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Boris Godunow

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Boris Godunow

Reclam,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Ein Gründungswerk der russischen Nationalliteratur – im Westen vor allem berühmt durch die gleichnamige Oper.


Literatur­klassiker

  • Drama
  • Romantik

Worum es geht

Eine Deutung der Geschichte

Das Stück könnte auch „Der falsche Dimitri“ heißen. Denn dieser angebliche Zarensohn ist die eigentliche Hauptperson von Puschkins Drama. Zar Boris Godunow, der den wahren Dimitri ermorden ließ, reagiert lediglich auf den Vorstoß des falschen Dimitri und dessen Griff nach der Macht. Boris Godunow ist ein Historiendrama, wie man es von Schiller oder Shakespeare kennt. An Letzterem hat sich Puschkin vor allem orientiert. Er nannte das Stück sein Lieblingswerk – und es ist eines seiner bekanntesten geworden. Puschkin wurde damit zum Begründer der russischen Literatur, denn zuvor sprach und schrieb die russische Oberschicht nur Französisch. Trotz des historischen Gewands hat das Stück starke zeitgeschichtliche Bezüge: Fast zeitgleich mit Puschkins Niederschrift 1825 fand der Dekabristenaufstand gegen das Zarenregime statt. Puschkin stand den Dekabristen nahe. So entspricht es auch deren autoritätskritischem Denken, dass das Volk im ganzen Stück eine tragende Rolle spielt.

Take-aways

  • Mit Boris Godunow und anderen Werken begründete Alexander Puschkin die moderne russische Literatur.
  • Inhalt: Durch die Ermordung des jungen Thronfolgers Dimitri kann sich der Adlige Boris Godunow in Russland zum Zaren aufschwingen. Jahre später erfährt der Mönch Grigori von Godunows Machenschaften. Er gibt sich als Dimitri aus, der dem Attentat entkommen sei. Das Volk glaubt ihm, und auch Godunows Gegner unterstützen ihn. Der falsche Dimitri wird zum Zaren gekrönt; Godunow und seine Familie sterben.
  • Boris Godunow beruht im Wesentlichen auf dem Geschichtswerk eines russischen Historikers, das in den 1820er-Jahren erschien.
  • Die reale Herrschaft Godunows und Dimitris fiel in eine Zeit der Wirren, bevor 1613 die Herrschaft der Romanow-Dynastie begann.
  • Neben den historisch verbürgten Figuren weist Puschkin auch dem Volk eine aktive Rolle im Handlungsablauf zu.
  • Um lebendige Figuren und Szenen auf die Bühne zu bringen, orientierte sich Puschkin an Shakespeare.
  • Puschkin gelingt es, mittelalterliche und moderne Denkformen einfühlsam einander gegenüberzustellen.
  • Vor dem Hintergrund des Dekabristenaufstands gegen das Zarentum im Jahr 1825 deutet Puschkin die russische Geschichte als ein Auf und Ab von Rebellion und Reaktion.
  • In der westlichen Welt ist Boris Godunow hauptsächlich durch die gleichnamige Oper von Modest Mussorgski bekannt geworden.
  • Zitat: „Weißt du, wo unsere Stärke liegt, Basmanow? / Nein, nicht im Heer, nicht im Sukkurs der Polen – / Die Meinung zählt, die sich im Volk verbreitet.“

Zusammenfassung

Godunows Griff nach der Macht

An einem Februartag des Jahres 1598 unterhalten sich die Fürsten Schuiski und Worotynski im Kremlpalast über die politischen Ereignisse der jüngsten Zeit. Vor gut einem Monat starb der kinderlose Zar Feodor. Der Thronfolger, Feodors jüngerer Halbbruder Dimitri, ist bereits sieben Jahre zuvor in der Stadt Uglitsch an der Wolga ermordet worden. Auftraggeber war der Schwager des Zaren, der Adlige Boris Godunow. Schuiski weiß über die Hintergründe so genau Bescheid, weil er seinerzeit die Ermittlungen wegen der Ermordung geleitet hat. Nach dem Tod von Zar Feodor hat sich Godunow in das Neujungfrauenkloster in Moskau zurückgezogen, wo sich auch die trauernde Zarenwitwe aufhält.

