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Brief an den Vater

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Brief an den Vater

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Eine Anklageschrift in Briefform: Kafka prozessiert gegen seinen Vater – und befindet ihn zweifelsfrei für schuldig.


Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Moderne

Worum es geht

Briefliche Anklage

Kafka, ein Name, den heute viele mit Rätsel, Mysterium oder Beunruhigung in Verbindung bringen – dieser Name bedeutete für Franz Kafka etwas völlig anderes: polternde Stärke, Stattlichkeit, Energie und Selbstbewusstsein. Kafka, das war sein Vater, Hermann Kafka. Der Sohn, der Zweifelnde, Schwächliche, Zögernde, der eher nach der Mutter kam, schrieb seinem Vater im November 1919 einen Brief – den dieser aber nie erhielt. Es ist eine Anklage, eine Beweissammlung von Erziehungsfehlern, eine hundertseitige Abrechnung mit einer stets als übermächtig empfundenen Person, die das ganze Leben des Schriftstellers bestimmte. Für den Leser ergibt sich das Bild eines riesenhaften, dröhnenden Tyrannen und eines gleichzeitig lächerlichen, ungebildeten Mannes ohne Tischmanieren. Die Faszination von Kafkas Brief liegt nicht zuletzt in diesen Übertreibungen. Der Text weist weit über einen individuellen Konflikt und die konkrete Vaterfigur hinaus: Deutlicher noch als die größeren Werke zeigt er, wie Kafkas Literatur funktioniert und wo die für ihn typische Atmosphäre existenziellen Ausgeliefertseins ihren Anfang nimmt: im Elternhaus. So gesehen ist der Vater dann doch wieder eine kafkaeske Figur.

Take-aways

  • Brief an den Vater ist der ausführlichste autobiografische Text Kafkas.
  • Er schrieb ihn 1919, fünf Jahre vor seinem Tod.
  • Kafka war verzweifelt, sein dritter Anlauf, eine Ehe zu führen, war gerade gescheitert.
  • Inhalt: Teils im Briefstil, teils im Ton einer juristischen Anklageschrift legt Kafka dar, wie übermächtig sein Vater auf ihn wirkte und wie sehr das zu seinem Grundgefühl der eigenen Nichtigkeit beitrug. Er wirft dem Vater Willkür und Herrschsucht vor und zeigt ihn als riesenhaften Tyrannen, an den der Sohn nach wie vor unauflösbar gekettet ist.
  • Zeitgenossen, die Kafkas Vater kannten, bestätigten das Bild des Tyrannen nicht.
  • Hermann Kafka hatte sich zum erfolgreichen Geschäftsmann emporgearbeitet und brachte für die literarischen Ambitionen seines Sohnes wenig Verständnis auf.
  • Kafkas Auseinandersetzung mit seinem Vater ist eine verdeckte Autobiografie.
  • Der Vater erhielt den Brief nie.
  • Kafkas Freund Max Brod veröffentlichte den Text posthum.
  • Zitat: „Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir.“

Zusammenfassung

Der Anlass des Briefes

Kürzlich fragte Hermann Kafka seinen Sohn Franz, warum dieser behaupte, er hätte Angst vor ihm, dem Vater. Franz antwortete nichts, teilweise aus ebendieser Angst, teilweise, weil die Antwort zu kompliziert gewesen wäre, um sie in mündliche Rede zu fassen. Selbst der Brief, den er jetzt schreibt, wird keine vollständige Antwort sein. Auch beim Schreiben ist die Furcht präsent.

Die Sicht des Vaters

Für den Vater war die Sache immer klar: Er hat sich aus eigener Kraft aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet und stets schwer geschuftet, um seinen Kindern ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Und was ist der Dank? Nicht dass er direkt Dankbarkeit verlangte, aber der Sohn Franz war für ihn nicht einmal zugänglich, er verkroch sich vor dem Vater in seine eigene Welt, wandte sich Büchern, überspannten Gedanken und Freunden zu. Er verschloss sich vor dem Vater; Kälte und Entfremdung prägten ihr Verhältnis. Diese Sichtweise des Vaters teilt Franz nur insofern, als auch er davon ausgeht, dass den Vater keine Schuld trifft.

„Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir.“ (S. 7)

Das Gleiche behauptet er allerdings für sich. Könnte er erreichen, dass auch der Vater die Schuldlosigkeit des Sohnes anerkennen würde, wäre viel gewonnen, die ewigen Vorwürfe würden abgemildert. Franz glaubt, dass der Vater die Beweggründe des Sohnes zumindest erahnte, als er einmal sagte, er habe seine Zuneigung nie so zeigen können wie andere Väter, weil er im Gegensatz zu jenen unfähig sei, sich zu verstellen. Die Behauptung, andere Väter würden sich verstellen, ist für Franz entweder bloße Rechthaberei oder aber ein indirekter Ausdruck für einen Konflikt zwischen Vater und Sohn, wobei die Ursache (und nicht die Schuld) auf beiden Seiten liegt.

Familiäre Linien

Auch ohne die fatale Vater-Sohn-Konstellation wäre Franz wohl kein Mann nach Hermann Kafkas Geschmack geworden; zu verschieden sind die beiden in ihren Anlagen. Franz wäre auch ohne die Erziehung seines Vaters ein ängstlicher und zögerlicher Mensch – wohingegen Hermann Kafka stark, gesund, laut, selbstbewusst und manchmal jähzornig ist, ein Kafka durch und durch. Franz entspricht eher der mütterlichen Linie, er ist ein Löwy mit gewissen Kafka’schen Anteilen. Trotz dieser Charakterunterschiede hätte Franz sich mit seinem Vater in jeder anderen Konstellation verstanden, hätte er ihn nur als Freund, Chef, Onkel, Großvater oder Schwiegervater gehabt. Als Vater aber hat Hermann Kafka sein erstes Kind, seinen einzigen Sohn mit seiner Stärke erdrückt.

Erziehungsmethoden

Aus den frühen Jahren fällt Franz folgende Szene ein: Er bettelte einmal in der Nacht um Wasser, ohne wirklich Durst zu haben. Nachdem ihm der Vater mehrmals gedroht hatte, trug er das Kind auf den Balkon und ließ es bei geschlossener Tür im Nachthemd draußen zurück. Für Franz standen sein Verhalten und diese schreckliche Maßnahme in keinem Verhältnis. Dieser und ähnliche Vorfälle trugen zu seinem Grundgefühl der Nichtigkeit bei, das ihn immer noch beherrscht und das er wesentlich auf die Erziehung seines Vaters zurückführt. Dabei hätte er im Gegenteil Aufmunterung gebraucht. Doch wenn es sie gab, dann nur in die Richtung, die dem Vater vorschwebte und die nicht seine war: Zum Lautsein, Salutieren, Marschieren, Biertrinken und Liedergrölen wurde er aufgefordert, sonst aber immer nur entmutigt.

„Ich sage ja natürlich nicht, dass ich das, was ich bin, nur durch Deine Entwicklung geworden bin. Das wäre sehr übertrieben (und ich neige sogar zu dieser Übertreibung).“ (S. 10)

Der körperlich dominante Vater behauptete seine Überlegenheit auch im geistigen Bereich; andere Ansichten ließ er nicht gelten. Sein Verdammen anderer Menschen und Meinungen war nicht auf Vernunft gegründet, sondern allein auf seine Autorität: typisch für Tyrannen. Über allem schwebte das negative väterliche Urteil, gerade in den kleinen Dingen des Alltags: War Franz glücklich über etwas und äußerte das, so antwortete der Vater abwertend mit Ironie. Er war prinzipiell gegen alles, was der Sohn dachte, mochte oder tat. Von Franz’ Freunden sprach er grundsätzlich schlecht, ja geradezu beleidigend – ohne Rücksicht auf die Gefühle und das Urteil seines Sohns. Eine besonders verletzende Aussage über den Jiddisch sprechenden Schauspieler Löwy notierte Franz sich schon damals mit der Bemerkung, dass er dies seinem Vater immer würde entgegenhalten können, wenn dieser sich einmal über mangelnde Dankbarkeit beklagen sollte.

