sein Hass auf Frauen ist bekannt, unklar ist jedoch, woher dieser kam. Euripides starb in Makedonien, wo er begraben wurde und bis heute verehrt wird.
„Dies sind Scipios Worte: ‚Wer sich täglich pomadisiert vor dem Spiegel herausputzen lässt (und) (…) mit ausgezupften Barthaaren und enthaarten Beinen herumläuft (…), kann bei dem bezweifelt werden, dass er (…) getan hat, was Hurenböcke gewöhnlich tun?‘“ (S. 63)
Das Urteil über den Philosophen Seneca ist gespalten. Einige finden seine Sprache profan und seine Ansichten belanglos, andere wiederum halten zwar seine Sprache ebenfalls für sehr gewöhnlich, gestehen ihm aber einen klugen und kritischen Geist zu. Der Philosoph Protagoras soll ursprünglich ein Tagelöhner gewesen sein, den eines Tages der Weise Demokrit dabei beobachtete, wie er ein unhandliches und schweres Bündel Balken mühelos trug, weil er es auf findige Art und Weise verschnürt hatte. Er ließ ihn das Bündel lösen und erneut verschnüren, und als Protagoras auf diese Weise seine Intelligenz bewiesen hatte, nahm ihn Demokrit als Schüler auf und sorgte für seinen Lebensunterhalt. Leider ist Protagoras später ein übler Sophist geworden, der für Geld lehrte, wie man das schwächere Argument zum stärkeren umkehren kann. Übrigens nahm sich Demokrit das Augenlicht, um nicht von den sichtbaren Gegenständen seiner Umgebung vom Nachdenken über die Naturgesetze abgelenkt zu werden.
Philosophie
Viele Philosophen fragen sich, ob die Wörter natürlich oder durch Setzung entstanden sind. P. Nigidius legt zahlreiche Argumente dafür vor, dass die Wörter natürlich entstanden sind. Eines davon besagt, dass die Mundbewegung und Atemrichtung im Einklang mit der Bedeutung der Wörter steht. Denn wenn wir „vos“ (ihr/euch) oder „tu“ (du) sagen, dann bewegen wir die Lippen nach vorn und atmen nach vorn zu unserem Gesprächspartner hin aus. Wenn wir dagegen „nos“ (wir/uns) sagen oder „ego“ (ich), dann ziehen wir die Lippen ein und halten die Luft eher in unserem Körper zurück, als sie hinauszupressen.
„Man darf weder geschwätzige noch mundfaule Gäste einladen, weil Beredsamkeit (bei Geschäften) auf dem Forum und bei Gericht am Platz ist, Schweigen aber nicht beim Gastmahl, sondern im Schlafzimmer.“ (S. 65)
Die Aufnahme in die Schule des Pythagoras soll in mehreren Stufen erfolgt sein: Zuerst wurde der Charakter des Bewerbers anhand seiner Körperhaltung und seiner Gesichtszüge gedeutet. Bei erfolgreicher Begutachtung wurde der Bewerber aufgenommen. Er musste all seinen Besitz der Schule übergeben und mindestens zwei Jahre den Unterredungen der Meister schweigend zuhören. Nach einer gewissen Zeit wurde ihm erlaubt, Fragen zu stellen und seine Ansichten zu formulieren und niederzuschreiben. Nachdem er auf diese Weise Geometrie, Musik und andere Fächer gelernt hatte, durfte er beginnen, über die Zusammensetzung der Welt zu forschen.
In Athen spielte der Autor an den Saturnalien mit Freunden folgendes Spiel: Sie überlegten sich Sophismen (Trugschlüsse), die sie den anderen zur Lösung erzählten. Für jedes gelöste oder schlecht gestellte Problem musste der Urheber einen Sesterz Strafe zahlen. Mit dem Geld aus dem Topf bezahlten sie ein gemeinsames Abendessen. Einer jener Trugschlüsse war, dass ein Mensch kein Pferd sei, ein Pferd jedoch ein Lebewesen sei, woraus folgen müsse, dass ein Mensch kein Lebewesen sein könne.
„Da sieht ihn zufällig Demokrit (…) mit dieser so schweren und so unhandlichen Last leicht und mühelos daherkommen, (…) betrachtet die sinnvolle und praktische Verschnürung und Anordnung der Hölzer und bittet ihn, ein wenig auszuruhen.“ (S. 113)
Übrigens wurden wiederholt durch einen Beschluss des Senats alle Philosophen und Rhetoren aus Rom oder sogar aus Italien ausgewiesen. Dies geschah etwa unter dem Konsulat von C. Fannius Strabo und M. Valerius Messala, dem von L. Licinius Crassus sowie unter der Herrschaft Domitians.