„Welch eine fürchterliche Tat! Wahrscheinlich / Plagt den Verbrecher nunmehr das Gewissen. / Ihm ist das Blut des unschuldigen Jungen / Wohl eine Hürde auf dem Weg zum Thron.“ (Worotynski über Godunow, S. 11)

Das Volk in Moskau kennt die Hintergründe von Dimitris Tod nicht. Die Vertreter der adligen Bojaren und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Moskaus beknien Godunow regelrecht, den verwaisten Thron zu übernehmen. Er ist der Bruder der Zarenwitwe, weshalb er als Schwager des verstorbenen Feodor bereits nahe am Thron steht. Nur der ermordete Dimitri hätte ihn an der Machtergreifung hindern können. Schuiski und Worotynski durchschauen Godunows Spiel, nach außen so zu tun, als müsste er mangels eines natürlichen Thronfolgers einspringen. Die hochrangigen Fürsten schreiben sich selbst allerdings mehr Anrecht auf den Zarenthron zu als dem „Tataren“ Godunow.

„Wir schüren, wenn Boris sein Spiel nicht aufgibt, / Im Volk geschickt den Unmut gegen ihn. / Es wäre gut, wenn sie ihn fallen lassen.“ (Schuiski zu Worotynski, S. 13)

Gebannt verfolgt das Volk auf dem Roten Platz und vor dem Neujungfrauenkloster eine letzte Bittprozession der Reichsoberen zu Godunow. Nun lässt sich Godunow endlich erweichen und nimmt die Zarenkrone an. Eine Frau aus dem Volk, die ihr weinendes Kind eben noch getröstet hat, wirft es zu Boden, damit es weint, denn jetzt sind Freudentränen angesagt. Ein Mann verlangt nach Zwiebeln, um ebenfalls Tränen hervorzubringen. Worotynski nennt Schuiski einen gewieften Höfling, als dieser sich beim anschließenden Krönungsfest den Jubelnden anschließt.

Geschichtslektion für einen jungen Mönch

In seiner Mönchszelle im Tschudow-Kloster vollendet Vater Pimen im Jahr 1603 im Schein einer Lampe eine Geschichtschronik. Er hat die Ereignisse der Vergangenheit aufgezeichnet, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Da erwacht sein junger Zellenmitbewohner Grigori aus einem Traum, den er schon zum dritten Mal geträumt hat: Er steht auf einem Turm hoch über Moskau, die Menschen deuten spöttisch auf ihn, er fällt hinunter und erwacht.

„Schon seit der Knabenzeit muss ich, / Ich armer Mönch, in Klosterzellen leben. / Warum bleibt mir der Spaß im Heer versagt / Und darf ich nicht am Tisch des Zaren feiern?“ (Grigori, S. 29)

Der junge Mönch entstammt einer adligen Bojarenfamilie, ist seit dem Knabenalter im Kloster und sehnt sich nach dem Leben außerhalb der klösterlichen Mauern. Der alte Pimen erzählt ihm von seiner bewegten Jugendzeit im Krieg und bei Hof, von seinem Eintritt ins Kloster, wohin sich auch die Zaren Iwan und Feodor gelegentlich zurückzogen. Pimen war zufällig Zeuge von Dimitris Ermordung in Uglitsch und weiß, dass Boris Godunow der Auftraggeber war. Er bemerkt nebenbei, dass Dimitri jetzt ungefähr im selben Alter wäre wie Grigori, und übergibt dem jungen Mönch seine gerade vollendete Chronik, damit er sie weiterführe. Grigori ist erschüttert vom Los des Thronfolger Dimitri. Mit der Chronik hält er, wie er bemerkt, die Klageschrift gegen Godunow in seinen Händen.

