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Das kurze Leben

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Das kurze Leben

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein armes Würstchen stirbt – und ein literarisches Universum wird geboren.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Vom Versuch, ein anderer zu sein

Wir leben im Zeitalter des „Makeover“, in dem Frauenzeitschriften und Ratgeber ihren Lesern empfehlen, sich doch einfach ganz neu zu erfinden. Juan Carlos Onetti nahm dies schon 1950 vorweg, als er der Hauptfigur in Das kurze Leben die Flucht in eine neue Existenz erlaubte: heraus aus dem armseligen Dasein als Werbetexter mit fetter, brustamputierter Ehefrau, hinein in eine widerliche Machowelt voller Drogen, Verbrechen und Gewalt. Gewiss, mit dieser Art von Makeover lässt sich kein Blumentopf gewinnen. Doch Ruhm und Erfolg waren dem menschenscheuen Schriftsteller angeblich egal: „In meinem Fall ist der Leser nicht unbedingt notwendig“, sagte er. Wer jedoch erleben will, wie sich die argentinisch-uruguayische Hölle anfühlt, und wer an den Ursprung der modernen lateinamerikanischen Literatur reisen will, der kommt an Onetti nicht vorbei.

Take-aways

  • Das kurze Leben ist der wichtigste Roman des uruguayischen Autors Juan Carlos Onetti.
  • Inhalt: Der mittelmäßige Werbetexter Brausen verliert erst seine Frau und dann seinen Job. Um dem trostlosen Dasein zu entkommen, erfindet er den Arzt Díaz Grey in der fiktiven Stadt Santa María und schlüpft in die Rolle des brutalen Arce, der regelmäßig Queca, eine Prostituierte in seiner Nachbarwohnung, verprügelt. Am Ende flieht er zusammen mit Quecas Mörder aus Buenos Aires und verschwindet in der erdachten Stadt.
  • Im Roman vermischen sich Realität und Fiktion, und der Autor bleibt dem Leser die Antworten auf viele Fragen schuldig.  
  • Der labyrinthische Stil symbolisiert die Verlorenheit des Menschen: Er ist allein, der Welt entfremdet und des Lebens müde.
  • Die Flucht in die Fiktion bringt Linderung, aber keine Erlösung vom Leiden.
  • Onetti wollte mit seinem Werk der „Seele der Tatsachen“ auf den Grund gehen.
  • Als Vorbild für Santa María diente ihm William Faulkners Yoknapatawpha County.
  • Onetti galt als scheu, sperrig und stur. Seine Nachfolger, darunter Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa, bewunderten und fürchteten ihn.
  • Heute gilt er als Vater der literarischen Moderne Lateinamerikas und als „Kafka vom Río de la Plata“.
  • Zitat: „Ich war an dem unbestimmten Tag verschwunden, an dem meine Liebe zu Gertrudis geendet hatte; ich lebte im geheimen Doppelleben von Arce und dem Provinzarzt weiter.“

Zusammenfassung

Verfaulende Liebe

Juan María Brausen liegt schwitzend in seiner Wohnung in einer Vorstadt von Buenos Aires auf dem Bett und lauscht. Nebenan ist Queca eingezogen, eine Prostituierte, die ihn fasziniert. Brausen wartet auf die Rückkehr seiner Frau Gertrudis aus dem Krankenhaus, wo man ihr am Vormittag die linke Brust wegoperiert hat. Der Gedanke an das abgeschnittene, quallenartige Brustfett ekelt ihn. Auch graut ihm vor dem Moment, an dem seine rechte Hand ins Leere greifen wird und er Begierde vortäuschen muss.

„ Es würde mir unmöglich sein, das Drehbuch zu schreiben, von dem Stein mir gesprochen hatte, solange es mir nicht gelang, die abgeschnittene Brust zu vergessen, nun formlos, wie eine Qualle auf dem Operationstisch eingesunken, sich darbietend wie ein Napf.“ (S. 13 f.)

