Marcel Proust
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Suhrkamp, 2004
Was ist drin?
Zeitlos, zeitaufwändig und seine Zeit wert: Prousts Jahrhundertwerk ist ein Lesegenuss für alle, die wissen, dass man Zeit weder gewinnen noch verlieren kann.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Ein Jahrhundertroman
„Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang“, schrieb Anatole France 1913 bei der Veröffentlichung des ersten Bandes von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – zu einem Zeitpunkt also, als die restlichen sechs Bände noch gar nicht erschienen waren. Niemand, nicht einmal der Autor selbst, ahnte damals, was die quälend lange Suche nach dem Sinn und Wesen der Kunst letzten Endes hervorbringen würde. Nämlich ein literarisches Universum, das nahezu alle philosophischen und psychologischen Fragen seiner Zeit behandelte oder vorwegnahm. Im Roman geht es um die Subjektivität der Wirklichkeitserfahrung, die Macht des Unbewussten, um Liebe, Eifersucht, Krankheit, Krieg, Homosexualität, Päderastie, Vergänglichkeit und Tod – oder auch nur um die kreative Potenz eines Sandtörtchens. Kaum ein anderer Autor hat mit solcher Besessenheit und Detailtreue sämtliche Winkel der menschlichen Existenz ausgeleuchtet. Das führt zu Längen, bei denen einem schon mal die Luft ausgehen kann. Doch ein Versuch, in Prousts Universum einzutauchen, lohnt sich – und ist garantiert keine verlorene Zeit.
Take-aways
- Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist ein modernes Erzählexperiment in sieben Bänden und einer der bedeutendsten Romane des 20. Jahrhunderts.
- Inhalt: Der Ich-Erzähler Marcel leidet unter einer Schreibblockade und vergeudet als Snob sein Leben. Er macht Erfahrungen mit Antisemitismus, Homosexualität und krankhafter Eifersucht und verstrickt sich in tragische Liebesaffären. Erst als ihm unverhoffte Sinneseindrücke Zugang zu seinen Erinnerungen verschaffen, beginnt er sein Werk zu verfassen.
- Liebe und Freundschaft entpuppen sich im Roman als Illusion, die Menschen bleiben einander fremd.
- Jeder ist gefangen in seiner eigenen Welt; objektive Erkenntnis ist unmöglich.
- Ein Schlüsselthema ist die Homosexualität. Proust verarbeitete damit die eigene schmerzliche Existenz als heimlicher Schwuler.
- Fiktion und Autobiografie verschmelzen miteinander: Viele Romanfiguren erinnern an Personen aus dem Leben des Autors.
- Proust schrieb zuerst die Anfangs- und Schlussszenen des Zyklus. Die breite Mitte ist das Ergebnis eines manischen, bis zu seinem Tod andauernden Schaffensprozesses.
- Zwischen 1913 und 1927 erschienen, erregte das Werk Unverständnis, Empörung und Bewunderung.
- Der Jahrhundertroman ist Prousts Lebenswerk: Neben dem Roman wurden zu Lebzeiten des Autors nur vereinzelte Essays und Erzählungen veröffentlicht.
- Zitat: „Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß.“
Zusammenfassung
Unterwegs zu Swann
Der Ich-Erzähler Marcel erinnert sich an seine Kindheit im ländlichen Combray: an das Drama des Zubettgehens, wenn seine Mutter ihm nicht den gewohnten Gutenachtkuss gab, an die bunten Gartenblumen, die Seerosen auf dem Flüsschen Vivonne und die duftenden Weißdornhecken seiner Sommerspaziergänge. Als er ein „Petite Madeleine“ genanntes Sandtörtchen in eine Tasse Tee taucht und davon kostet, steigen diese Eindrücke aus seinem Unbewussten wieder auf und erfüllen ihn mit einem nie zuvor gespürten Glücksgefühl. Tatsächlich hatte seine bettlägerige Tante Léonie in Combray die Gewohnheit, ihm sonntags vor dem Hochamt ein Stück einer in Lindenblütentee getauchten Madeleine anzubieten. In einem jener Sommer sah er auch Gilberte Swann zum ersten Mal, die Tochter des Familienfreundes Charles Swann. Durch eine rosafarbene Weißdornhecke blickte sie ihn herausfordernd an, und er verliebte sich sofort in sie.