Grigoris Flucht schlägt Wellen

Im Tschudow-Kloster herrscht helle Aufregung, weil der junge Mönche Grigori geflohen ist. Hinterlassen hat er die Botschaft: „Ich werde Zar in Moskau sein!“ Der Moskauer Patriarch ordnet gegenüber dem Klostervorsteher an, dass Zar Boris mit dieser Neuigkeit nicht beunruhigt werden soll. Für die Ergreifung des Flüchtigen soll gesorgt werden.

„Du hast durch Milde, Hilfen, manche Wohltat / Die Herzen deiner Knechte dir geneigt. / Doch weißt du selbst: Der dumpfe niedre Stand / Ist wechselhaft, rebellisch, abergläubisch / Leicht einer leeren Hoffnung zugetan.“ (Schuiski zu Boris Godunow, S. 73)

Unterdessen hat sich Godunow in seinem Palast in ein Gemach zurückgezogen. Er hadert mit seinem Gewissen und seinem Herrscherpech. Was immer er in bester Absicht für sein Volk tut, es wird ihm nicht gedankt: Ob er bei einer Hungersnot Brot und Geld für die Armen verteilen lässt, ihnen Arbeit verschafft oder nach einem Brand neue Gebäude errichten lässt – das Volk bleibt mürrisch. Man hängt Godunow auch eine Mitschuld am frühen Tod von Zar Feodor an.

„So sag / Ich nun die Wahrheit! Wisse: Dein Dimitri / Liegt tot im Grab ... und wird nicht auferstehen.“ (Usurpator zu Maryna, S. 99)

Auf seiner Flucht gelangt Grigori – in Gesellschaft der beiden umherziehenden Bettelmönche Missail und Waarlam – in einer Schenke an der Grenze zu Litauen an. Dort erfährt er, dass ihm die Schergen bereits auf den Fersen sind. Wenig später treten Grenzsoldaten ein und mustern die Anwesenden misstrauisch. Grigori, der Einzige, der gut lesen kann, missdeutet den von den Soldaten mitgeführten Steckbrief absichtlich so, dass der Verdacht auf den etwa 50-jährigen Warlaam fällt. Doch der empörte Warlaam kann den Steckbrief immerhin so weit entziffern, dass Grigori entlarvt wird. Durch einen Sprung aus dem Fenster kann er entkommen.

Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer

Am Ende eines Festessens, das Fürst Schuiski gibt, erfährt er von seinem Freund, Graf Puschkin, vertrauliche Neuigkeiten aus der polnisch-litauischen Hauptstadt Krakau. Puschkins Neffe Gawrila hat ihm schriftlich mitgeteilt, dort sei ein angeblicher Dimitri erschienen. Der konnte sich so glaubhaft als Überlebender des Attentats in Uglitsch ausweisen, dass er zum polnischen König Sigismund vorgelassen wurde. Der König hat ihm sogar seine Hilfe bei der Rückgewinnung des Zarenthrons zugesagt. Schuiski und Puschkin vereinbaren, darüber Stillschweigen zu bewahren.

„Verstand, nicht Herkunft macht den Wojewoden! / Das Ämterrecht entzieh ich den Bojaren. / Soll doch das Adelspack darüber murren, / Der ungesunde Brauch muss endlich fallen.“ (Boris Godunow, S. 139)

Durch Spione unter den Dienern Schuiskis und Puschkins erfährt auch Boris Godunow von der Ankunft des Boten aus Krakau. Er lässt Schuiski zu sich rufen. Dieser war ohnehin schon auf dem Weg zum Zaren, um ihm von dem vermeintlichen Dimitri zu berichten, der sich als rechtmäßiger Anwärter auf den Zarenthron sehe und in Polen-Litauen politische Unterstützung erhalten habe. Man weiß nichts über die Herkunft dieses falschen Dimitri. Schuiski und Godunow sind sich bewusst, dass trotz Godunows mildtätiger Herrschaft kein Verlass auf das abergläubische Volk ist: Ein dreister Mensch könnte diesem weismachen, er sei Dimitri und damit der wahre Thronerbe. Der Zar erteilt den Befehl, die Grenzen zu Litauen abzuriegeln. Von Schuiski will er wissen, ob er es für möglich halte, dass Dimitri in Uglitsch dem Attentat entkommen konnte und ein anderer an seiner Stelle beerdigt wurde. Schuiski hält dies für ausgeschlossen. Trotzdem ist Godunow zutiefst beunruhigt.