Lebensweisheiten
Man soll mit dummen oder unverschämten Leuten weder Streit beginnen noch sie beschimpfen, weil man sich damit auf ihre Stufe hinablässt. Zudem sollte man seinen Geist immer wachsam und reaktionsschnell halten, um für die Ungerechtigkeiten seiner Zeitgenossen und die Stolpersteine des Lebens allzeit gerüstet zu sein.
„Die Trugschlüsse waren von etwa folgender Art, auch wenn sie im Lateinischen nicht recht elegant und gar ein wenig hölzern klingen: ‚Was Schnee ist, das ist kein Hagel; der Schnee aber ist weiß: Also ist Hagel nicht weiß.‘“ (S. 123)
Kinder sollten weder zu viel essen noch zu lange schlafen, sonst werden sie schwächlich, klein und einfältig. Die maximale Anzahl von Kindern, die eine Frau während einer Geburt gebären kann, beträgt laut Aristoteles fünf.
Bereits Aristoteles wusste, dass ein plötzlicher Schrecken die Körpersäfte in das Körperinnere zieht, weil er auf der Körperoberfläche Kälte auslöst. Erschrockene werden bleich, kühl und bekommen Durchfall, weil das zusammengezogene Blut den Darm reizt. Die Nähe zu Feuer regt hingegen den Harndrang an, weil das Feuer die Körpersäfte löst. Zahlreiche Schriften beglaubigen, dass sanftes Flötenspiel eine Vielzahl von körperlichen Schmerzen lindern oder sogar heilen kann. Aufgrund der Nähe von Körper und Geist sollte dies nicht überraschen.
Als der Autor einmal zu Besuch beim Dichter Annianus war, verriet dieser ihm, welche Dinge gemeinsam mit dem Mond abnehmen: Austern und Seeigel werden mickrig, die Augen von Katzen werden schmal. Alles, was bei abnehmendem Mond abnimmt, nimmt bei zunehmendem Mond wieder zu. Außer Zwiebeln – die trocknen bei zunehmendem Mond aus und treiben bei abnehmendem Mond. Ein besonders effektives Brandschutzmittel ist übrigens Alaun.
Kriegskunst
Die Lakedämonier sollen als Militärmusik nicht martialische Hörner und Trompeten, sondern im Gegenteil sanfte Flötenklänge benutzt haben, um sich beim Marsch in den Kampf innerlich zu sammeln und ihre Kampfeslust zu disziplinieren. Die Kreter wiederum zogen zum Takt der Zither in den Krieg. Wieso brüllten dann die Römer zu Beginn einer Schlacht?
„(...) ebenso müssen Herz und Kopf eines Mannes überall und zu jeder Zeit auf die frechen Angriffe von Ungerechtigkeiten gefasst sein, mutig, aufrecht, ordentlich geschützt, zur Tat bereit, niemals unaufmerksam (…)“ (S. 121)
Über den berühmten Feldherrn Demetrios wird folgende Geschichte überliefert: Als er die Stadt Rhodos belagerte, machte er sich daran, die Gebäude, die außerhalb der Stadt lagen, abzubrennen. In einem dieser Gebäude befand sich aber ein wunderschönes Gemälde des Protegenes. Deshalb schickten die Rhodier einen Gesandten zu Demetrios und baten ihn, das Bild zu verschonen: Wenn er Rhodos einnähme, fiele es unversehrt in seine Hände; verlöre er aber, müsste er sich nachsagen lassen, das Werk des Protegenes zerstört zu haben, weil er Rhodos nicht einnehmen konnte. Daraufhin brach Demetrios die Belagerung ab.
Kurioses und Fantastisches
Der Pythagoreer Archytas soll eine mechanische Taube aus Holz konstruiert haben, die selbstständig flog. Leider erhob sie sich nicht erneut, wenn sie einmal gelandet war.
„Körper und Geist der Menschen sind ja überaus eng miteinander verbunden, und daher auch die Krankheiten und Heilmittel bei Geist und Körper.“ (S. 139)
Der Beamte Aulus Hostilius Mancinus lud die Prostituierte Manilia vor Gericht vor und klagte sie an, ihn durch einen Steinwurf aus ihrem Fenster zu später Stunde verletzt zu haben. Manilia bestätigte, den Stein geworfen zu haben: Sie habe sich damit wehren wollen, als Mancinus völlig betrunken spät nachts zu ihr kam und, da sie ihn derart betrunken nicht einlassen wollte, die Tür eintreten wollte. Die Tribunen gaben Manilia Recht und rügten Mancinus dafür, dass er einen solchen Ort in einem derartigen Zustand überhaupt aufgesucht hatte.
