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Das Gespenst von Canterville

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Das Gespenst von Canterville

Insel Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Wer kann selbst ein waschechtes britisches Schlossgespenst das Fürchten lehren? Amerikaner!


Literatur­klassiker

  • Schauerliteratur
  • Viktorianische Ära

Worum es geht

Ein tragikomisches Gesellenstück

Im Kern ist Das Gespenst von Canterville eine Spukgeschichte, in der ein Gedankenspiel konsequent zu Ende gedacht wird: Angenommen, es gibt Gespenster – würden sie dann nicht einen gewissen Anspruch an die Qualität ihrer Arbeit stellen? Wie würden sie mit Menschen umgehen, die sich nicht vor ihnen fürchten? Das Gespenst von Canterville muss genau diese leidvolle Erfahrung machen. Die ganz und gar weltlichen Amerikaner, die in sein Zuhause einziehen, zeigen sich unbeeindruckt von seinen Spukereien und werfen sogar mit Kissen nach ihm. Die Erzählung, die Oscar Wilde rund um diese Konstellation spinnt, ist mehr als nur eine Gutenachtgeschichte für Kinder: Auch Erwachsene dürfen über die unbeholfenen Versuche des Gespensts und über den Glauben der Familie Otis an die Wirkung von allerlei Wundermittelchen lachen. Die Mischung aus Spukgeschichte und Gesellschaftssatire enthält auch melancholische Momente – etwa wenn das Gespenst von seiner Sehnsucht nach dem Tod erzählt. Der Text ist voller komischer wie auch tragischer Elemente, die bereits die spätere poetische Brillanz des Skandalautors durchblitzen lassen.

Take-aways

  • Das Gespenst von Canterville ist die erste Erzählung des irischen Dichters Oscar Wilde.
  • Inhalt: Eine amerikanische Botschafterfamilie zieht in ein altes britisches Herrenhaus und trifft dort auf ein Schlossgespenst. Dessen Versuche, die neuen Bewohner zu erschrecken, misslingen kläglich. Am Ende befreit die Tochter der Familie das Gespenst von seinem Fluch.
  • Die Erzählung ist eine Mischung aus Gesellschaftssatire, Spukgeschichte und Romanze.
  • Im Mittelpunkt steht ein kultureller Konflikt: Der Materialismus einer amerikanischen Familie trifft auf das Standesbewusstsein der britischen Aristokratie.
  • Die Gespensterfurcht wird auf den Kopf gestellt. Am Ende ist es das Gespenst, das sich aus Furcht vor den Amerikanern kaum noch aus seinem Zimmer wagt.
  • Wilde stellte sich mit dieser Erzählung für Kinder und jung gebliebene Erwachsene in die Tradition der irischen Geschichtenerzähler.
  • Er verfasste auch später noch Geschichten mit märchenhaften Zügen, von denen einige in Sammelbänden veröffentlicht wurden.
  • Ab 1944 entstanden zahlreiche Adaptionen für Kino und Fernsehen sowie zwei Opern.
  • Oscar Wilde wandelte sich vom Liebling der Gesellschaft zu einem Skandalautor, der wegen Homosexualität eine Gefängnisstrafe verbüßte und mittellos in Paris starb.
  • Zitat: „Als Mr. Hiram B. Otis, der amerikanische Gesandte, Canterville Chase kaufte, sagte ihm jeder, das sei sehr töricht gehandelt, weil es keinen Zweifel darüber gebe, dass dort ein Gespenst umgehe.“

Zusammenfassung

Die neuen Bewohner

Der amerikanische Botschafter Hiram B. Otis zieht mit seiner Familie nach England. Er erwirbt das historische Herrenhaus Canterville Chase, obwohl man ihm eindringlich davon abrät: In Canterville soll nämlich ein Geist umgehen. Lord Canterville selbst, der Besitzer, warnt die Familie Otis nachdrücklich und berichtet von verschiedenen Vorfällen, bei denen der Geist in Erscheinung getreten ist. Seit über 300 Jahren wird seine Familie von ihm heimgesucht – bezeichnenderweise erscheint er immer kurz vor dem Tod eines Hausbewohners. Mr. Otis glaubt nicht an Geister. Dennoch findet er die Idee, ein Haus mit Gespenst zu kaufen, irgendwie reizvoll. Also zieht er ein, gemeinsam mit seiner lebensfrohen Frau Lucretia und vier Kindern: Washington, Virginia und die Zwillinge.