„In der Sekunde nun, da dieser mit Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.“ (Bd. I, S. 67)
Die Liebesgeschichte von Gilbertes Eltern spielt sich noch vor Marcels Geburt in Paris ab. Odette ist eine zweitklassige Schauspielerin und Kokotte, für die sich der in der Gesellschaft hoch angesehene Kunstkenner Swann anfangs kaum interessiert. Doch im Salon der neureichen, vulgären Verdurins ändern sich seine Gefühle, als er eine Sonate des Komponisten Vinteuil hört. Die Musik wird zur Melodie von Swanns und Odettes Liebe. Das Glück währt aber nur kurz, denn je mehr Swann Odette begehrt, desto kühler und grausamer wird sie. Swann steigert sich in eine wahnhafte Eifersucht hinein, die durch Hinweise auf Odettes Affären mit Männern und Frauen angefacht wird. Erst eine längere Abwesenheit Odettes heilt den Liebeskranken. Eines Morgens erwacht er aus einem Albtraum und kann kaum noch glauben, dass er einmal in sie verliebt gewesen ist.
Im Schatten junger Mädchenblüte
Viele Jahre später heiratet Swann Odette. Es heißt, sie habe ihn mit dem Entzug der geliebten Tochter Gilberte erpresst. Marcels Umgang mit Gilberte betrachtet der Vater mit Misstrauen. Tatsächlich hat sich Marcels anfangs eher kindliche Verliebtheit gewandelt. Nach dem Besuch eines Toilettenhäuschens auf den Champs-Élysées, dessen modriger Geruch ihn erregt, erlebt er beim spielerischen Ringen mit Gilberte einen Orgasmus. Bald nach dieser Episode wird Marcel schwer krank. Erst als seine Freundin ihn zum Tee einlädt und er sich endlich in ihrer Familie willkommen weiß, verschwinden die Erstickungsanfälle. Gilberte stellt sich jedoch schon bald als egoistisch und launisch heraus. Marcel scheint ihr zunehmend lästig zu sein. Um das Ideal seiner Liebe zu retten, beschließt er, sie nicht mehr zu sehen.
„Wie auf einer Pflanzung, wo die Blüten zu verschiedener Zeit zu Früchten reifen, hatte ich sie am Strand von Balbec bereits als alte Damen gesehen, als jene vertrockneten Fruchtschoten, jene schwammigen Wurzelknollen, die meine Freundinnen eines Tages sein würden. Doch was tat das? Noch war Blütezeit.“ (Bd. II, S. 671)
Zwei Jahre darauf reist Marcel mit seiner Großmutter nach Balbec, einem Badeort an der bretonischen Küste. Dort freundet er sich mit Robert de Saint-Loup an, einem jungen Aristokraten, der gerade seinen Militärdienst leistet. Auch lernt er dessen Onkel, den schillernden Baron von Charlus, kennen. Beide entstammen dem Geschlecht der vornehmen Adelsfamilie Guermantes. Marcel ist entzückt, endlich Zugang zu dieser Schicht gefunden zu haben. Eines Tages erblickt er auf der Strandpromenade eine Schar junger Mädchen in Sportkleidung. Sie erscheinen ihm hochmütig, gefühlskalt und geschmeidig, wie proletarische Amazonen von einem anderen Stern. Später erfährt er, dass sie bloß die bürgerlichen Töchter wohlhabender Kaufleute sind. Zunächst fühlt er sich mal zu der einen, mal zu der anderen von ihnen hingezogen. Am Ende verliebt er sich in die dunkelhaarige Albertine. Vor ihrer Abreise lässt sie ihn abends in ihr Hotelzimmer kommen, doch als er sie zu küssen versucht, wird er empört zurückgewiesen.