Der Usurpator sammelt Verbündete

In Krakau und auf Schloss Sambor sucht und findet Grigori alias Dimitri weitere Verbündete. Er sichert sich die Unterstützung Roms, indem er seinen Übertritt zum katholischen Glauben und die Unterwerfung von Russlands Kirche unter den Heiligen Stuhl verspricht. Das russische Volk werde ihm folgen. Gawrila Puschkin macht ihn mit dem Fürsten Kurbski und anderen russischen Exilanten bekannt. Sie alle wollen mithelfen, ihm den Weg zum Zarenthron zu ebnen. Ein schmeichlerischer Dichter prophezeit schon den Erfolg. Alle lassen ihn bereits als Großfürsten Moskaus hochleben.

„Das Volk wird nur durch Wachsamkeit und Strenge / Zu zügeln sein. So dachte schon Iwan, / Der kluge Zar, Bezwinger vieler Stürme. / Und auch sein wüster Enkel dachte so.“ (Boris Godunow, S. 139)

Auf Schloss Sambor trifft der falsche Dimitri die Tochter eines Verbündeten, Maryna, in die er verliebt ist. Von ihr will er um seiner selbst willen geliebt werden und offenbart sich ihr darum ganz offen als Usurpator. Maryna macht ihm klar, dass sie nur dann gewillt ist, ihn zu heiraten, wenn Godunow beseitigt ist, er ihr als Zar einen Antrag macht und sie damit Zarin werden kann. Daraufhin imponiert er ihr, indem er seine Rolle endgültig annimmt und sich nicht einmal davor fürchtet, dass sie ihn entlarven könnte: Wer würde schon einer Polin glauben, wenn ihr Wort gegen das eines Zarewitsch stünde?

Gerüchte ebnen den Weg nach Moskau

Im Herbst 1604 setzt der Usurpator mit seinen Verbündeten zur Eroberung Russlands an und überschreitet mit seinen Truppen die litauisch-russische Grenze. Er lässt das Gerücht streuen, er sei der tot geglaubte Dimitri, und das leichtgläubige Volk gerät ins Schwanken.

„Russen, Litauer / Erkannten ihn schon längst an als Dimitri. / Ich gebe darauf übrigens nicht viel. / Vielleicht ist er der wirkliche Dimitri, / Vielleicht ein Usurpator. Sicher weiß ich / Nur dies: Es wird ihm früher oder später / Der Erbe des Boris in Moskau weichen.“ (Puschkin, S. 149)

In Moskau berät der Zar mit dem Patriarchen Gegenmaßnahmen. Der Patriarch schlägt vor, die inzwischen als Reliquien verehrten Gebeine des ermordeten Dimitri von Uglitsch nach Moskau zu überführen, um dem Volk zu zeigen, dass Dimitri wirklich tot ist, und so die Propaganda des Usurpators zu widerlegen. Fürst Schuiski rät jedoch davon ab, „Heiliges für ein weltliches Geschäft“ zu missbrauchen. Stattdessen will er selbst zum Volk sprechen und den Usurpator einen Betrüger nennen. Der Zar ist einverstanden.

„Weißt du, wo unsere Stärke liegt, Basmanow? / Nein, nicht im Heer, nicht im Sukkurs der Polen – / Die Meinung zählt, die sich im Volk verbreitet.“ (Puschkin, S. 151)

Am 21. Dezember 1604 verliert der Zar die erste Schlacht gegen den Usurpator – die deutschen und französischen Söldner unter seinem Kommando kämpfen zwar, doch seine russischen Soldaten ergreifen vor dem angeblichen Zarewitsch die Flucht.