Ankunft in Canterville

Das Herrenhaus liegt sieben Meilen von Ascot entfernt inmitten von Hügeln und Fichtenwäldern. Die Familie trifft an einem Juliabend ein und wird bereits von der Haushälterin Mrs. Umney erwartet, die zuvor schon für die Familie Canterville tätig gewesen ist. Familie Otis hat sich bereit erklärt, Mrs. Umney weiterhin zu beschäftigen. Als sie in der Bibliothek Tee trinken, entdecken die Otis’ einen Blutfleck auf dem Boden. Mrs. Umney erzählt in einer schaurigen Geschichte, wie der Fleck entstand: 1575 hat Sir Simon von Canterville an dieser Stelle seine Frau ermordet. Neun Jahre darauf verschwand er spurlos – um kurze Zeit später als Geist das Schloss heimzusuchen. Seitdem erneuert sich der Fleck jede Nacht. Der praktisch veranlagte Washington entfernt den Fleck kurzerhand mit Pinkertons Qualitäts-Fleckenentferner. Bald darauf erschüttern Blitz und Donner das Haus und Mrs. Umney wird ohnmächtig. Als sie wieder zu sich kommt, warnt sie die Familie noch einmal eindringlich vor dem Geist, doch die Neuankömmlinge bleiben ungerührt.

Begegnung mit dem Gespenst

Am nächsten Morgen findet die Familie den Blutfleck wieder an Ort und Stelle. Washington entfernt ihn erneut. So geht es die nächsten Tage weiter, bis der Familie klar wird: Hinter dem mysteriösen Blutfleck muss wirklich eine übernatürliche Ursache stecken. In der dritten Nacht hört Mr. Otis gegen ein Uhr Geräusche: Aus dem Flur ertönt Kettengerassel. Er tritt auf den Gang und steht dem Gespenst in der Erscheinung eines alten Mannes mit roten Augen, wirrem Haar und altertümlichen Kleidern gegenüber. Mr. Otis spricht ihn freundlich an und weist darauf hin, dass die Ketten, die seinem Gegenüber an Händen und Fußgelenken hängen, dringend geölt werden müssen. Er habe auch genau das richtige Mittel dafür: Tammany-Sonnenaufgang-Öl. Mr. Otis stellt das Fläschchen auf einen Marmortisch und zieht sich zurück. Das Gespenst ist empört, wirft die Flasche auf den Boden und wendet sich zur Treppe, wo es beinahe noch von einem Kissen getroffen wird, das die Zwillinge nach ihm werfen. Schnell entweicht der Geist durch die Wandtäfelung.

Ein Gespenst steht unter Schock

Noch fassungslos von dem eben Erlebten zieht sich das Gespenst in sein geheimes Zimmer zurück. Seit 300 Jahren geht es nun in Canterville Chase um, aber so etwas ist ihm bisher noch nicht passiert. Mit seinen Auftritten hat es ungezählte Nervenzusammenbrüche hervorgerufen und gleich mehrere Bewohner in den Selbstmord getrieben. Dabei stellt es höchste Ansprüche an seine Arbeit: Es erscheint vor seinem Publikum mit perfekt inszenierten Darstellungen, denen es Namen wie „Roter Ruben oder der erwürgte Säugling“ gegeben hat. Nach all seinen Spukerfolgen ist es ihm unerträglich, von den neuen Bewohnern nicht ernst genommen zu werden. Es ist fest entschlossen, sich für diese Behandlung zu rächen.