Väterliche Inkonsequenz

Für das Kind war alles, was der Vater sagte, Gesetz und der entscheidende Maßstab für die Beurteilung der Welt. Allerdings auch für die Beurteilung des Vaters selbst, und da gab es erhebliche Diskrepanzen. Der Vater hielt sich nicht an die von ihm verfügten Regeln, das fiel vor allem bei Tisch auf. Er schimpfte z. B. viel, verbot das Schimpfen aber anderen. Aus dieser Situation ergab sich für den Sohn eine Dreiteilung der Welt: In einem Teil lebte nur er, Franz, als Sklave, Gesetzen unterworfen, die für ihn allein gemacht waren und die er nie ganz erfüllen konnte. Im zweiten Teil lebte der Vater, ganz mit dem Regieren beschäftigt, und im dritten die übrigen Menschen, glücklich und frei von alledem.

„Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit.“ (S. 15 f.)

Es war und ist unmöglich, mit dem Vater ruhig über Dinge zu sprechen, mit denen er nicht einverstanden ist. Das lässt seine herrische Art nicht zu. Weil der Vater ihm „Widerrede“, also abweichende Meinungen, verbot, verstummte Franz schließlich – und machte so auf den Vater einen verstockten Eindruck. Doch Franz war nicht in allem gegen den Vater eingestellt, im Gegenteil, er erlag seiner Erziehung völlig, gründlicher, als es dem Vater lieb war. Zu dessen Methoden gehörten auch Drohungen – denen zwar dann keine Taten folgten, aber sie gingen bis hin zu angetäuschten Strafen, etwa wenn der Vater die Hosenträger losmachte, Franz dann aber doch nicht schlug. Diese vermeintlich unverdiente Gnade verstärkte Franz’ Grundgefühl der Schuld. Andererseits stumpfte er unter den folgenlosen Drohungen ab, wurde unaufmerksam und mürrisch, was der Vater wiederum gegen ihn verwendete.

„Du warst für mich das Maß aller Dinge.“ (S. 16)

Sicher: Franz hat auch einige freundliche, sogar zu Tränen rührende Erinnerungen an den Vater. Etwa dessen tiefe Sorge, als Franz einmal krank lag oder als es seiner Mutter schlecht ging. Auch eine bestimmte Art, zu lächeln, etwas stillschweigend gutzuheißen, gehört dazu. Diese wenigen positiven Eindrücke verwirrten Franz aber nur weiter. Um dem Vater etwas entgegenzusetzen, sammelte er früh Beweise seiner Fehler und Lächerlichkeiten. Er bemerkte etwa einen autoritätshörigen Zug und eine Vorliebe für anstößige Witze, über die der Vater selbst am lautesten lachte. Darüber mokierte sich Franz, was der Vater vielleicht als Bosheit empfand. Immer wieder hielt er dem Sohn entgegen, wie gut er es doch habe. Das stimmte zwar in Bezug auf die Mutter, die immer sehr liebevoll war; durch ihre ausgleichende Güte verstärkte sich aber das Schuldgefühl des Sohns nur noch. Außerdem hielt der Vater seinen Kindern vor, wie gut es ihnen materiell dank seiner harten Arbeit gehe; er dagegen habe als Kind unvorstellbaren Mangel gelitten. Er demütigte sie mit seinem früheren Elend. Zugleich verbot er streng, dass die Kinder im Leben selbst etwas wagten, um sich in ähnlicher Weise zu bewähren – Schwester Ottla hatte zu seinem Entsetzen einen solchen Versuch unternommen, als sie auf dem Land arbeiten wollte, genau wie der Vater zu seiner Zeit.

Folgen für die Familie

Das Resultat dieser Erziehung war, dass Franz alles mied, was mit dem Vater zu tun hatte, auch das Geschäft. Dort ertrug er es nicht, wie der Vater das Personal behandelte. Er war ein tyrannischer Chef, beschimpfte seine Angestellten, betrachtete sie als Feinde – er verhielt sich als Chef ähnlich wie als Vater. Seine Dominanz hatte nicht nur für Franz Folgen. Die Mutter litt, weil sie zwischen ihrem Mann, den sie über alles liebte, und ihren Kindern stand. Schwester Vallis Verhältnis zum Vater war am unproblematischsten, sie war ihm ähnlich ergeben wie die Mutter. Elli, der Ältesten der drei Schwestern, gelang der Ausbruch aus dem Einflussbereich des Vaters vollständig mit der Gründung einer eigenen Familie. Ottla schließlich ist dem Vater noch entfremdeter als Franz selbst. Sie war kämpferischer als er, im Kern zwar auch eine Löwy, aber mit mehr Kafka’schen Waffen ausgestattet als Franz. Für diesen haben die Einschüchterungen des Vaters auch außerhalb der Familie Folgen. Er kann sein Schuldgefühl und seine Selbstzweifel im Kontakt mit anderen Menschen nicht plötzlich ablegen. Deshalb findet er auch keine Zuflucht bei anderen.