Zar Boris verliert sein Volk

Während der Zar im Rahmen einer Messe in der Kathedrale von Moskau den entlaufenen Mönch Grigori mit dem Kirchenbann belegen lässt, tritt auf dem Platz davor ein Narr mit einer eisernen Kappe auf. Als der Zar mit seinem Gefolge die Kathedrale verlässt, bezichtigt der Narr ihn des Kindsmords und bezeichnet ihn als Herodes. Von nun an kann Godunow sich nur noch mit Repressalien vor der offenen Rebellion schützen. In Moskau herrscht eine Atmosphäre der Angst.

Das wird auch dem Usurpator in seinem Feldlager berichtet. Außerdem erfährt er, der Zar habe nach der ersten Niederlage Fürst Schuiski zum Armeeführer ernannt. Trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit seiner Verbündeten eröffnet der Usurpator eine zweite Schlacht, die jedoch in einer vernichtenden Niederlage für ihn endet. Anschließend stellt Gawrila Puschkin in einem Gespräch mit ihm verwundert fest, dass sich der Usurpator trotz allem noch nicht besiegt sieht.

Gleichzeitig ist sich Zar Boris in seinem Palast in Moskau darüber im Klaren, dass dieser militärische Erfolg nur ein Pyrrhussieg war, wenn es ihm nicht gelingt, das Volk zu zähmen. Gemeinsam mit seinem Vertrauten, dem Heerführer Basmanow, den er erst kurz zuvor in die Duma befördert hat, berät er Pläne für eine alsbaldige Reichsreform. Er will den bojarischen Erbadel entmachten und fähige Männer einsetzen, die das Volk im Zaum halten. Dazu will er das Rangregister abschaffen, dem zufolge Adlige das Recht haben, Amtsstellen auch ohne Eignung des Kandidaten zu besetzen. Dieser Vorschlag gefällt dem nichtadligen Aufsteiger Basmanow.

Kurz nach dieser Unterredung erleidet Godunow einen Blutsturz. Den Tod vor Augen lässt er eilig seinen Sohn Feodor herbeiholen und unterweist den Jungen in der Kunst und den Prinzipien seiner Herrschaft. Anschließend schwört er in Anwesenheit des Patriarchen die herbeigeeilten Bojaren auf die Gefolgschaft für seinen Sohn ein. Danach wird Boris Godunow das Haar geschoren, damit er nach russischer Herrschersitte sein Leben als Mönch beenden kann.

Der neue Zar erntet Schweigen

Durch seinen Unterhändler Puschkin lässt der Usurpator bei Basmanow vorfühlen, auf wessen Seite der sich zu stellen gedenkt: auf die des Godunow-Sohns, dessen Beschützer er ist, oder auf die Seite des Usurpators. Puschkin macht gegenüber Basmanow keinen Hehl daraus, dass es ihm egal ist, ob Grigori der wahre Dimitri ist oder nicht. Es komme nicht einmal auf die militärische Stärke an, denn Dimitris Truppen und Verbündete seien schwach. Entscheidend sei, wen das Volk als Zar anerkenne. Wenn Basmanow, Godunows Günstling, Dimitri zum Zaren ausrufe, werde er zum zweiten Mann in Dimitris Zarentum. Basmanow bleibt hin- und hergerissen zurück. Was ist schlimmer: ein Verrat oder eine Gefangennahme durch die Rebellen?