„Als Mr. Hiram B. Otis, der amerikanische Gesandte, Canterville Chase kaufte, sagte ihm jeder, das sei sehr töricht gehandelt, weil es keinen Zweifel darüber gebe, dass dort ein Gespenst umgehe.“ (S. 7)

In den folgenden Tagen ist vom Geist nichts zu sehen. Lediglich der Blutfleck, der weiterhin täglich entfernt wird, ist zuverlässig am nächsten Morgen wieder da. Allerdings wechselt er nun häufig die Farbe – anfangs sind es verschiedene Rotnuancen, dann ist er sogar grün.

Ein misslungener Plan

Am Sonntag in der Nacht macht sich das Gespenst wieder bemerkbar: Nach einem lauten Poltern in der Halle findet die Familie es neben einer umgestoßenen Rüstung. Die Zwillinge beschießen das Gespenst sofort per Blasrohr mit Papierkügelchen. Wutentbrannt stürmt der Geist aus der Halle, nicht ohne auf der Treppe noch sein furchteinflößendstes Lachen erklingen zu lassen. Mrs. Otis reagiert jedoch nicht etwa erschrocken, sondern vielmehr besorgt: Sie fürchtet, dass das Gespenst an Verdauungsproblemen leidet, und bietet ihre Hilfe an.

„Mit der schwärmerischen Selbstüberhebung des wahren Künstlers ging das Gespenst seine berühmtesten Darstellungen durch, und mit bitterem Lächeln gedachte es (…) des begeisterten Beifalls, den es an einem lieblichen Juniabend erntete, als es auf einem Tennisplatz bloß mit seinen eigene Knochen kegelte.“ (S. 21)

Zurück in seiner Kammer wird dem Gespenst erst das ganze Ausmaß seiner Niederlage deutlich. Nicht nur das Verhalten der Familie Otis erniedrigt es; am schwersten wiegt seine eigene Unfähigkeit: Es wollte seine alte Rüstung tragen und mit einer Aufführung seiner Nummer „Geist im Harnisch“ Schrecken verbreiten, doch der Harnisch war zu schwer, und so ist es zusammen mit der Rüstung zu Boden gegangen und hat sich am Knie verletzt.

Das Otis-Gespenst

Das Erlebte macht dem Gespenst so schwer zu schaffen, dass es sich für mehrere Tage krank fühlt und seine Kammer nur verlässt, um den Blutfleck zu erneuern. Am 17. August sammelt es seine Kraft, um einen dritten Versuch zu wagen. Die Kulisse ist perfekt: Draußen tobt ein Unwetter. Der Geist trägt sein Leichenhemd und plant, sich in Washingtons Zimmer einen rostigen Dolch in die Kehle zu rammen. Dann will es die Eltern, Virginia und schließlich die Zwillinge aufsuchen, denen es sich in Gestalt eines Skeletts auf die Brust setzen will. Der letzte Teil ist für seine herausragende Wirkung bekannt und läuft unter dem Namen „Stummer Daniel oder das Skelett des Selbstmörders“.

„Sein Gefechtsplan war folgender: Es wollte lautlos in Washington Otis’ Zimmer schleichen, ihm vom Fußende des Bettes kauderwelsches Zeug zuschnattern und sich zum Klang einer getragenen Musik dreimal den Dolch in die Kehle stoßen.“ (über das Gespenst, S. 28)

Um Mitternacht macht das Gespenst sich auf den Weg zu den Schlafzimmern – wo es plötzlich einem anderen Gespenst gegenübersteht! Mit einem schrecklichen Grinsen und rot leuchtenden Augen jagt die Erscheinung dem Canterville-Geist einen gehörigen Schrecken ein. Er flieht Hals über Kopf in seine Kammer. Als er sich etwas beruhigt hat, beschließt er, den Neuankömmling willkommen zu heißen. Vielleicht kann ihm das andere Gespenst ja helfen, die Zwillinge zu besiegen. Als es auf dem Flur ankommt, findet es jedoch nur eine geschnitzte Rübe und ein Baumwolltuch vor. Ein Plakat erklärt den Spuk: Die Familie Otis hat sich einen Scherz mit ihm erlaubt.