Brausen weiß: Die Liebe zwischen ihm und seiner Frau hat zu faulen begonnen. Während er sie zu trösten versucht, denkt er an den Auftrag für ein Drehbuch, den sein Freund und Kollege Julio Stein ihm vermittelt hat. Er stellt sich einen müden, etwa 40-jährigen Arzt mit dicken Brillengläsern in der verschlafenen Provinzstadt Santa María vor. Díaz Grey soll er heißen. Eine verführerisch schöne Frau betritt dessen am Hauptplatz liegende Praxis. Sie trägt ein Medaillon mit der Fotografie eines sehr jungen Mannes um den Hals.

Kann Mitleid Sünde sein?

An einem der nächsten Tage geht Brausen nach Feierabend mit Stein und dessen Lebensgefährtin Miriam, „Mami“ genannt, aus. Mami ist 50 und damit ganze 15 Jahre älter als Stein, sie ist fett und faltig, eine Aura verblühter Jugend und verwüsteter Schönheit verströmend. Sie und Stein haben sich in einem Nachtclub kennengelernt, als Julio 20 und mittellos, Mami dagegen eine schöne Frau mit einigen Rücklagen war. Mami sehnt sich noch immer nach männlicher Aufmerksamkeit, muss sich aber mit dem bisschen Beischlaf begnügen, zu dem sich der Frauenheld Stein ab und zu, abgestumpft durch Unmengen an Alkohol, aus Dankbarkeit oder Mitleid überwindet. Stein erkundigt sich nach Gertrudisʼ jüngerer Schwester Raquel, die in den gemeinsamen Montevideoer Zeiten – damals noch ein Backfisch – in Brausen verliebt war. Raquel werde bald heiraten, antwortet Brausen, einen gewissen Alcides.

„Und man entdeckt, dass das Leben schon seit vielen Jahren aus Missverständnissen besteht. Gertrudis, meine Arbeit, meine Freundschaft mit Stein, der Eindruck, den ich von mir selbst habe – Missverständnisse.“ (S. 65)

In jene Zeit scheint sich Gertudis nun mit Gewalt zurückversetzen zu wollen, als sie selbst fünf Jahre jünger und das Leben voller Versprechungen war. Brausen findet das unerträglich. Er malt sich aus, sie umzubringen. Doch dann fährt Gertrudis für ein paar Tage zu ihrer Mutter, die eine halbe Stunde von ihnen entfernt in Temperley wohnt.

Elenas Geheimnis

Brausen denkt sich Díaz Grey als Abbild seiner selbst, und aus einer Fotografie einer jüngeren, schlankeren, unverstümmelten Gertrudis tritt die Frau mit dem Medaillon – Elena Sala – heraus und in Greys Praxis hinein. Sie täuscht Herzprobleme vor und entblößt ihren Oberkörper, sodass er ihre großen, straffen Brüste sieht. Bevor er sie aber untersuchen kann, kleidet sie sich unvermittelt wieder an. Erst nach einigem Zögern kommt sie zur Sache: Sie braucht Morphium, für sich und ihren Mann. Grey schreibt ihr ein Rezept zu einem extrem überhöhten Preis – damit sie bloß nicht wiederkomme, wie er behauptet.

„Mittlerweile bin ich dieser kleine, schüchterne, unveränderliche Mann, verheiratet mit der einzigen Frau, die ich verführt habe oder die mich verführt hat, nicht nur außerstande, ein anderer zu sein, sondern auch nur, den Willen aufzubringen, ein anderer zu sein.“ (S. 65)

Doch sie kommt wieder, jeden Tag zur Mittagsstunde, und lässt sich eine Morphiumspritze geben. Eines Tages taucht ihr Ehemann Herr Lagos in Greys Praxis auf und lädt ihn zum Abendessen in ein Hotel ein. Er ist ein rundlicher, älterer und wach dreinschauender Herr, der so gar nicht zu der blonden, hochgewachsenen Elena zu passen scheint. Er will den Arzt zu seinem Saufbruder machen und erklärt scheinbar nebenbei, dass Elena sich in einen jüngeren Mann, den englischen Gigolo Oscar Owen, verliebt habe. Ihr Leiden habe begonnen, als dieser plötzlich verschwunden sei.