Auf dem Roten Platz ruft Puschkin die Moskauer dazu auf, Dimitri Gefolgschaft zu leisten. Ganz Russland habe sich schon unterworfen, auch Basmanows Regimenter hätten ihm inzwischen den Eid geschworen, und Boris Godunow sei bereits von Gott gestraft. Ein Bauer fordert die Volksmassen auf, Godunows Sippe den Garaus zu machen. Sie stürmen zum Kreml, doch sie kommen zu spät: Godunows Frau und Sohn werden vergiftet aufgefunden. Das Volk ist entsetzt. Die Aufforderung des Rädelsführers Mossalski, Zar Dimitri hochleben zu lassen, quittiert es mit Schweigen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Boris Godunow ist nicht in Akte gegliedert, sondern folgt einer durchgehenden Aneinanderreihung von 23 Einzelszenen. Deren Schauplätze wechseln häufig, wodurch sich das Drama mitreißend wie ein modernes Filmdrehbuch liest. Zwischen der vierten und fünften Szene vollzieht sich ein Zeitsprung von 1598 ins Jahr 1603; die weitere Handlung erstreckt sich dann bis ins Jahr 1604. Die ersten vier Szenen, die die Machtergreifung Godunows zum Inhalt haben, sind somit eine Art Prolog. Beides, die Vielzahl der Schauplätze und die sich über sieben Jahre erstreckende Handlung, sind eine Absage an das klassische Drama.

Geschrieben ist das Werk hauptsächlich in ungereimten Versen, teilweise auch in Prosa. In der Schlachtszene sprechen die Soldaten auch im russischen Original teilweise in deutscher und französischer Sprache. Jede Person wird durch eine ihr eigene Sprechweise charakterisiert. Im Rahmen der russischen Theaterliteratur schuf Puschkin mit Boris Godunow eine neue Art von Drama, die dem Alltagsleben näherstand als bisherige Formen. Er orientierte sich dabei an Shakespeare.

Interpretationsansätze

  • Die Legitimität der Herrschaft ist ein zentrales Thema des Stücks. Godunow selbst klagt, dass es ihm auch mit noch so gutem Regieren nicht gelungen sei, die Moskauer von der Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft zu überzeugen: Das Volk beharrt auf der traditionellen Ansicht, allein die leibliche Erbfolge sei eine Thronlegitimation. Das verdeutlicht Puschkin, indem er den falschen Dimitri am Ende vor ein schweigendes Volk stellt, das weiterhin am Thronanspruch zweifelt. Damit deutet er über das Ende des Dramas hinaus: Der historische Pseudo-Dimitri wurde nach kurzer Regierungszeit im Auftrag von Fürst Schuiski ermordet.
  • Das Volk spielt in dem Stück eine tragende Rolle. Vor allem in der Sowjetzeit wurde die Auffassung vertreten, Puschkin fasse das Volk in Boris Godunow als autonomen Handlungsträger auf.
  • Im Gegensatz zu Puschkins Vorbild Shakespeare gibt es in Boris Godunow keine Entwicklung der Charaktere. Zar Boris etwa ist von Anfang an ein Mann, der sich bewusst ist, dass er die Konsequenzen seiner Taten zu tragen hat.
  • Puschkin stellt mittelalterliche und moderne Denkformen sehr effektvoll einander gegenüber: Als mittelalterlich erscheint vor allem die Sphäre des Religiösen. Dazu gehören unter anderem die Klosterszenen und der Reliquienkult um die Gebeine des ermordeten Dimitri. Modern mutet dagegen das zynische und opportunistische Verhalten der Höflinge Schuiski und Basmanow an. Auch Gawrila Puschkin durchschaut völlig rational die psychologischen Hintergründe der Taten des Usurpators sowie des Volks, das er geschickt wie ein Agitator lenkt.
  • Puschkin präsentiert im Stück typische Aspekte der russischen Geschichte zwischen Aufbruch und Reaktion. Ebenso wie sein historisches Vorbild plant Zar Boris Godunow im Drama politisch-gesellschaftliche Reformen. Dazu zählt die beabsichtigte Abschaffung des Ämterrechts der Bojaren.