Die letzte Niederlage

Zunehmend geschwächt von den vergeblichen Mühen der letzten vier Wochen bleibt das Gespenst für einige Tage in seinem Gemach. Sogar für die Erneuerung des Blutflecks fehlt ihm die Kraft. Wenn es nun umgeht, achtet es darauf, von der Familie unbemerkt zu bleiben. Es schmiert sogar seine Ketten, damit niemand es hört. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen sieht es sich weiter den Anschlägen der Zwillinge ausgesetzt: Über den Flur gespannte Fäden und Butter auf dem Treppenabsatz bringen es zu Fall. Schließlich ist das Maß voll: Das Gespenst entscheidet sich, seine furchtbarste Erscheinungsform, „Rupert der Rücksichtslose oder der Graf ohne Kopf“, gegen die beiden einzusetzen. Die Vorbereitung auf den Auftritt dauert drei Stunden. Als der Geist endlich ins Zimmer der Zwillinge tritt, ergießt sich ein großer Krug Wasser auf den kopflosen Körper. Durchnässt und tief geschockt flieht er.

„Gewiss hatte es ein sehr arges Leben geführt, doch andererseits war es in allen Dingen, die mit dem Übernatürlichen zusammenhingen, ungemein gewissenhaft.“ (über das Gespenst, S. 35)

Nun verliert das Gespenst vollends die Hoffnung, die Amerikaner noch erschrecken zu können. Es geht nur noch in Pantoffeln im Schloss um, in ständiger Angst vor den Übergriffen der Zwillinge. Bald bekommen die Bewohner den Geist nicht mehr zu Gesicht. Also wenden sich der Botschafter und seine Familie wieder anderen Beschäftigungen zu. Sie nehmen an, dass das Gespenst das Schloss verlassen hat, und informieren die Familie Canterville.

Ein offenes Gespräch

Einige Tage später zerreißt Virginias Kleid bei einem Ausritt mit ihrem Verehrer, Cecil Stilton, dem jungen Herzog von Cheshire. Sie nimmt die Hintertreppe, um unbemerkt ins Haus zu gelangen, und trifft dabei im Gobelinzimmer auf das Gespenst, das niedergeschlagen aus dem Fenster schaut. Virginia bekommt Mitleid mit ihm und beschließt, es aufzumuntern. Sie erklärt ihm, dass ihre Brüder bald nach Eton abreisen und dass es dann seine Ruhe haben werde, sofern es sich gesittet benehme. Das Gespenst erwidert, dass es sein Verhalten nicht ändern könne – schließlich sei das Spuken seine Aufgabe. Virginia kommt darauf zu sprechen, dass Sir Simon seine Frau ermordet hat. Das Gespenst will sich deswegen keine Vorwürfe machen lassen, schließlich habe seine Frau nicht gut kochen können und sei noch nicht einmal hübsch gewesen. Zudem sei der Mord kein Grund, ihn jetzt zu quälen. Virginia wirft dem Geist vor, ihren Malkasten benutzt zu haben, um den Blutfleck zu erneuern, und, als er alle Rottöne aufgebraucht habe, sogar ihr Grün gestohlen zu haben. Das Gespenst rechtfertigt sich damit, dass es schließlich kein echtes Blut bekommen konnte. Es drückt seinen Unmut darüber aus, dass die Amerikaner all seinen Einsatz nicht zu schätzen wissen.