Guermantes
Wenige Jahre später zieht Marcel mit seiner Familie in eine neue Wohnung neben dem Pariser Stadtpalais des Herzogs und der Herzogin von Guermantes. Er verliebt sich in die Herzogin und stellt ihr auf seinen Morgenspaziergängen nach. Verzweifelt besucht er Saint-Loup in der Garnisonsstadt Doncières, damit dieser sich bei seiner Tante für ihn einsetzt. Ohne Erfolg. Zurück in Paris besucht er einen Empfang im Salon von Madame de Villeparisis. Auch sie ist mit der Familie Guermantes verwandt, doch ihre Gesellschaften haben einen zweifelhaften Ruf. An Marcels jüdischem Freund Bloch entzünden sich zahllose Diskussionen über den jüdischen Offizier Dreyfus, der des Hochverrats angeklagt ist. Die meisten Salonbesucher geben sich als Antisemiten zu erkennen.
„Sie wissen ja nicht einmal, worauf Sie sich niedersetzen. Sie bieten Ihrem Hinterteil eine Directoire-Chauffeuse als Louis-quatorze-Sessel an. Eines Tages werden Sie die Knie von Madame de Villeparisis für den Abtritt halten und wer weiß was dort tun.“ (Charlus zu Marcel, Bd. III, S. 777)
Marcels Großmutter erleidet einen Schlaganfall. Nach wochenlangem körperlichem und geistigem Verfall stirbt sie einen qualvollen Tod. Wenige Tage darauf kommt Albertine überraschend zu Besuch. Sie hat sich verändert, ist rundlicher und fraulicher geworden. Bereitwillig lässt sie sich von Marcel küssen und liebkosen. Obwohl sie ihm nichts mehr bedeutet, erwartet sie offenbar mehr von ihm. Gleichzeitig lädt ihn die Herzogin von Guermantes – nun, da er nicht mehr in diese verliebt ist – in ihren Salon ein. Marcels hohe Erwartungen an den Abend werden jedoch bitter enttäuscht. Die Gespräche der Hochgeborenen drehen sich um Belangloses, strotzen vor Standesdünkel und verknöchertem Kunstgeschmack. Selbst der viel gerühmte Witz der Herzogin wirkt aufgesetzt und geht immer auf Kosten anderer.
Sodom und Gomorrha
Marcel beobachtet von einem Versteck aus, wie der Baron von Charlus an den Westenmacher Jupien herantänzelt. Plötzlich begreift er: Die beiden Männer sind schwul. Er versteht endlich, weshalb Charlus sich ihm gegenüber mal überaus zuvorkommend, dann wieder aggressiv und beleidigend verhalten hat. Marcel verspürt sowohl Abscheu als auch Mitleid. Er vergleicht das Schicksal der Homosexuellen mit dem der Juden: So sehr sie sich auch bemühen, ihr Wesen zu verleugnen, früher oder später holt die einen ihr Laster und die anderen ihre Herkunft ein. Anschließend geht er zu einem Empfang beim Fürsten von Guermantes, dem Cousin des Herzogs. Auch hier schlagen ihm nichts als Antisemitismus, Boshaftigkeit und gepflegte Langeweile entgegen. Außerdem glaubt er nun in den meisten Menschen Anzeichen homosexueller Neigungen zu erkennen.
„(...) mit welcher List, welcher Beweglichkeit, welcher eigensinnigen Zähigkeit gleich der einer Kletterpflanze sucht doch in ihm die unbewusste, aber sichtbare Frau nach einem männlichen Organ.“ (über den Homosexuellen, Bd. IV, S. 37)
Im Frühjahr reist Marcel nach Balbec, wo ihn die schmerzliche Erinnerung an seine Großmutter einholt. Um sich abzulenken, trifft er sich mit Albertine. Im Kasino sieht er sie mit ihrer Freundin Andrée Brust an Brust vorbeitanzen. Ein befreundeter Arzt vermutet daraufhin, dass die beiden lesbisch seien. Albertine streitet den Verdacht entrüstet ab, doch Marcel bleibt misstrauisch. Er lässt sie kaum noch allein, ist grob und gemein zu ihr, bis er schließlich genug von ihr hat. Als sie ihm allerdings beiläufig von einer Freundschaft mit zwei Frauen erzählt, die ihm als lesbisch bekannt sind, macht er eine Kehrtwende. Er ist nun fest entschlossen, sie vor dem angenommenen Laster zu bewahren, und reist unverzüglich mit ihr nach Paris ab.