Ringe wurde sowohl bei den alten Griechen als auch bei den Römern deshalb am Ringfinger getragen, weil Anatomen herausgefunden hatten, dass ein einziger langer Nerv von diesem Finger direkt zum Herzen führt.
Delfine verlieben sich oft in schöne Knaben, die in Küstennähe spielen. Die Liebe der Delfine ist sehr beständig. Sie tragen ihre Lieblinge übers Wasser, spielen mit ihnen und hören auf ihre Befehle. Die verliebten Tiere können aber auch krank werden und aus Liebeskummer gar sterben, wenn ihre Geliebten plötzlich nicht mehr an die gewohnte Uferstelle kommen oder ihrerseits sterben.
„Apion schreibt in seinen Büchern Über Ägypten, der Grund dafür sei, dass man beim Sezieren (…) entdeckt habe, dass ein sehr feiner Nerv von diesem einen besagten Finger zum menschlichen Herz führe (…)“ (S. 143)
In obskuren alten Schriften werden wunderliche Dinge über fremde Völker berichtet. Die Skythen im Norden sollen Menschenfleisch essen, während ein anderes Nordvolk (wie die Zyklopen) nur ein Auge haben soll. In Afrika leben Stämme, die durch Worte oder Blicke Tod und Vernichtung bringen können. Aus Indien wird von einem Volk mit Hundeköpfen berichtet, das wilde Tiere frisst, sowie von gefiederten Menschen, die ausschließlich von Blumenduft leben.
Zum Text
Aufbau und Stil
Das Originalwerk ist in lateinischer Sprache abgefasst und besteht aus etwa 400 meist relativ kurzen Kapiteln. Aulus Gellius bedient sich darin vieler unterschiedlicher Stilrichtungen, weshalb die Attischen Nächte als Paradebeispiel der sogenannten Buntschriftstellerei gelten: Philosophische Essays und naturwissenschaftliche Abhandlungen finden sich neben historischen oder gar fantastischen Erzählungen und mischen sich mit autobiografischen Anekdoten. Scheinbar mühelos wechselt Gellius zwischen ironisch-leichtem Ton und wissenschaftlicher Strenge, registriert mal prosaisch kühl, um dann wieder wild zu fabulieren. Sein Stil gefällt Liebhabern der klassischen Rhetorik, dekliniert Gellius doch mustergültig alle Sprachtricks durch, von der Alliteration bis zur Variatio. Die einzelnen Kapitel haben weder Überschriften noch eine thematisch geordnete Abfolge. Wissenswertes aus Mathematik folgt brüsk auf Belehrungen über die richtige Aussprache bestimmter Wörter oder eine Anekdote aus dem Leben einer antiken Berühmtheit. Die Kapitel beginnen zudem sehr abrupt, ein als „in medias res“ bekanntes Stilmittel. Bemerkenswert ist die wissenschaftliche Arbeitsweise des Gellius: Er weist seine Quellen stets gründlich aus und bewertet jede Information nach ihrem Wahrheitsgrad: Ist es Fabel oder Gewissheit? Schriftlich verbrieft oder Hörensagen? Auch zitiert er immer wieder den genauen griechischen oder lateinischen Originalwortlaut. Gerade in seinen Abhandlungen zur richtigen Aussprache oder Bedeutung von Wörtern und Redeweisen verfährt er durchaus philologisch, vergleicht mehrere Autoren, wägt ihre Aussagen gegeneinander ab und begründet seine Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Interpretation.
Interpretationsansätze
- In der Forschung wird der nostalgische Ton der Attischen Nächte betont. Das Werk listet die zivilisatorischen Errungenschaften der alten Römer und Griechen auf und bietet eine stolze Rückblende auf eine Kultur, die sich im zweiten Jahrhundert n. Chr. bereits als im Niedergang begriffen wusste.
- Die Versammlung all der unterschiedlichen Wissenszweige und Informationen ist kein Selbstzweck, sondern untersteht einem humanistischen Bildungsideal avant la lettre. Gellius will seinen Lesern nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Kultur, insbesondere einen artikulierten Sprachgebrauch und einen Sinn für sittlich angemessenes Verhalten.