Ehe kaputt, Job weg

Auf dem Bett ausgestreckt, dem chaotischen Treiben in Quecas Wohnung lauschend, zieht Brausen Bilanz: Bald wird er Gertrudis und seinen Job verlieren. Das glaubt er den angestrengt heiteren Briefen seiner Frau sowie den Reden seines Chefs Macleod über schwierige Zeiten in der Werbeindustrie zu entnehmen. Während er lustlos Kunden abklappert und jeden Samstag in Temperley ebenso lustlos mit seiner Frau schläft, hat er das Ende bereits vor Augen. Am Sonntagabend vor Gertrudisʼ Rückkehr klingelt er bei Queca und stellt sich ihr als Arce vor. Er sei auf Empfehlung von Ricardo gekommen – eines Mannes, mit dem Queca offenbar in einer Art Hassliebe verbunden ist und den sie zu vergessen versucht.

„Schlimm ist nicht, dass das Leben Dinge verspricht, die es uns nie geben wird; schlimm ist, dass es sie uns immer gibt und dann irgendwann nicht mehr gibt.“ (S. 115)

Über unzähligen Gläsern Gin versucht Brausen, Quecas Misstrauen zu zerstreuen. Sie landet betrunken in seinen Armen – als Brausen bewusst wird, dass er sich die Geschichte nur ausgedacht hat und stattdessen Díaz Grey seine Elena Sala im Arm hält. An einem anderen Tag liegt er wieder mit Queca auf dem Bett, Gin trinkend, während sie ihm von „ihnen“ erzählt: von Geistern verflossener Freundinnen, Freier und Zuhälter, die Queca flüsternd heimsuchen und sie nur dann in Ruhe schlafen lassen, wenn sie genug getrunken hat. Da betritt Ernesto, ein junger, dunkelhaariger Mann die Wohnung. Er schlägt Brausen brutal zusammen und wirft ihn hinaus.

La vie est brève

Gertrudis spürt Brausens angewiderte Gleichgültigkeit und sucht ein klärendes Gespräch. Doch sie dringt nicht zu ihm durch und beschließt, ihn zu verlassen. Brausen ist das inzwischen egal. Für ihn zählen nur noch Arce, der Díaz Grey und all die unfertigen Geschichten, die sich um sie ranken. Queca lädt ihn ein, mit ihr nach Montevideo zu reisen, wo sie einige Tage mit einem älteren Kunden verbringen will. An einem Samstagnachmittag, an dem Queca mit diesem Kunden beschäftigt ist, geht Brausen zu einem Empfang in Mamis Wohnung. Die feiert dort, in Erinnerungen schwelgend, ihre Jugendzeit in Paris. Während sie hingebungsvoll alte Chansons singt, darunter La vie est brève, scheint sie für einen kurzen Moment wie neu geboren.

Suche nach der großen Liebe

Díaz Grey begleitet Elena an den Badeort La Sierra, um Oscar Owen zu suchen. Sie zeigt sich ihm gegenüber nach wie vor gleichgültig. Als er am Abend aus der Dusche kommt und eine schweigende, geistig abwesende Elena im Bett vorfindet, verlässt er das gemeinsame Schlafzimmer und verbringt die Nacht in einem Sessel vor dem Hotel.