Die Gefangene
Seit Jahren versucht Marcel zu schreiben. Zum großen Kummer seiner Eltern hat er aber noch nichts Nennenswertes zu Papier gebracht. Gemeinsam mit Albertine zieht er in die Wohnung seiner Eltern, damit er seine Geliebte besser überwachen kann. Nur in Begleitung von Andrée darf sie das Haus verlassen. Mit Albertine ist er vor allem dann glücklich, wenn sie schlafend neben ihm liegt. Nur dann kann er sich sicher sein, dass sie ganz und gar ihm gehört. Ansonsten aber steigert er sich immer mehr in seine Eifersucht hinein. Seine Freundin verstrickt sich in Lügengeschichten, streitet Bekanntschaften mit gewissen Frauen ab, um sie an anderer Stelle unverblümt zuzugeben. Als sie den Wunsch äußert, einen musikalischen Abend bei den Verdurins zu besuchen, verhindert Marcel dies und geht selbst hin. Der Baron von Charlus erzählt ihm, dass die lesbische Tochter des Komponisten Vinteuil und deren Liebhaberin angemeldet gewesen seien. Jetzt glaubt Marcel Albertines wahre Motive zu erkennen und stellt sie zur Rede. Ihre Rechtfertigungen werden immer abstruser, doch auch ihre Wut auf das sinnlose Katz-und-Maus-Spiel scheint zu wachsen. Marcel täuscht Trennungsabsichten vor, nur um sich kurz darauf wieder mit Albertine zu versöhnen. Als er sich schließlich dazu durchringt, sich im Guten von ihr zu trennen und allein nach Venedig zu reisen, hat Albertine frühmorgens bereits das Haus verlassen – mit gepackten Koffern.
Die Flüchtige
Marcel ist wie erstarrt. Er zerbricht sich den Kopf über die Gründe für Albertines Flucht und versucht, sie mithilfe listiger Manöver zurückzuholen. Vergeblich. Schließlich fleht er sie in einem Telegramm um ihre Rückkehr an. Kaum hat er es abgeschickt, erreicht ihn selbst eines von Albertines Tante: Das Mädchen sei bei einem Reitunfall ums Leben gekommen. Seine dumpfe Trauer wird schon bald von Blitzen eifersüchtigen Misstrauens erhellt. Er beauftragt einen Freund, in der Vergangenheit der Verstorbenen zu schnüffeln. Das Ergebnis: Albertine habe in Duschanstalten und an Flussufern mit älteren Damen und blutjungen Wäscherinnen zärtliche Orgien gefeiert. Doch sind die Informationen verlässlich? Absolute Gewissheit wird er niemals erlangen.
„Die Krankheit ist derjenige unter allen Ärzten, auf den man am ehesten hört: Der Güte, dem Wissen gibt man Versprechungen; man gehorcht dem Leiden.“ (Bd. IV, S. 215)
Allmählich beginnt Marcel, Albertine zu vergessen. Da vertraut Andrée ihm weitere Geheimnisse an: Ja, auch sie habe mit ihr eine lesbische Beziehung geführt. Ihn, Marcel, habe Albertine aber nicht wegen anderer Frauen verlassen. Im Gegenteil: Sie habe eingesehen, dass Marcel sie nicht heiraten und also nicht von ihrem Laster erlösen werde. Später reist Marcel mit seiner Mutter nach Venedig. Fasziniert von der Schönheit der Stadt und deren Bewohnerinnen wird er sich seiner Gleichgültigkeit Albertine gegenüber bewusst. Bei seiner Rückkehr nach Paris erkennt er, dass keine seiner Jugendüberzeugungen Bestand hat: Der einst so romantische Saint-Loup heiratet aus Geldnot die vermögende Gilberte und entpuppt sich als heimlicher Homosexueller. Und ebendiese Gilberte gesteht Marcel, dass sie bei ihrem ersten Treffen an der Weißdornhecke in ihn verliebt gewesen sei. Er jedoch hat ihren verlangenden Blick damals als verachtend empfunden.