Der Fluch

Der Geist eröffnet Virginia, dass er seit 300 Jahren nicht geschlafen hat. Der einzige Ort, an dem er sich ausruhen könne, sei ein kleiner Garten hinter den Fichtenwäldern. Doch dorthin könne er nur gelangen, wenn die alte Prophezeiung erfüllt werde, die am Fenster der Bibliothek stehe: Ein unschuldiges Mädchen soll für den Sünder weinen und ihn dazu bringen, Reue zu zeigen, dann blüht der Mandelbaum, und in Canterville zieht Friede ein. Der Geist ist überzeugt, dass dieses Mädchen Virginia ist: Wenn sie für seine Seele bete und den Todesengel um Erbarmen bitte, werde der Fluch aufgehoben. Virginia fasst sich ein Herz und folgt dem Gespenst in eine dunkle Höhle, die wie durch Zauberhand am Ende des Raumes auftaucht. Die Wand schließt sich hinter ihnen.

„Es gab nun alle Hoffnung auf, dieser ungesitteten amerikanischen Familie jemals einen Schreck einjagen zu können, und begnügte sich in der Regel damit, in Filzpantoffeln die Gänge entlangzuschleichen (…)“ (über das Gespenst, S. 38)

Die Familie findet sich zum Tee ein, doch von Virginia fehlt jede Spur. Den ganzen Abend suchen ihre Eltern, ihre Brüder und die Hausangestellten nach ihr – ohne Erfolg. Mr. Otis erinnert sich, dass in der Nähe Zigeuner ihr Lager aufgeschlagen haben, und befürchtet, sie könnten seine Tochter entführt haben. Zusammen mit Washington und Cecil macht er sich auf den Weg, um dem Verdacht nachzugehen. Am Abend erfahren sie, dass man die Zigeuner ausfindig gemacht hat, dass Virginia aber nicht bei ihnen war. Man beschließt, die Suche am Morgen fortzusetzen. Um Mitternacht ertönt ein lautes Krachen, dann ein Schrei und seltsame Musik – und Virginia taucht auf. Sie erklärt den Anwesenden, dass sie mit dem Gespenst unterwegs gewesen und dass dieses nun endgültig tot sei. Es habe seine Taten bereut und ihr ein Schmuckkästchen geschenkt. Sie zeigt ihren Eltern und ihren Brüdern einen Geheimgang, der zu einem kleinen Verließ führt. Dort liegt ein angekettetes Skelett, und gerade außerhalb seiner Reichweite stehen ein Krug und ein Holzteller. Virginia beginnt zu beten. Einer ihrer Brüder bemerkt, dass draußen der Mandelbaum zu blühen begonnen hat. Virginia erklärt, das sei das Zeichen, dass Gott dem Geist vergeben habe.

Eine Beerdigung und eine Hochzeit

Vier Tage später werden die sterblichen Überreste von Simon von Canterville auf dem alten Friedhof beerdigt. Ein großer Trauerzug mit einem prächtigen Leichenwagen geleitet ihn zur letzten Ruhe. Insbesondere Virginia ist tief bewegt, weil der Geist nun endlich Frieden im Garten des Todes gefunden hat – genau so, wie er es sich gewünscht hat.

„Es war schlicht, aber gefällig in ein langes, mit Friedhofserde getüpfeltes Sterbehemd gekleidet, hatte sich die Kinnlade mit einem gelben Leinenstreifen hochgebunden und trug eine kleine Laterne und einen Totengräberspaten.“ (über das Gespenst, S. 39)

Mr. Otis spricht Lord Canterville auf den wertvollen Schmuck an, den sie in dem Schmuckkästchen gefunden haben. Die uralten Familienerbstücke sind ein Vermögen wert und die Familie Otis möchte sie gern den Cantervilles zurückgeben. Davon will der Lord allerdings nichts hören: Der Schmuck gehöre zum Haus, das Otis mit dem gesamten Inhalt gekauft habe. Auch gebühre Virginia Dank, weil sie Sir Simon geholfen habe. So trägt Virginia den Schmuck nach ihrer Hochzeit mit dem Herzog von Cheshire zu besonderen Gelegenheiten. Mr. Otis schließt seinen Schwiegersohn trotz anfänglicher Zweifel ins Herz, obwohl er als Republikaner seine Mühe mit dem Adelstitel seiner Tochter hat.