Rettungsversuche

Ein möglicher Ausweg hätte das Judentum sein können – ein Bereich, in dem Vater und Sohn sich hätten treffen können. Franz bekam aber vom Vater nur ein Scheinjudentum vermittelt, um den gesellschaftlichen Konventionen zu genügen. Schon als Jugendlicher fand er das verlogen und ging gar nicht mehr in die Synagoge, was ihm wiederum der Vater übel nahm. Franz sieht den Vater mit seinem auf einen nostalgischen Rest reduzierten Judentum als Teil einer Übergangsgeneration und lässt die Ausrede nicht gelten, der Vater habe seinen religiösen Pflichten vor lauter Arbeit nicht nachkommen können. Als Franz dann doch begann, sich mit jüdischen Schriften zu beschäftigen, lehnte der Vater das ab, wie er alles ablehnte, was Franz interessierte – so auch das Schreiben. Allerdings konnte der Sohn gerade darin tatsächlich eine gewisse Unabhängigkeit erringen, denn Literatur ist dem Vater völlig fremd. Die Freiheit war freilich nicht vollständig, denn auch sein Schreiben handelte vom Vater, aber immerhin konnte er hier selbst die Richtung bestimmen. Das Schreiben beherrschte denn auch Franz’ ganzes Leben, die Berufswahl eingeschlossen. Der Beruf war ihm im Vergleich zur Hauptsache, dem Schreiben, letztlich gleichgültig – Jura erlaubte ihm diese Gleichgültigkeit. Dass sein Beruf keine Rettung sein würde, war ihm von Anfang an klar.

Heiratsversuche

Anders verhielt es sich mit den Anläufen, zu heiraten. Sein Scheitern in diesem Bereich war für Franz nicht vorauszusehen. Eben deshalb, weil er eine so hohe Meinung von der Ehe hatte – zu heiraten und eine Familie zu gründen sah er als das Höchste, was einem Menschen gelingen kann –, war es sein großes Heilsversprechen. Äußerlich mischte sich der Vater in diese Dinge kaum ein. Franz erinnert sich aber an einen zweimalig vorgebrachten, ihm sehr unangenehmen väterlichen Ratschlag, nämlich, ins Bordell zu gehen: Das erste Mal empfahl er das dem 16-Jährigen, das zweite Mal schlug er es 20 Jahre später als Alternative zu Franz’ zweiter Heiratsabsicht vor – die wohl tiefste Demütigung, die er dem Sohn je zugefügt hat.

„Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf ihrem Denken begründet ist.“ (S. 17)

Die Frage, warum Franz schließlich nicht geheiratet hat, obwohl er es so sehr wollte, beantwortet er damit, dass er zu einer Heirat wohl geistig unfähig ist. Sobald er den Heiratsentschluss gefasst hat, kann er nicht mehr schlafen, er zerbricht unter dem Druck der Schwäche und Selbstmissachtung. Denn einerseits wäre die Heirat der gelungenste Beweis für die Unabhängigkeit vom Vater. Andererseits wäre diese Selbstbefreiung so deutlich auf den Vater bezogen, dass sie ihn erst recht an ihn ketten würde. Hinzu kommt, dass die Ehe bereits eine Domäne des Vaters ist und schon dadurch dem Sohn quasi verstellt ist. Noch wichtiger aber ist die Angst davor, dass die Ehe eine Gefahr für sein Schreiben darstellen könnte. Diese Möglichkeit besteht und zwingt ihn in letzter Konsequenz zum Verzicht. Entscheidend ist zudem das Gefühl, nicht in der Lage zu sein, eine Familie zu führen, weil dazu wohl die Eigenschaften gehören, die der Vater verkörpert, gute wie schlechte. Franz sieht keine Möglichkeit, zu heiraten, ohne wahnsinnig zu werden.