Die wiedergefundene Zeit
Marcel verbringt mehrere Jahre in einem Sanatorium, bevor er Anfang 1916 nach Paris zurückkehrt. Der Krieg hat die Stadt und ihre Menschen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Madame Verdurin, einst von der feinen Gesellschaft geschmäht, unterhält mittlerweile den vornehmsten Salon der Stadt. Saint-Loup kämpft tapfer an der Front, während Gilberte auf ihrem Anwesen bei Combray die Stellung hält. Verzweifelt schreibt sie Marcel, dass die geliebten Landschaften ihrer Kindheit zerstört seien. Während eines nächtlichen Spaziergangs durch Paris betritt er neugierig ein offensichtlich sehr gut besuchtes Hotel. Aus einem der Zimmer hört er eine Peitsche knallen, einen Mann stöhnen und um Gnade flehen. Marcel guckt durch ein verstecktes Fenster. Voller Entsetzen sieht er den Baron von Charlus, an ein Bett gefesselt und blutüberströmt. Sein „Folterknecht“ verlässt eben den Raum, als Jupien eintritt. Der Westenmacher verwaltet das Männerbordell für den Baron, und dieser beklagt sich über die Harmlosigkeit seines Peinigers. Am selben Abend überlebt Marcel einen schrecklichen Fliegerangriff. Wenige Tage später erfährt er, dass Saint-Loup gefallen ist.
„ (...) ihr Leib aber (an der Stelle, die beim Mann verunziert ist wie mit einem Krampen, der in einer demontierten Statue stecken geblieben ist) schloss sich mit zwei muschelförmigen Schalen über dem Ansatz der Schenkel zu einer sanften, beruhigenden und klösterlichen Wölbung wie der des Horizonts nach Sonnenuntergang.“ (über Albertine, Bd. V, S. 108)
Wieder vergehen viele Jahre im Sanatorium, ohne dass sich Marcels Gesundheitszustand verbessert. Zurück in Paris besucht er eine Matinee beim Fürsten von Guermantes. In dessen Hof tritt er zufällig auf einen unebenen Pflasterstein und verspürt plötzlich ein Glücksgefühl, das mit dem Madeleine-Erlebnis vergleichbar ist: Der Stein erinnert ihn an die ungleichen Bodenplatten des Baptisteriums von San Marco in Venedig. Marcel erkennt, was all seine sinnlichen Erinnerungserlebnisse gemein haben: Die Vergangenheit verschmilzt mit der Gegenwart, er befindet sich für einen Augenblick außerhalb der Zeit und kann das Wesen der Dinge genießen. Er begreift, dass es die Aufgabe des Schriftstellers ist, auf der Suche nach der Wahrheit die ihm selbst innewohnenden Symbole zu entziffern, Verbindungen zwischen Gegenständen aufzuzeigen und sie durch seinen besonderen Stil anderen verständlich zu machen. Marcel ist nun fest entschlossen, mit seinem Roman zu beginnen.