„Ich war an dem unbestimmten Tag verschwunden, an dem meine Liebe zu Gertrudis geendet hatte; ich lebte im geheimen Doppelleben von Arce und dem Provinzarzt weiter.“ (S. 162)

Zum Mittagessen treffen sie den Hotelbesitzer und erfahren, dass Owen einen Monat lang in dem Hotel gewohnt und zwei Tage zuvor noch bei den Glaesons geweilt hat, einer englischen Familie in der Nachbarschaft. Am Nachmittag suchen sie die Familie auf und treffen auf eine junge Geigerin, die ihnen eher schlecht als recht vorspielt. Die breiten Hüften des Mädchens wecken in Grey ein sinnliches Verlangen. In einer Version der Geschichte wird er seine zukünftige Frau, Elena, mit eben diesem Mädchen in einem Stundenhotel betrügen. Aber dazu wird es nicht kommen. Denn in einer anderen Version besucht er als frustrierter Gefährte Elenas mit ihr den Bischofspalast. Nach Owen gefragt, referiert der Bischof über verschiedene Formen der Verzweiflung und beschreibt den jungen Mann als „starken Verzweifelten“ – als einen, der sich von der eigenen Verzweiflung distanziert habe. Anschließend behauptet Elena, Owen sei für sie erledigt. Sie geht mit Grey ins Bett. Am nächsten Morgen ist sie tot. Der Arzt schneidet sich beim Zertreten leerer Morphiumampullen die Ferse auf.

Im Rausch der Gewalt

Vor Quecas Wohnung liegt eine Nachricht von Ernesto: „Ich rufe dich an oder komme um neun.“ Arce liest die Nachricht, legt sie wieder vor die Tür und streckt sich auf dem Bett aus. Als Queca heimkommt, klingelt das Telefon. Arce nimmt ab und verleugnet sie. Queca schimpft ihn daraufhin einen Scheißkerl und Hahnrei und trinkt Gin, bis sie sich übergeben muss. Arce schlägt ihr mit den Fäusten das Gesicht blutig und geht. Am Wochenende reisen sie nach Montevideo – sie mit ihrem Gönner im Flugzeug, er allein mit dem Schiff – und treffen sich vormittags am Hafen, wo sie ihn ihr neues Parfüm riechen lässt.

„Ich konnte die Luft einatmen, die von entschwundenen schwitzenden Schatten, flüchtigen Wutanfällen, raschen Entschlüssen, Schwüren der Liebe und der Rache, Atemzügen Betrunkener ausgeschieden und genährt worden war.“ (S. 164)

Nach der Reise besucht Brausen Gertrudis in Temperley. Er hat in Montevideo alte Bekannte und Verwandte wiedergetroffen, darunter auch Raquel. Alle seien „etwas mehr verfault, um fünf Jahre mehr“, berichtet er. Dass er ihre magere jüngere Schwester verführt hat, verschweigt er.

Das wahre Leben: eine Farce

Von nun an zwingt er Queca, sich zu betrinken, um sie dann zu misshandeln. Er erfindet seine eigene Werbeagentur, mietet eine Bürohälfte und besorgt sich Visitenkarten. In der anderen Hälfte sitzt Onetti, ein bebrillter Unsympath, der sich nicht für seinen Büronachbarn zu interessieren scheint. Überhaupt ist alles eine Farce: Brausen hat keinen einzigen Kunden. Seinen Job hat er verloren und lebt von einer Abfindung, die allerdings nur einige Monate reichen wird. 

„Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie eine dreckige Hündin sind. Ist das klar genug?“ (Grey zu Elena, S. 209)

Eines Tages kommt Raquel ihn unerwartet besuchen. Sie ist schwanger und redet salbungsvoll von Verzeihung und Rettung. Sie möchte ihr Verhältnis zu Brausen klären, obwohl ein solches für diesen gar nicht existiert. Er kann seine Abneigung vor ihr nur schwer verbergen und komplimentiert sie grob aus der Wohnung hinaus.