„Ich muss mit meinen Ketten rasseln und durch Schlüssellöcher seufzen und des Nachts umherwandern (…). Das ist meine einzige Daseinsberechtigung.“ (das Gespenst zu Virginia, S. 45)

Nach ihren Flitterwochen machen Virginia und Cecil einen Spaziergang zum alten Friedhof. Cecil möchte wissen, was an dem Abend mit dem Gespenst wirklich geschehen ist, doch Virginia weicht aus. Sie erklärt ihm, dass sie viel von Sir Simon über das Leben, den Tod und die Liebe gelernt hat und dass sie nicht mehr darüber sagen kann. Er drängt sie nicht weiter und schlägt vor, dass sie die Geschichte ja mal ihren gemeinsamen Kindern erzählen kann.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die nur rund 60 Seiten starke Erzählung schildert in sieben Kapiteln das Aufeinandertreffen zweier Welten: Amerikanischer Materialismus prallt auf englisches Standesbewusstsein. Wildes Sprache fängt die Komik dieser Situation in geschliffenen Formulierungen ein. Erzählt wird aus der Perspektive eines Berichtenden, der von der Geschichte erfahren hat und sie nun wiedergibt. Er tritt nur dreimal kurz selbst in Erscheinung und trägt ansonsten die Züge eines allwissenden Erzählers, der auch die Gedanken und Gefühle des Gespenstes kennt. Die Sprache ist leicht verständlich und oft satirisch überzeichnend. Humorvolle Momente entstehen zum einen durch Running Gags (die Familie Otis hat beispielsweise für jedes Problem ein passendes Mittel parat, der Geist für jede Herausforderung den passenden Spuk), zum anderen durch Übertreibung (Sir Simon hat seine Frau umgebracht, weil sie nicht kochen konnte). Daneben gibt es auch melancholische Szenen, etwa wenn der Geist von seiner Sehnsucht nach dem Tod erzählt.

Interpretationsansätze

  • Im Mittelpunkt der Erzählung steht ein kultureller Konflikt: Der „unfeine“ Materialismus der amerikanischen Familie wird von Wilde genauso ins Komische gesteigert wie das Standesbewusstsein auf britischer Seite. Mr. Otis als überzeugter Republikaner lehnt anfangs alles ab, was mit der britischen Aristokratie zu tun hat. Die Erlebnisse mit dem Gespenst stellen jedoch seine Grundsätze infrage. Mit der Zeit wird er weniger hart und freundet sich sogar mit dem Gedanken an, dass seine Tochter in eine adlige Familie einheiratet. Umgekehrt wird das Gespenst quasi zum Materialismus bekehrt, da es sich zur Erzeugung des Blutflecks des Malkastens von Virginia bedient und außerdem seine Ketten mit dem Öl schmiert, das Mr. Otis ihm gegeben hat.
  • Die Gespensterfurcht wird in der Erzählung auf den Kopf gestellt. Am Ende ist es paradoxerweise das Gespenst, das sich aus Furcht vor den Amerikanern kaum noch aus seinem Zimmer wagt.
  • Das Gespenst von Canterville verbindet Elemente der viktorianischen Spukgeschichte mit Satire und einer romantischen Nebenhandlung. Wilde spielt dabei mit vielen Klischees: Nicht nur das Gespenst, sondern auch die anderen Figuren, zum Beispiel die liebreizende Virginia oder der ehrgeizige Washington, weisen stereotype Züge auf.
  • Der Untertitel „Eine hylo-idealistische Erzählung“ weist auf das zu Wildes Zeit populäre Ansinnen hin, die konträren Positionen Idealismus und Materialismus zu versöhnen. Der Begriff „hyle“ stammt aus der aristotelischen Philosophie und bedeutet „Materie“. Idealismus ist die Überzeugung, dass die Wirklichkeit eine Erscheinungsform des Geistes ist. Damit steht sie direkt dem Materialismus gegenüber, der alles Geistige auf das Materielle zu reduzieren versucht.
  • Die Figuren tragen sprechende Namen: Canterville erinnert an die alte englische Stadt Canterbury sowie an die mittelalterlichen Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer. Otis ist auch der Name einer amerikanischen Firma, nämlich des weltgrößten Aufzugbauers. Washington ist ebenfalls ein typisch amerikanischer Name, und Virginia bedeutet „die Jungfräuliche“.