„‚Oh! Muscheln!‘, sagte Albertine, ‚ich möchte so gern welche essen!‘“ (Bd. V, S. 176)
Als er den Saal der Matinee betritt, fühlt er sich wie auf einem grotesken Maskenball: Fast alle seine Bekannten sind stark gealtert, sie zittern greisenhaft und ihre Gesichter wirken wie Gipsmasken. Madame Verdurin hat den durch den Krieg finanziell ruinierten Fürsten geheiratet und gebietet nun als Fürstin von Guermantes über die vornehme Welt. Derweil hat sich der Herzog von Guermantes die gut konservierte Odette zur Geliebten genommen. Egal ob gesellschaftliche Stellung oder politische Überzeugungen, nichts ist mehr, wie es war. Marcel spürt, dass ihm selbst nicht mehr viel Zeit bleibt. Von nun an kennt er nur noch ein Ziel: den Menschen, an die er sich schreibend erinnert, ihren Platz in der Zeit zu verleihen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die sieben Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bilden eine Art literarische Sinfonie: Der erste Band beginnt mit einer Ouvertüre, die wie ihr musikalisches Gegenstück die zentralen Themen vorwegnimmt. Der Ich-Erzähler erinnert sich in seinen schlaflosen Nächten an seine Kindheit auf dem Land, an die wichtigsten Orte und Personen in seinem Leben und führt mit der weltberühmten Madeleine-Episode das Motiv der sinnlichen Erinnerung ein. Anschließend variiert der Autor die Themen und Motive immer wieder neu und spiegelt sie in verschiedenen Situationen und Lebensgeschichten. Der letzte Band endet mit einem furiosen Finale: Auf dem „Ball der Greise“ lässt Proust alle noch lebenden Figuren einen Schlusstanz aufführen. Über die Bände verstreut komponiert Proust immer wieder wahre Wortgemälde: Die Landschaftsbeschreibungen und Strandszenen mit der Schar junger Mädchen etwa wirken, als hätte er die Bilder impressionistischer Künstler wie Boudin, Manet oder Monet in Worte gefasst. Porträts von Albertine oder der gealterten Gesellschaft in der Schlussszene erinnern hingegen an die kubistischen und futuristischen Künstler seiner Zeit. Gemäß Zeitzeugen schrieb der Asthmatiker Proust, wie er sprach: ausschweifend, verschachtelt und atemlos. Nicht umsonst werden ihm einige der längsten Sätze der französischen Literatur zugeschrieben.
Interpretationsansätze
- Das Schaffen von Kunst durch die Erinnerung steht im Mittelpunkt von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Proust unterscheidet zwischen dem willentlichen und dem unwillkürlichen Erinnern. Während Ersteres oft scheitert, wird Letzteres spontan durch unvermittelte Sinneseindrücke hervorgerufen.
- Ein Schlüsselmotiv ist die Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis und die daraus folgende Aussichtslosigkeit menschlicher Beziehungen. Nach der Trennung von Albertine weiß Marcel nur, dass er gar nichts über sie wusste. Sie hat sich in seiner Vorstellung in unzählige, einander widersprechende Versionen aufgelöst.
- Proust macht die Homosexualität zu einem Hauptthema und verarbeitet damit auch seine eigene Biografie als Schwuler, der sich nie offen zu seiner sexuellen Orientierung bekannte. Außerdem zieht er wiederholt Parallelen zwischen Homosexualität und Judentum. Prousts Mutter war jüdisch, und er sah diesen Teil seiner Identität ähnlich wie seine Sexualität als „angeborene Krankheit“, die er bestenfalls verbergen konnte.
- Der Autor spielt virtuos mit der Spannung zwischen Autobiografie und Fiktion. Viele Figuren tragen Züge realer Personen, viele Ereignisse basieren auf tatsächlichen Erlebnissen. Charlus, Bloch, Swann und der Ich-Erzähler ähneln sowohl Proust selbst als auch Bekannten des Autors.
- Proust formuliert seine ästhetische Philosophie: Kunst bedeutet für ihn, unter die Oberfläche der Dinge zu schauen, Gemeinsamkeiten zwischen ihnen zu entdecken und sie mithilfe der Metapher und des schönen Stils zu verbinden. Die Forderung nach einer realistischen oder gar politischen Kunst bezeichnet er als absurd.
- Mit einem nostalgisch-ironischen Blick beschreibt er das Ende der Belle Époque. Als Kenner der Salonszene seiner Zeit nimmt er immer wieder die Borniertheit des Großbürgertums aufs Korn. Zugleich schildert er mit einer Mischung aus Satire und Bedauern den Niedergang der Aristokratie vor dem Ersten Weltkrieg.