- Obwohl Gellius eine Vielzahl philosophischer Positionen wiedergibt, ist er eindeutig dem Platonismus zuzurechnen. Er stellt Platons Lehren unumwunden positiv dar, während er die meisten anderen Schulen kritisiert, und vertritt mit den Idealen des Maßhaltens und der Zügelung der Emotionen eindeutig platonische Ideen.
- Die vielen grammatischen und etymologischen Abhandlungen des Gellius sind vor dem zeithistorischen Hintergrund verständlich, insofern damals das Vokabular des Lateinischen stark weiterentwickelt wurde. Ein beherrschendes Thema in den Gelehrtenkreisen, denen Gellius angehörte, war die Bestimmung angemessener Sprechweisen und Wörter.
- Dass ein Schriftsteller wie Gellius mit einer Sammlung bereits bekannten Wissens überhaupt Geltung erlangen konnte, weist auf eine tief greifende Veränderung in der römischen Literatur hin. Nach dem Tod der letzten großen Literaten Plinius und Tacitus zu Beginn des zweiten Jahrhunderts setzte sich die Kompilation und Buntschriftstellerei als neue literarische Gattung im Römischen Reich durch.
Historischer Hintergrund
Der Anfang vom Ende des Römischen Reichs
Das zweite Jahrhundert n. Chr. stellt einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des römischen Kaiserreichs dar. Zwar war diese Zeit weitgehend von Frieden und wirtschaftlicher Prosperität gekennzeichnet, doch zeichneten sich auch bereits unübersehbar erste Risse und Krisen im ungeheuer großen Staatsapparat Roms ab. Unter der Regierung Hadrians von 117 bis 138 vollzog sich ein strategischer Wechsel des Reichs weg von der territorialen Erweiterung durch Eroberung und hin zur Verteidigung der bestehenden Grenzen. Das Römische Reich hatte in diesen Jahren seine maximale Ausdehnung erreicht und würde von nun an immer größere Probleme mit seiner Aufrechterhaltung haben. Schon unter der Regierung Mark Aurels (161–180) begannen an der Nord- und Ostgrenze des Reichs diverse Stämme, Krieg gegen das Imperium zu führen. Doch noch befand sich vor allem das Staatsinnere in einer starken und sicheren Position. Es war die Zeit der Adoptivkaiser, die bis heute als Höhepunkt des guten Regierens und als Vorbild für eine erfolgreiche monarchistische Politik gilt. Die Kultur blühte, Hadrian und Mark Aurel waren Philosophenkönige, die sich der Bildung, insbesondere der altgriechischen Kultur widmeten und aktiv die Künste förderten. Für die Angehörigen der oberen Schichten war Zweisprachigkeit in Griechisch und Latein Pflicht; Bildungsreisen nach Athen, zwecks Studium der griechischen Rhetorik und Philosophie, gehörten zum guten Ton.
Entstehung
Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Attischen Nächte stammen gänzlich aus Gelliusʼ Werk selbst, insbesondere aus dem Vorwort. Demnach begann er die Niederschrift des Buches während eines Bildungsaufenthalts in Griechenland, auf einem Landgut nahe Athen. Die Forschung geht davon aus, dass das im Winter 147/148 gewesen sein muss. Da Gellius hauptsächlich während der langen Nächte arbeitete, nannte er sein Werk Attische Nächte – aber auch, wie er hinzufügt, aus Bescheidenheit, denn er wollte einen zu reißerischen Titel vermeiden. Das zeigt, dass er sich durchaus bewusst war, wie monumental sein Vorhaben war. Eifrig sammelte er Notizen, in denen er Gehörtes und Gelesenes festhielt, das ihm wichtig oder informativ erschien. Dabei folgte er keinerlei systematisierendem Anspruch, sondern schrieb alles Wissenswerte in eben der Reihenfolge auf, in der es ihm in die Finger kam. Gellius scheint seine Aufzeichnungen – er nennt sie Exzerpte – zunächst nur für sich selbst, als Gedächtnisstütze, begonnen zu haben. Dabei sah er sich vor allem als Sammler; am Ende hatte er 275 sowohl griechische wie lateinische und teilweise sehr kuriose und seltene Quellen zusammengetragen. Auch nach seiner Rückkehr nach Rom berichtet er immer wieder davon, weitere Quellen studiert zu haben – natürlich nachts. Um circa 170 n. Chr. veröffentlichte Gellius die Attischen Nächte schließlich in 20 Büchern und unter dem lateinischen Originaltitel Noctes Atticae. Im Vorwort begründete er die Veröffentlichung seiner Miszellensammlung damit, dass sie für jedermann, der sich weiterbilden wolle, eine sowohl unterhaltsame als auch lehrreiche Lektüre darstelle. Und er kündigte an, die begonnene Sammlung bis an sein Lebensende ständig weiter auszubauen. Diese Erweiterungen der Attischen Nächte, so sie überhaupt je geschrieben wurden, sind allerdings vollständig verloren gegangen.