Historischer Hintergrund

Das Viktorianische Zeitalter

Die von 1837 bis 1901 dauernde Regentschaft von Königin Victoria bescherte Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Epoche äußerer Sicherheit und wirtschaftlichen Wohlstands, die heute als Viktorianisches Zeitalter bekannt ist. Mit der Niederwerfung des Sepoy-Aufstands in Indien 1857 und der Teilnahme am Krimkrieg aufseiten des Osmanischen Reiches konnte England seine außenpolitische Stärke unter Beweis stellen. Durch die industrielle Revolution wandelte sich das Gefüge der britischen Gesellschaft: War zuvor der überwiegende Teil der Bevölkerung auf dem Land ansässig, strömten die Menschen nun zu Tausenden in die rasch wachsenden Städte. Als Reaktion auf die neu entstandenen, durch Karl Marx und Friedrich Engels beeinflussten Arbeiterbewegungen wurde ab 1867 das Wahlrecht reformiert, sodass sich die Anzahl der Wahlberechtigten verdoppelte.

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie die Evolutionstheorie von Charles Darwin oder die Entdeckung und Erforschung von Geisteskrankheiten erschütterten das alte Wertgefüge. Die Menschen des Viktorianischen Zeitalters reagierten auf diese Herausforderungen mit noch strengeren Moralvorstellungen. Diese hohen Ansprüche an das eigene Leben und an den gesellschaftlichen Status zwangen die Menschen dieser Zeit, besonders ihre sexuellen Neigungen im Geheimen auszuleben.

In der Literatur war das ausgehende 19. Jahrhundert die Ära der großen Romane: In England fanden die Werke von Charles Dickens, George Eliot und den Schwestern Brontë ein breites Publikum. Der berühmteste Dichter dieser Epoche, Alfred Tennyson, wirkte stilbildend für viele Jahre.

Entstehung

Oscar Wildes Söhne wurden 1885 und 1886 geboren. In diesen Jahren schrieb Wilde zahlreiche Geschichten, die wohl auch für seine Kinder gedacht waren. Zu den „Studien in Prosa“, wie er sie selbst nannte, zählt auch Das Gespenst von Canterville. Wichtige Einflüsse für die mitunter absurden Geschichten waren unter anderem Alice im Wunderland von Lewis Carroll oder die Märchen Andrew Langs. Die Kinder- und Jugendliteratur erfuhr Ende des 19. Jahrhunderts einen wahren Aufschwung, sodass zahlreiche Literaten sich auch in diesem Genre versuchten. Ganz in der Tradition der irischen Geschichtenerzähler verfasste Wilde seine Erzählungen „teils für Kinder und teils für Leute, die noch wie Kinder staunen und sich freuen können“, wie er sagte. Er schrieb diese kleinen Geschichten auf, nachdem er sie sich für seine Kinder ausgedacht und Bekannten erzählt hatte. Zeitgenossen zufolge waren die Texte zuerst für die mündliche Wiedergabe gemacht, auf die sich der Autor blendend verstand.

Das Gespenst von Canterville erschien 1887 in The Court & Society Review. In derselben Ausgabe veröffentlichte das Blatt eine weitere von Wildes Geschichten, Lord Arthur Saviles Verbrechen, in der es um Verbrechen als Ausdruck künstlerischer Kreativität geht. Ebenfalls 1887 erschienen die Texte Die Sphinx ohne Geheimnis und Der Modellmillionär, die Wilde in einer Kurzgeschichtensammlung veröffentlichte.