Flucht und Rettung

Später geht er mit einem Revolver zu Queca. Die liegt regungslos auf dem Bett. Ernesto tritt aus der Küche, schaut kurz zu ihr hin und sagt: „Sie ist.“ Arce nimmt Ernesto mit in seine Wohnung und verspricht, ihm bei der Flucht aus Buenos Aires zu helfen. Als Ernesto eingeschlafen ist, macht Brausen sich auf die Suche nach Stein. Er findet ihn in einem Club in Begleitung einer Frau mit grünen Handschuhen, die ihn an Gertrudis und Raquel und zugleich an die Geigerin erinnert. Sie betrinken sich, bis der Laden schließt. Brausen beschließt, mit seinem absurden Leben endgültig abzuschließen und ein neues zu erfinden.

„Es geht um etwas anderes, darum, dass die Leute immer glauben, zu einem Leben verdammt zu sein bis zum Tode. Dabei ist man nur zu einer Seele verdammt, zu einer Seinsart. Man kann viele Male leben, viele mehr oder minder lange Leben.“ (Brausen, S. 215)

Am nächsten Morgen mustert Ernesto ihn misstrauisch. Er droht sogar, Arce die eigene Tat in die Schuhe zu schieben. Nur widerwillig lässt er sich auf die gemeinsame Flucht ein. Brausen ist nun fest entschlossen, den Arzt Díaz Grey nicht mehr nur zu denken, sondern Díaz Grey zu werden. Über einsame Landstraßen und durch menschenleere Dörfer fahren sie Richtung Santa María. Ernesto ist die Sache nicht geheuer. Warum diese Stadt, weshalb die Einmischung? Weil er Queca selbst umgebracht hätte, entgegnet Arce, wenn Ernesto ihm nicht zuvorgekommen wäre. Dann entdecken sie Männer, die sie zu beobachten scheinen. Oder halluzinieren sie bereits? Am nächsten Morgen geht Ernesto auf die Männer zu, die vor der Pension auf ihn zu warten scheinen. Arce folgt ihm. Als einer der Typen ihn anspricht, schlägt Ernesto den Fremden zu Boden.

Nichts spielt mehr eine Rolle

Die Polizei hält Díaz Grey zehn Tage lang unter Mordverdacht in La Sierra fest. Lagos und Owen besuchen ihn anschließend im Hotel. Angeblich möchte Lagos den Tod seiner Frau rächen, doch der Engländer klärt Grey später über Lagosʼ wahre Pläne auf: Der Arzt soll so viele Rezepte für Morphium ausschreiben, wie es in Buenos Aires Apotheken gibt, damit sie es später auf dem Schwarzmarkt für ein Vielfaches weiterverkaufen können. Laut Owen hat das Ehepaar seit Jahren von diesem Trick gelebt. Am Abend klopft Lagos beim Arzt an, mit der Geigerin im Schlepptau. Sie soll bei ihrem Coup mitmachen, angeblich, um ihre Mission – die laut Lagos der Huldigung Elenas dient – mit ihrer Unschuld reinzuwaschen.

„Das war es, was ich von Anfang an suchte, seit dem Tod des Mannes, der fünf Jahre mit Gertrudis zusammengelebt hat; frei zu sein, den anderen gegenüber unverantwortlich zu sein, mich ohne Anstrengung in wahrer Einsamkeit zu erobern.“ (S. 348)

Doch es kommt anders als geplant. Mitten im Karneval erschießt Owen einen Mann, der sie verhaften will. Lagos beschließt daraufhin, in der Menge unterzutauchen. Gemeinsam suchen sie in einem Maskenverleih Kostüme aus: Grey geht als Stierkämpfer, Lagos als König, Owen als Hellebardier und die Geigerin als Balletttänzerin. In der Wohnung von René, Lagosʼ Freund, ziehen sie sich um. Die Verkleideten gehen aus, nur Grey bleibt zurück, um ab und zu Pepe in der Bar anzurufen und nach „Herrn Albano“ zu fragen – ein Codewort, um sich nach dem neuesten Stand der Dinge zu erkundigen.