Historischer Hintergrund
Von der Belle Époque in die Moderne
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit spielt größtenteils im Frankreich der Belle Époque, in einer Zeit des relativen Friedens und Wohlstands zwischen dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Die 1875 ausgerufene Dritte Republik bescherte dem aufstrebenden Großbürgertum ideale Bedingungen, um von der zweiten Welle der industriellen Revolution zu profitieren. Automobile verdrängten die Kutschen von den Straßen, Flugzeuge und die Verbreitung des Telefons ließen Entfernungen schwinden, und zur Pariser Weltausstellung 1889 baute man den Eiffelturm, der bis in die schwindelnde Höhe von 300 Metern emporgetrieben wurde. In den Pariser Salons feierten die Privilegierten das Leben, die Schönheit und sich selbst.
Im kulturellen Leben gewann etwa ab 1890 der Begriff des Fin de Siècle an Bedeutung. Zur Zeit der Jahrhundertwende wechselten sich übersteigerte Zukunftseuphorie und verzweifelte Endzeitstimmung ab. Die rasanten Veränderungen in Wissenschaft und Gesellschaft sorgten für mehr Freiheit, während bestehende Wertvorstellungen ins Wanken gerieten. Viele Künstler rebellierten gegen die Zwänge und Konventionen ihrer Zeit mit einer frivolen Lebensweise, exzessivem Drogenkonsum und einem offeneren Umgang mit der (Homo-)Sexualität. Der typische Dandy des Fin de Siècle sah seine Lebensaufgabe vor allem darin, seinen Stil und sich selbst zu kultivieren. Marcel Proust gilt zugleich als großer Chronist dieser Epoche und als Wegbereiter der anbrechenden literarischen Moderne.
Entstehung
Proust schrieb Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zwischen 1909 und 1922. Im Januar 1909 widerfuhr ihm durch den Geschmack von Zwieback und Tee jenes Schlüsselerlebnis, das er im Roman als Madeleine-Szene verewigte. Und bereits am 16. August desselben Jahres schrieb er an seine Freundin Madame Straus: „Sie werden mich lesen – und vielleicht mehr als Ihnen lieb ist –, denn ich habe soeben ein langes Buch begonnen – und beendet.“ Im Rückblick eine allzu optimistische Einschätzung: Zwar existierte zu diesem Zeitpunkt bereits eine erste Version der Schlussszene. Ansonsten begann für Proust aber erst ein Schreiben ohne absehbares Ende. Ursprünglich war der Roman nur als zweibändiges Werk geplant. Doch als der erste Band 1913 in Druck ging, zeichnete sich ab, dass es mehr werden würden. Der zweite war bereits gesetzt, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und Prousts Verleger das Projekt auf Eis legte. Auch das Leben des Autors schrieb den Roman mehrmals um: Im Mai 1914 kam Prousts Sekretär Alfred Agostinelli, eines von mehreren Vorbildern für die Figur der Albertine, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Proust entwickelte daraufhin einen völlig neuen Romanteil, der Albertines Gefangenschaft, ihre Flucht und ihren Tod behandelte. Er veränderte seine Entwürfe im Lauf der Jahre immer wieder, schnitt Passagen an einer Stelle heraus und fügte sie anderswo ein. Selbst die zwischen 1917 und 1918 entstandene Reinschrift aller noch unveröffentlichten Teile blieb keinesfalls endgültig, denn bis zu seinem Tod 1922 schrieb der Autor immer weiter. Die vielen Unstimmigkeiten, Wiederholungen, Brüche und unvollendeten Sätze zeugen von seinem manischen Schaffen.