Eine gedachte Antwort

Der Vater könnte nun entgegnen, dass der Sohn es sich leicht mache, dass er ihn nur scheinbar von jeder Schuld freispreche, ihn aber in Wahrheit als Aggressor darstelle und sich selbst als Opfer. Damit, könnte der Vater sagen, sei Franz unaufrichtig, nicht großmütig. Der Vater könnte ihn als Schmarotzer bezeichnen, als Ungeziefer, das sich vom Blut eines anderen ernähre. Er könnte sagen, Franz sei lebensuntüchtig und mache es sich auch noch bequem, indem er jede Schuld von sich weise, so z. B. in Bezug auf den Heiratsversuch: Es sei ja der Sohn gewesen, der nicht heiraten wollte, aber es sollte so aussehen, als ob der Vater es verhindert hätte. Das alles könnte ihm der Vater entgegnen, und er hätte damit nicht völlig Unrecht. Am besten ergänzt man das zuvor Gesagte um diesen Einwurf, dann kommt man der Wahrheit wohl so nahe wie möglich. Das wiederum kann Vater und Sohn beruhigen und ihnen das Leben und Sterben erleichtern.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der über hundertseitige Brief an den Vater gibt sich den Anschein eines familiären Privatbriefs, weist aber in Wortwahl und Aufbau starke Parallelen zu einer juristischen Anklage mit sorgsam durchdachter Komposition auf: Es werden Beweise gegen den Vater gesammelt und mit Elementen der Verteidigung, der Rechtfertigung des eigenen Verhaltens, kombiniert. Die Begriffe „Prozess“, „Richter“, „Partei“, „Gesetz“ und „Schuld“ kommen alle mehrfach vor. Kafka nutzt aber auch durchaus literarische Mittel, setzt Textteile einander spiegelbildlich gegenüber und arbeitet mit dem Stilmittel der Übertreibung. Kann man da noch von einem echten Brief sprechen, oder handelt es sich um ein fiktionales Werk? Die Antwort muss wohl lauten: sowohl als auch. Kafka konzipierte und begann den Text als Privatbrief – viele Details sind ja auch nur Eingeweihten verständlich. Aber je länger der Brief wurde, desto mehr wurde ihm Kafka der überindividuelle Gehalt klar, was zu einer bewussten literarischen Ausgestaltung des Textes führte.

Interpretationsansätze

  • Hinter der brieflichen Auseinandersetzung mit seinem Vater steckt eine verdeckte Autobiografie Kafkas: Die grundlegenden Fragen über das eigene Leben (Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin will ich?) werden aber auf die Beziehung zum Vater reduziert: Wie bin ich durch dich geworden? Was hast du mir angetan?
  • Kafka nutzt das Scheitern als literarischen Gegenstand – nicht nur im Brief an den Vater, sondern etwa auch in der Erzählung Die Verwandlung, in der er eine Metapher der Nichtigkeit wörtlich nimmt: Gregor Samsa, auch diese Figur im Wesentlichen ein Familiensohn, verwandelt sich in einen riesigen Käfer. Das ist eine deutliche Parallele zu dem Einwurf des Vaters im Brief, der Sohn sei ein Schmarotzer.
  • Psychoanalytiker sahen in Kafkas Problemen einen klassischen Vaterkomplex. In dem tiefen gegenseitigen Unverständnis zeigt sich aber auch ein allgemeiner Konflikt, wie er zwischen Eltern und ihren Kindern und ganz allgemein zwischen den Generationen immer wieder aufbricht.
  • Der konkrete Vater Hermann Kafka wird zur archetypischen Vatergestalt, zu einem Gottvater und ins Riesen- und Tyrannenhafte vergrößert. Damit lässt sich der Text im Kontext der antipatriarchalischen Literatur lesen, die um den Ersten Weltkrieg herum entstand und die Kafka sicher kannte: Werke wie Arnolt Bronnens Einakter Vatermord, Walter Hasenclevers Drama Der Sohn oder Franz Werfels Gedicht Vater und Sohn.
  • Die Autoritätsstrukturen und das Leistungsdenken des patriarchalischen 19. Jahrhunderts blieben auch zu Kafkas Zeit wirksam. In der rücksichtlosen, groben Männlichkeit, wie er sie am Beispiel des Vaters schildert, zeigt sich ein enthemmter Sozialdarwinismus, den die Nationalsozialisten später zur Rechtfertigung ihrer eugenischen und rassistischen Programme heranzogen.