Abends gehen sie alle auf einen Maskenball, wo die Geigerin ausgelassen mit jedem von ihnen tanzt. Ihr Geigenkasten, voll bepackt mit Morphiumampullen, wurde bereits aus der Wäscherei abgeholt, wo er deponiert war. Anscheinend haben René und dessen Kumpane sie betrogen. Aber Lagos bleibt bei seinem Plan: sich im Festtrubel verstecken und bis zum Morgen aufhören zu existieren. Aber welche Rolle spielt das überhaupt? Während der Engländer mit seiner Hellebarde vor dem gealterten, auf einer Bank zusammengesunkenen König Lagos auf und ab exerziert, schreiten Grey und die Geigerin in der Morgendämmerung davon.

Zum Text

Aufbau und Stil

Man kann sich Das kurze Leben wie ein verspiegeltes Labyrinth vorstellen: Am Anfang, scheinbar auf dem Boden der Tatsachen, steht der Werbetexter Juan María Brausen. Doch dieser Boden schwankt. Brausen träumt und denkt sich in zwei weitere Geschichten hinein, die des brutalen Arce und die des Provinzarztes Díaz Grey, beides verzerrte Abbilder seiner selbst, die wiederum mit verschiedenen Versionen derselben Frauen verkehren. Die Ebenen und Abzweigungen verschwimmen miteinander. Nach dem ersten, realitätsnah erzählten Treffen zwischen Arce und Queca zwingt Onetti seine Leser unvermittelt zurück auf den Startpunkt: „Ich hielt sie fest, gewiss, dass nichts geschah, dass all das auch nur eine jener Geschichten war, die ich mir jeden Abend erzählte, um leichter einzuschlafen (…)“. Ist Arce real oder ein Hirngespinst? Hat Grey Elena umgebracht oder war es Selbstmord? Antworten auf diese Fragen bleibt der Autor schuldig. Auf jeden Fall zwingt er den Leser zu aufmerksamer Lektüre: Er wechselt unvermittelt die Perspektiven, rollt Geschichten von hinten auf, führt gezielt in die Irre und manchen Erzählstrang ins Nichts. Doch während der Leser planlos mit ihm durch den düsteren Erzählkosmos irrt, beginnt er zu ahnen, dass er sich näher an der Wahrheit befinden könnte, als er wahrhaben will.

Interpretationsansätze

  • Das kurze Leben ist Roman und Metaliteratur zugleich: Indem Onetti Brausen seinen eigenen Romankosmos erfinden lässt, untersucht er das Wesen von Literatur und Wahrheit gleich mit. Sein Arbeitsethos fasste er so zusammen: „Man sagt, es gebe verschiedene Arten zu lügen; aber die widerwärtigste von allen ist die, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, und dabei die Seele der Tatsachen zu verbergen.“
  • Die Romanfiguren sind ihrer eigenen Existenz überdrüssig: Sie vegetieren in sinnlosen Jobs und abgelaufenen Beziehungen vor sich hin, sind dumm, boshaft und gefühllos, trunk-, drogen- und sexsüchtig. Unfähig, aus seinem „verfaulenden“ Leben auszubrechen, schafft Brausen sich eine eigene fiktive Welt, um darin seine Liebes- und Machtfantasien auszuleben. Literatur wird so für ihn – wie für seinen Erschaffer Onetti – zur Überlebensstrategie.
  • Letztlich bleibt Erlösung durch Flucht aus der Realität aber unmöglich: Im flirrenden Schwebezustand zwischen (Alb-)Traum und Wirklichkeit schwinden alle Gewissheiten. Die Fiktion verselbstständigt sich, und es passieren Dinge, deren Sinn sich niemandem mehr erschließt – auch nicht ihrem Erfinder. Wo der Leser Antworten sucht, findet er Fragen oder Sätze wie „Das alles ist bedeutungslos“ oder „Es spielt keine Rolle.“
  • Onettis Existenzialismus unterscheidet sich deutlich von der französischen Variante: Authentisch zu leben und Verantwortung für die eigene Freiheit zu übernehmen, ist für seine Figuren keine Option. Sie bleiben einsam, untätig in ihrer Gleichgültigkeit und unfähig, den Abgrund zu überbrücken, der sie von anderen trennt.
  • Brausen und Díaz Grey sind die Alter Egos des Autors – und haben zugleich nichts mit ihm zu tun. Juan Carlos Onetti spiegelt sich in ihnen und löst sich zugleich in ihnen auf. Auch die Frauenfiguren im Roman variiert er anhand seiner vier Ehefrauen. Die letzte von ihnen war die deutschstämmige Dolly Muhr, eine Geigerin, die Onetti noch während der Niederschrift seines Romans kennenlernte, 1955 heiratete und mit der er bis zu seinem Tod zusammenblieb.