Historischer Hintergrund

Die russischen Zaren

Im Mittelalter war Russland in Wikingerhand: Die russischen Fürstentümer wurden geschaffen durch die sogenannten Waräger, skandinavische Seefahrer und Händler. Etwa zur gleichen Zeit, als die Wikinger über die Nordsee nach Westeuropa ausgeschwärmt waren, hatten sie auch die Ostsee überquert und waren vom Baltikum aus über die großen Flusssysteme nach Süden vorgedrungen, namentlich über den Dnjepr bis ans Schwarze Meer. Ab etwa 900 gründeten sie Fürstentümer und übernahmen den christlich-orthodoxen Glauben sowie die ostslawische Sprache der Bevölkerung. Die russischen Fürsten während des Mittelalters gehörten der Rurikiden-Dynastie an, benannt nach dem warägischen Fürsten Rurik, der als Gründer des altrussischen Staates gilt. Der vorvorletzte Rurikide war Iwan III., er erhob Moskau zur russischen Großmacht und nahm 1478 den Zarentitel an. Ihm folgte Iwan IV., der als Iwan der Schreckliche bekannt wurde und die Vorherrschaft Moskaus festigte. Mit dessen schwächlichem Sohn Fjodor (oder Feodor) starb 1598 der letzte Rurikide. Ihm folgte Boris Godunow – der erste ursprüngliche Russe auf dem Zarenthron. Der ermordete Feodor-Sohn Dimitri hätte als Rurikiden-Spross in den Augen des Volks eine größere Legitimität gehabt als der in die Zarenfamilie eingeheiratete Godunow. Auf den Usurpator Dimitri, der nach einem knappen Jahr Herrschaft ermordet wurde, folgte Fürst Schuiski, der von 1606 bis 1610 russischer Zar war. Ab 1613 regierte dann wieder eine stabile Dynastie: die Romanows.

Der Romanow-Zar Peter der Große öffnete Russland um 1700 den damals modernen westlichen Einflüssen. Die Oberschicht nahm intensiven Anteil an der Aufklärung mit ihrem freiheitlichen und demokratischen Gedankengut, nicht zuletzt durch die Politik der deutschstämmigen Zarin Katharina der Großen, die von 1762 bis 1796 regierte. Davon waren die ganze junge Adelsgeneration und auch junge Offiziere in Russland geprägt. Erst nach dem Wiener Kongress 1814/15 setzte wie in allen europäischen Monarchien eine scharfe Reaktion in Form von politischer Unterdrückung und Zensur ein: Katharinas Enkel Zar Alexander I. stand für diese Entwicklung in Russland. Dagegen wandte sich gleich nach dem Tod Alexanders im Dezember 1825 der Dekabristenaufstand junger russischer Offiziere. Er wurde von Alexanders Nachfolger Nikolaus I. sofort mit aller Härte niedergeschlagen. Der Dichter Alexander Puschkin, der etliche am Aufstand beteiligte Offiziere kannte, wurde der persönlichen Zensur des Zaren unterstellt.

Entstehung

Das Drama Boris Godunow entstand 1825. In den vorausgegangenen Jahren war Puschkin wegen seiner Werke oder wegen unbotmäßiger Äußerungen immer wieder in Konflikt mit der Zensurbehörde geraten, einmal hatte ihm sogar die Verbannung nach Sibirien gedroht. 1824 wurde er dann aus dem Staatsdienst entlassen. In der Folge musste er auf dem Gut seiner Eltern leben, wo auch Boris Godunow entstand. In Bezug auf die historischen Einzelheiten orientierte sich Puschkin am Werk Geschichte des russischen Staates des Historikers Nikolai Michailowitsch Karamsin, das in jenen Jahren in zwölf Bänden erschien. Praktisch sämtliche in Puschkins Stück auftretende Figuren, also nicht nur die Hauptfiguren, sind historische Personen. Das Stück wurde 1831 veröffentlicht, die Uraufführung fand aber erst 1870 in St. Petersburg statt.