Historischer Hintergrund

Familie Kafka

Franz Kafkas Vater Hermann Kafka, 1852 geboren, wuchs im jüdischen Teil des böhmischen Dorfes Osek auf. Die Familie lebte in sehr einfachen Verhältnissen, aber bettelarm war sie nicht. Die Mutter Julie Kafka wurde 1856 in der Kleinstadt Poděbrady geboren. Die beiden lernten sich, wie in jüdischen Familien damals üblich, über einen Heiratsvermittler kennen. Hermann Kafka war ein stattlicher Mann, der sich vom Hausierer zum Inhaber eines florierenden Kurzwarengeschäfts emporarbeitete. Julie war ihrem Mann zwar kulturell überlegen, aber von zurückhaltender Art. 1883 wurde Franz als erstes Kind geboren. 1885 und 1887 folgten zwei Brüder, die beide in ihrem ersten Lebensjahr starben. Mit großem Abstand kamen drei Mädchen zur Welt: Gabriele (Elli) 1889, Valerie (Valli) 1890, und Ottilie (Ottla) 1892. Weil beide Elternteile stark ins Geschäft eingebunden waren, wurden die Kinder häufig in die Obhut wechselnder Hausangestellter gegeben. Auch sie sollten per Heiratsvermittlung adäquate Ehepartner finden. Bei Gabriele und Valerie funktionierte das, Franz und Ottla aber verweigerten sich dieser Tradition. Ottla wollte Landwirtin werden und später nach Palästina gehen; 1917 übernahm sie einen verlassenen Hof im böhmischen Zürau. Ihre Distanz zu den Eltern wurde noch größer, als sie 1920 einen christlichen Tschechen heiratete. Franz hielt seine Beziehung zu Felice Bauer zunächst geheim; 1912 fand seine Mutter einen Brief von ihr in Franz’ Jackentasche. 1914 verlobte und entlobte er sich mit ihr; 1917 ein zweites Mal, um sich dann endgültig zu trennen. Eine weitere Verlobung mit Julie Wohryzek (1918) löste er ebenfalls wieder auf. Der Vater war von Franz nicht nur deshalb enttäuscht: Er wünschte sich dessen Eintritt in das Geschäft und hatte für die künstlerischen Lebensziele seines Sohns kein Verständnis.

Dem Bild, das Kafka von seinem Vater zeichnet, stehen Aussagen anderer Zeitgenossen entgegen. Kafkas Freund Max Brod zufolge ist die Perspektive teilweise verzerrt. Überliefert sind auch Erinnerungen eines Lehrlings im Geschäft Hermann Kafkas namens František Bašik. Dieser beschreibt seinen Chef als geradezu sanft im Vergleich zu anderen Vorgesetzten, die ihre Lehrlinge geschlagen hätten. Kafka lebte mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1924 bei den Eltern. Sein Vater starb 1931, die Mutter 1934.

Entstehung

Kafka schrieb den Brief an den Vater im November 1919, fünf Jahre vor seinem Tod. Der Vater war damals 68 Jahre alt. Der 36-jährige Kafka erholte sich zu der Zeit in einer Pension in Schelesen, einem nördlich von Prag gelegenen Dorf, in der Gesellschaft von Max Brod. Er war in einer desolaten Verfassung und betrachtete seine beiden wichtigsten Lebensprojekte, die Schriftstellerei und die Ehe, als gescheitert. In dem Jahr vor der Niederschrift des Briefs hatte er so gut wie nichts geschrieben; seine beiden Romanprojekte (Der Verschollene und Der Prozess) hatte er abgebrochen. Außerdem hatte er sich eben zum dritten Mal entlobt und kehrte nun an den Ort zurück, wo er ein Jahr zuvor Julie Wohryzek kennen gelernt hatte. Der Vater hatte sich vehement gegen die nicht standesgemäße Verbindung ausgesprochen: Julies Vater war Schlachter, und es kursierten Gerüchte über ihre Freizügigkeit. Dennoch bereitete der Sohn im Oktober 1919 die Hochzeit vor, als ihm eine Wohnung in Wrschowitz angeboten wurde – diese Wohnung schien ihm eine Voraussetzung für sein weiteres Schreiben zu sein. Doch dann wurde das Angebot zurückgezogen, Kafka sah darin eine schicksalhafte Fügung und trennte sich von Julie. Diese Konfliktlage war nicht nur dem Vater, sondern der ganzen Familie bekannt. Ottla gegenüber kündigte Kafka an, dem Vater schreiben zu wollen. Der Brief wuchs entgegen der ursprünglichen Absicht auf etwa 100 Seiten an. Neben der handschriftlichen Fassung gibt es noch eine Maschinenabschrift, die allerdings kurz vor dem Ende des Textes abbricht. Den Vater hat keine dieser Fassungen erreicht, obwohl Kafka laut Max Brod zuerst fest vorhatte, den Brief durch die Mutter übergeben zu lassen. Ob diese oder Ottla ihn gelesen hat, ist unsicher. Nach Kafkas Tod wurde der Brief erstmals 1952 in der Zeitschrift Neue Rundschau veröffentlicht; in Buchform gab Max Brod ihn 1953 heraus.