Wirkungsgeschichte
Die Attischen Nächte wurden bereits von Autoren der Spätantike wie Augustinus, Nonius oder Macrobius sehr geschätzt und das gesamte Mittelalter hindurch stark rezipiert. Zahlreiche Autoren machten sich einen Namen, indem sie Teile der Attischen Nächte Wort für Wort kopierten und sie als eigene Texte ausgaben. Besonders häufig kursierten statt des äußerst umfangreichen Originalwerks diverse Textkompilationen und Auszüge, häufig unter dem modifizierten Autorennamen Agellius. In der Renaissance wurde Gellius von so bedeutenden Denkern und Literaten wie Petrarca, Johannes von Salisbury, Michel de Montaigne oder Francis Bacon gelesen. Als besonders beachtlich galt in dieser Zeit der sprachliche Stil der Attischen Nächte. Er diente, mehr noch als das grandiose Latein Ciceros, als Vorbild für die aufkommende humanistische Literatur. 1469 erschien in Rom die erste gedruckte Version. In Leipzig existierte von 1641 bis 1673 ein wöchentlicher Kultursalon namens Collegium Gellianum. 1789 wurden die Attischen Nächte durch Victor Verges ins Französische übersetzt, 1795 folgt eine englische Übertragung durch William Beloe. Dem deutschen Sprachraum wurden sie erst 1875 zugänglich gemacht, als Fritz Weiss eine vollständige Übersetzung in zwei Bänden vorlegte. Sie ist bis heute die einzige deutsche Übertragung des gesamten Werks geblieben, gilt aber als problematische und stilistisch nur mäßig gelungene Arbeit. Als Referenzwerke gelten hingegen die Auswahlübersetzungen von H. Berthold 1987 und Hartmut Froesch 2018. In allen Epochen galt Gellius als einer der wichtigsten römischen Literaten. Für die Kulturgeschichte ist seine Enzyklopädie heute ein unschätzbares Werk, das viele Namen und Quellen enthält, die ansonsten verloren gegangen wären, und das einen tiefen Einblick in das kulturelle Leben des späten römischen Kaiserreichs gewährt.
Über den Autor
Über das Leben des Aulus Gellius, der seit dem Mittelalter auch oft Agellius genannt wird, ist nur wenig bekannt und historisch gesichert. Sämtliche Informationen über sein Leben entstammen seinem eigenen Werk und sind deshalb nicht restlos aufzuklären. Folgendes ist in der Forschung allgemein anerkannt: Gellius kommt wahrscheinlich 130 n. Chr. auf die Welt und verbringt den Großteil seines Lebens in Rom. Möglicherweise ist der Geburtsort aber nicht Rom, sondern Nordafrika. Er stammt aus einer vornehmen Familie und genießt eine sehr gute Ausbildung. Außerdem unternimmt er viele Bildungsreisen und kauft kostspielige Lehrbücher. Aulus spricht Griechisch genauso fließend wie Latein, er studiert bei Sulpicius Apollinaris Grammatik, bei Marcus Cornelius Fronto sowie Titus Castricius Rhetorik und bei Skeptiker Favorinus Philosophie – allesamt Gelehrte, die bei Kaiser Hadrian in hoher Gunst stehen. Etwa von 165 bis 167 hält sich Gellius zum Studium der Rhetorik und Philosophie in Athen auf. Er lernt in der Schule des Platonikers Taurus und beim kynischen Philosophen Peregrinus Proteus. In Athen macht er die Bekanntschaft des wohlhabenden Gelehrten und Redners Herodes Atticus, der später zum Lehrer Marc Aurels wird. In Athen entsteht Gellius’ einziges überliefertes Werk Attische Nächte (Noctes Atticae) – eine 20-bändige Notizensammlung, die das umfassende Wissen Gellius’ dokumentiert. Nach seiner Rückkehr nach Rom erhält Gellius ein Richteramt, das er äußerst gewissenhaft wahrnimmt. Er widmet sich sein gesamtes Leben lang dem intensiven Studium der Wissenschaften und dem intellektuellen Austausch mit Zeitgenossen. Wahrscheinlich stirbt er um 180 in Rom.
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