Historischer Hintergrund

Auf der Suche nach einer nationalen Identität

Die Weltwirtschaftskrise 1929 traf Länder wie Argentinien und Uruguay mit besonderer Wucht: Der lukrative Export von Früchten und Bodenschätzen brach ein, und zuvor importierte Produkte wurden nun zunehmend innerhalb der eigenen Grenzen hergestellt. In Uruguay putschte sich 1933 Gabriel Terra an die Macht, ernannte sich zum Diktator, löste die Legislative auf und unterdrückte die Opposition. Im benachbarten Argentinien hielt sich die konservative Regierung nur durch massiven Wahlbetrug an der Macht. Die 1930er-Jahre gelten dort als „década infame“ (berüchtigtes Jahrzehnt) – auf die Militärregierungen und ab 1946 der Populist Juan Perón folgten. Perón, ein erklärter Bewunderer Adolf Hitlers und Benito Mussolinis, regierte Argentinien bis 1955 mit einer Mischung aus sozialen Wohltaten und nationalistischer Propaganda. Sein Motto: „Argentinien den Argentiniern!“

In Argentinien und Uruguay war die Frage nach der nationalen Identität eine heikle, denn bei beiden Ländern handelte es sich um vergleichsweise junge Einwanderungsnationen. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs lebten nirgendwo auf der Welt mehr im Ausland geborene Menschen. Mithilfe einer offenen Migrationspolitik hatte man die wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit der Region überwinden wollen. Wohlhabende Einwanderer aus dem vermeintlich fortschrittlichen Nordeuropa sollten ursprünglich gegenüber den Südeuropäern bevorzugt werden – zuletzt waren es jedoch mehrheitlich die Ärmsten der Armen aus Italien, Spanien, Irland und Polen, die in die wuchernden Metropolen zogen. In Uruguay nahm die 1862 zwischen Montevideo und Buenos Aires gegründete Schweizer Kolonie Nueva Helvecia eine Sonderstellung ein: ein Käse produzierendes, prosperierendes Eiland, dessen Bewohner sich rühmen, den Fortschritt ins Land gebracht zu haben – und die vor lauter Tüchtigkeit und Organisationstalent bis heute nicht als echte Uruguayer angesehen werden.

Entstehung

Genau in diese Region am Río de la Plata verlegte Onetti die fiktive Stadt Santa María, als er Mitte der 1940er-Jahre Das kurze Leben zu schreiben begann. Er arbeitete zu der Zeit in Buenos Aires, wo Péron und dessen Frau Evita regelmäßig die Massen aufstachelten. Onetti fühlte sich in der Stadt höchst unwohl und wann immer möglich besuchte er seine Familie in Montevideo. Er schrieb: „Dabei kam mir ein anderer Ort in den Sinn, der weder etwas mit Buenos Aires noch mit Montevideo zu tun hatte und doch eine Mischung aus beiden war.“ Onetti beschreibt Santa María im Roman als Provinznest im Spannungsfeld zwischen rechtschaffenen, blonden Kolonisten, die überzeugt sind, „dass sie die Wahrheit wohlverwahrt unter Westen und Miedern tragen“, und dem dunkeläugigen, kraushaarigen städtischen Arbeitervolk „mit einem Bedürfnis nach Entschädigung, das hinter ihren trägen Blicken lauerte“. Als Vorbild für diese fiktive Parallelwelt diente ihm das von William Faulkner erschaffene, in den US-Südstaaten angesiedelte Yoknapatawpha County. In dem für Onetti typischen Understatement bezeichnete er sein Werk einmal als „unerklärliches Plagiat“ des amerikanischen Meisters.