Wirkungsgeschichte

Der Historiker und Literat Karamsin lieferte durch sein Werk nicht nur die geschichtlichen Details für Boris Godunow, er war auch insofern ein wichtiger Vorläufer Puschkins, als er sich darum bemühte, die russische Sprache zu einer modernen Literatursprache zu formen. Dies gelang Puschkin in so hohem Maß in seiner Erzählprosa wie auch in seinen Theaterwerken, dass er für viele geradezu als Schöpfer der russischen Literatursprache gilt. Nicht zuletzt verschmolz Puschkin westliche Einflüsse mit russischen Themen und Stoffen, indem er unter anderem aus der reichen Märchentradition Russlands schöpfte. Insofern hatte Puschkin eine unschätzbar starke Wirkung auf nahezu alle nachfolgenden russischen Schriftsteller.

Die wichtigste direkte Weiterverarbeitung von Puschkins Boris Godunow ist die Vertonung zur gleichnamigen Oper durch Modest Mussorgski aus dem Jahr 1874. Es ist eher dieser Oper als Puschkins Stück zu verdanken, dass die Figur Boris Godunows und diese Episode der russischen Geschichte in der westlichen Welt bekannt wurden. Der Komponist Mussorgski legte den Akzent jedoch vor allem auf die moralische Verstrickung Godunows und dessen Schuld am Tod des jungen Zarensohns. In Mussorgskis Deutung treibt Godunows schlechtes Gewissen ihn schließlich in den Wahnsinn. Davon ist in Puschkins Stück keine Rede.

Über den Autor

Alexander Puschkin wird am 6. Juni 1799 in Moskau geboren. Sein Vater entstammt einem alten russischen Adelsgeschlecht. Der kleine Alexander hat blaue Augen und braun gelocktes Haar. Diese Locken verraten seine äthiopische Abstammung: Puschkins Urgroßvater mütterlicherseits war der Mohr von Peter dem Großen, ein Umstand, den Puschkin später literarisch verarbeiten wird. Wie es für adlige Kinder typisch ist, verbringt Puschkin viel Zeit mit seiner Amme, die ihn mit russischer Volksdichtung bekannt macht. Die Alltagssprache des russischen Adels dagegen ist Französisch. 1811 tritt Alexander in das neu gegründete Lyzeum Zarskoje Selo ein. Die geistig frische Atmosphäre inspiriert den jungen Mann. Er knüpft Freundschaften, die ein Leben lang halten werden. Puschkins literarisches Talent zeigt sich, als er seine ersten Gedichte veröffentlicht. Er besucht Veranstaltungen des Literatursalons „Grüne Lampe“ und sympathisiert mit den Dekabristen, einer Bewegung junger Adliger und Offiziere, die erfolglos gegen das autokratische Zarensystem revoltieren. 1820 erscheint sein märchenhaftes Versepos Ruslan und Ljudmila. Außerdem schreibt Puschkin in dieser Zeit patriotische Gedichte und Liebeslyrik, aber auch Subversives: Wegen eines literarischen Angriffs auf die Obrigkeit wird er von seiner Sekretärsstelle im Auswärtigen Amt nach Jekaterinoslaw (in der heutigen Ukraine) versetzt. 1823 beginnt Puschkin mit der Arbeit an seinem Hauptwerk Eugen Onegin, einem Versroman, der erstmals 1833 vollständig erscheint. Bereits 1831 wird sein Drama Boris Godunow veröffentlicht. Nach einer Audienz beim Zaren darf er wieder in Moskau und St. Petersburg leben, sein Werk wird jedoch zensiert. Nach zahlreichen Liebschaften heiratet Puschkin 1831 die schöne und reiche Adlige Natalja Gontscharowa. Das Paar zieht nach St. Petersburg. Zeitlebens leidet Puschkin unter Zensur und geistiger Enge. Erst 1836 erlaubt man ihm, eine Literaturzeitschrift mit dem Namen Der Zeitgenosse herauszugeben. Am 10. Februar 1837 stirbt Puschkin, der sich zu Lebzeiten mindestens 30-mal duelliert hat, an den Folgen eines Duells mit einem französischen Gardeoffizier.

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