Wirkungsgeschichte

Oscar Wildes Geschichten und Märchen wurden nur zum Teil veröffentlicht. Berühmt wurden die fünf Gutenachtgeschichten der Sammlung Der glückliche Prinz und andere Märchen. In der Rezeptionsgeschichte liegt der Schwerpunkt, wie von Wilde vorgesehen, auf einem jungen Publikum.

Das Gespenst von Canterville wurde mehr als zehnmal verfilmt. Etwa ein Drittel davon sind Animationsfilme. Zu den bekanntesten Adaptionen zählen die Verfilmung aus dem Jahr 1944 mit Charles Laughton in der Hauptrolle sowie die US-amerikanische TV-Fassung mit Patrick Stewart und Neve Campbell (1996). Zudem gab es mehrere Hörspielfassungen und Theateradaptionen. 2013 und 2014 entstanden zwei Familienopern, die auf Wildes Erzählung beruhen.

Das Gespenst von Canterville erschien vier Jahre vor Wildes großem Skandalroman Das Bildnis des Dorian Gray, für den der Autor heute vor allem bekannt ist. In seinen Erzählungen klingt bereits das stilistische Können und der Fantasiereichtum der späteren Werke an. Ebenso bietet die Geschichte vom Canterville-Geist einen ersten Vorgeschmack auf den bissigen Humor, der mit Dramen wie Die Bedeutung, Ernst zu sein zu Wildes Markenzeichen wurde. Der Wissenschaft gelten die Gutenachtgeschichten deswegen als frühe Arbeitsproben eines der umstrittensten und berühmtesten irischen Literaten.

Über den Autor

Oscar Wilde wird am 16. Oktober 1854 in Dublin geboren. Seine Mutter ist Schriftstellerin, der Vater Chirurg. Wilde studiert in Dublin und Oxford klassische Philologie. Schon als Student begeistert er sich für die Ideale des Ästhetizismus und praktiziert mustergültig die Idee von der Ausdehnung des Schönheitskults auf alle Bereiche des Lebens. Sein exzentrisches Auftreten mit langer Mähne und exquisiter Garderobe macht ihn früh bekannt. 1879 zieht Wilde nach London um, lehrt dort Ästhetik und steigt schnell in die feine Gesellschaft auf. 1884 heiratet er die wohlhabende und gebildete Constance Lloyd, die 1885 und 1886 die beiden Söhne Cyril und Vyvyan zur Welt bringt. Zu dieser Zeit beginnt er seine Homosexualität auszuleben. Nach lyrischen Arbeiten, Essays und Märchen veröffentlicht er 1891 seinen einzigen Roman, den Skandalerfolg Das Bildnis des Dorian Gray (The Picture of Dorian Gray). Mit dem Theaterstück Lady Windermeres Fächer (Lady Windermere’s Fan) etabliert er sich 1892 endgültig als Erfolgsautor von sprühendem Witz und scharfem Intellekt – viktorianischen Vorbehalten gegen seine „Unmoral“ zum Trotz. Wildes Ruf festigt sich in den Folgejahren mit den Stücken Eine Frau ohne Bedeutung (A Woman of No Importance), Ein idealer Gatte (An Ideal Husband) und Die Bedeutung, Ernst zu sein (The Importance of Being Earnest). Dann wird ihm seine mehrjährige Beziehung mit dem jungen Snob Lord Alfred Douglas zum Verhängnis. Wilde wird 1895 wegen homosexueller Kontakte zu zwei Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis verfasst er De profundis. Die letzten Lebensjahre verbringt er in relativer Armut, von Freunden unterstützt, auf dem europäischen Festland. Bis zu seinem Tod am 30. November 1900 in Paris veröffentlicht er nur noch Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading (The Ballad of Reading Gaol), ein Text über seine Hafterfahrung.

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