Wirkungsgeschichte

Weil es kaum einen Leser gibt, der den Pakt mit dem schreibenden Ich gegen den Vater nicht eingeht, war der Ruf Hermann Kafkas für lange Zeit ruiniert – er wurde wirklich als das Hauptproblem in Kafkas Leben betrachtet. Es dauerte, bevor man Äußerungen von Zeitgenossen überhaupt gelten ließ, nach denen der historische Vater Kafkas kein Tyrann war, sondern „ein ganz normaler, etwas strenger, manchmal launischer Mensch und Chef“, so die Schriftstellerin Alena Wagnerová. Kafkas Interpreten behandelten den Brief vielfach als objektive historische Quelle und nicht als eine literarisch geformte subjektive Biografie. Ein originelles Unternehmen, dem Vater eine Stimme zu verleihen, ist Helmwart Hierdeis’ Band „Lieber Franz! Mein lieber Sohn!“ (1996), in dem er fiktive Antworten des Vaters, verfasst von unterschiedlichen Autoren, versammelt.

Über den Autor

Franz Kafka wird am 3. Juli 1883 in Prag geboren. Als deutschsprachiger Jude gehört er gleich in doppelter Hinsicht einer Minderheit an. Der Vater Hermann Kafka ist Kaufmann, die Mutter Julie im Geschäft des Vaters tätig; so wächst das Kind in der Obhut verschiedener Dienstboten auf. Der lebenstüchtige Vater bringt für seinen kränklichen, künstlerisch begabten Sohn kein Verständnis auf − ein Konflikt, der das gesamte Werk Kafkas prägen wird. Nach dem Abitur möchte Kafka eigentlich Philosophie studieren, entscheidet sich aber nach dem Willen des Vaters für Jura und promoviert 1906. Danach arbeitet er bei einer Unfallversicherung. Sein Beruf ist ihm eine Last, weil ihm zu wenig Zeit zum Schreiben bleibt; er erledigt die Arbeit aber gewissenhaft. Auf Schaffensphasen, in denen er Nächte durchschreibt, folgen längere unproduktive Abschnitte. 1902 lernt er Max Brod kennen, eine lebenslange Künstlerfreundschaft beginnt. Ab 1908 veröffentlicht er kurze und längere Erzählungen in Zeitschriften und als Buchpublikationen, darunter Die Verwandlung (1915) und Das Urteil (1916). Er beginnt drei Romane, Der Verschollene (später veröffentlicht unter dem Titel Amerika), Der Prozess und Das Schloss, stellt aber keinen fertig – für ihn ein fundamentales Scheitern. Kafkas Beziehungen zu Frauen sind problematisch. 1912 lernt er bei Max Brod die Berlinerin Felice Bauer kennen, mit der er sich zweimal verlobt und wieder entlobt. Auch die weiteren Beziehungen sind nicht von Dauer. 1917 erkrankt er an Tuberkulose. Immer wieder muss er seine berufliche Arbeit unterbrechen, um sich an Ferienorten, in Sanatorien oder bei seiner Schwester Ottla zu erholen. Die gewonnene Zeit kann er aber nicht in gewünschter Weise in Literatur umsetzen. Als er am 3. Juni 1924 stirbt, hat er Max Brod testamentarisch angewiesen, seine unveröffentlichten Manuskripte zu vernichten. Der Freund hält sich nicht daran und ermöglicht so den Weltruhm Franz Kafkas.

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