Wirkungsgeschichte
Die sieben Bände des Romans erschienen zwischen 1913 und 1927 in Paris. Während Unterwegs zu Swann noch weitgehend auf Unverständnis stieß, gewann Proust 1919 für Im Schatten junger Mädchenblüte mit dem Prix Goncourt die wichtigste literarische Auszeichnung Frankreichs. Das zeitgenössische Echo blieb dennoch gespalten: Einige Vertreter der linken Avantgarde kritisierten den Autor als müßigen Snob, der sozial irrelevante Schöngeisterei produziere. Von Vertretern der rechtskonservativen Seite wurde ihm die freimütige Schilderung der Homosexualität angekreidet. Sie sahen in seinem Roman den Inbegriff einer degenerierten Literatur, die zusammen mit den Werken von Sigmund Freud, Fjodor Dostojewski oder André Gide auf den Index gehöre.
Heute gilt Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vielen als das wichtigste literarische Werk des 20. Jahrhunderts. Spätestens 1972 fand es mit einem Sketch der britischen Komikergruppe Monty Python auch in die Popkultur Eingang: Darin sollen die Teilnehmer eines „Proust-Zusammenfassungs-Wettbewerbs“ den Inhalt der sieben Bände in 15 Sekunden wiedergeben – alle scheitern, und am Ende gewinnt „das Mädchen mit den größten Titten“. Volker Schlöndorff verfilmte 1984 den ersten Band unter dem Titel Eine Liebe von Swann. Zur Jahrtausendwende kam es dann zu einem echten Proust-Revival: Alain de Botton schrieb 1997 den augenzwinkernden Ratgeber Wie Proust Ihr Leben verändern kann, und 1998 erschien in Frankreich zum Entsetzen orthodoxer Proust-Fans Stéphane Heuets Comic-Adaption des Romans. Raoul Ruiz verfilmte 1999 Die wiedergefundene Zeit, Chantal Akerman 2000 Die Gefangene, und das Londoner Royal National Theater brachte im selben Jahr das Proust Screenplay des britischen Dramatikers Harold Pinter auf die Bühne.
Über den Autor
Marcel Proust wird am 10. Juli 1871 in Auteuil bei Paris geboren. Sein Vater ist ein berühmter Arzt, die Mutter stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie. Ab 1878 verbringt er die Ferien in dem Dorf Illiers bei Chartre, das später als Vorbild für das fiktive Combray dienen wird. 1881 erleidet der kränkliche Proust seinen ersten Asthmaanfall. Ab dem Folgejahr besucht er das Lycée Condorcet, wo er zusammen mit Schulkameraden verschiedene literarische Zeitschriften herausbringt. Nach dem Abitur dient Proust trotz seiner schwachen Gesundheit für ein Jahr in der Armee in Orléans. Anschließend studiert er Politik und Jura, bricht ab und macht in Philosophie und Literatur einen Abschluss. Auf Druck seines Vaters nimmt er 1895 eine unbezahlte Stelle als Bibliothekar an, lässt sich aber bald darauf krankschreiben. Sein nach außen hin müßiges Leben, die exzellenten Verbindungen zum Adel sowie die Besuche in den schicksten Pariser Salons verschaffen ihm den Ruf eines Snobs und gesellschaftlichen Emporkömmlings. Der Autor kämpft zeitlebens mit seiner Homosexualität, die sein Vater ihm während seiner Jugend noch durch einen Bordellbesuch hat austreiben wollen. Proust hat zahlreiche Liebhaber, bekennt sich aber nie offen zu seiner sexuellen Orientierung. 1896 erscheint sein erstes Buch, die Kurzgeschichtensammlung Les plaisirs et les jours (Freuden und Tage). Mit einem Kritiker, der sich abschätzig darüber äußert, duelliert er sich. 1903 stirbt sein Vater und zwei Jahre darauf die über alles geliebte Mutter. Proust erbt ein Vermögen, das ihm ein arbeitsfreies Leben im Luxus ermöglicht. Doch seine Gesundheit verschlechtert sich zusehends. Er zieht sich mehr und mehr in das Schlafzimmer seiner Pariser Wohnung zurück und arbeitet an seinem Lebenswerk À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Den ersten der sieben Bände gibt er 1913 auf eigene Kosten heraus. Die letzten drei veröffentlicht sein Bruder posthum bis 1927. Marcel Proust stirbt am 18. November 1922 an einer Lungenentzündung.
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