Onetti schrieb manisch, tauchte mit Haut und Haaren in seine erdachten Welten ein und berauschte sich an großen Mengen Alkohol und Tabak. Inspiriert von der Kunstform des Expressionismus war er einer der ersten lateinamerikanischen Autoren, der sich von einer naturalistischen Beschreibung der Urwälder und Pampas verabschiedete und sich dem städtischen Raum zuwandte. So spiegelt sich die schäbige, mittelständische Vorstadthölle, in der er damals lebte, in der kalten, klaustrophobischen Atmosphäre des Romans. Besonders die Saturiertheit und Gleichgültigkeit seiner Zeitgenossen machte ihm zu schaffen, und an dieser, wie er meinte, für das damalige Argentinien typischen Kombination arbeitete er sich in seinen Werken immer wieder ab.

Wirkungsgeschichte

Das Publikum zahlte es ihm mit gleicher Münze zurück: Als Das kurze Leben 1950 in Buchform erschien, fand es außerhalb der Intellektuellenszene kaum Beachtung. „Ich wechselte von Buch zu Buch den Verlag, um die Verluste zu verteilen“, sagte Onetti einmal lakonisch. Für den Ende der 1960er-Jahre einsetzenden Boom der lateinamerikanischen Literatur kam er zu früh – und hat ihm doch den Weg bereitet. Von erfolgreichen Autoren wie Carlos Fuentes, Julio Cortázar und Gabriel García Márquez wurde er bewundert und gefürchtet. Der peruanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa nannte ihn gar den Begründer des neuen lateinamerikanischen Romans. Heute gilt Onetti als einer der am wenigsten gelesenen, von der Literaturkritik aber am meisten gefeierten Autoren, als „Kafka vom Río de la Plata“. Und Das kurze Leben gilt als sein wichtigster Roman. Falls sich der notorische Eigenbrötler durch den späten Ruhm geschmeichelt fühlte, ließ er es sich nicht anmerken. „Der Künstler ist dazu bestimmt, ein unvollkommenes Leben zu führen“, sagte er einmal. Und: „Der Triumph als Episode, das Scheitern als wahrhaftiges und höheres Ziel.“

Über den Autor

Juan Carlos Onetti wird am 1. Juli 1909 in Montevideo, Uruguay, als Sohn eines Zollbeamten geboren. Lesen ist sein Leben: Der Junge schwänzt die Schule und lässt sich von seinem Bruder in einem Eimer auf den Grund einer Zisterne hinabkurbeln, um dort mit seinen Büchern allein zu sein. Nach Abbruch des Gymnasiums hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. 1930 heiratet er seine Cousine und zieht mit ihr nach Buenos Aires in Argentinien. Vier Jahre später, nach der Scheidung, kehrt er nach Montevideo zurück und ehelicht die Schwester seiner Exfrau. Er arbeitet als Redakteur für die Zeitschrift Marcha und veröffentlicht 1939 mit Der Schacht (El Pozo) seinen ersten Roman. Jahrzehnte später wird dieser als erster moderner Roman der südamerikanischen Literatur gefeiert, doch zunächst bleibt das auf Packpapier gedruckte Werk ein Ladenhüter: 20 Jahre modern die 500 Exemplare im Keller einer Buchhandlung vor sich hin, angeblich bis die Ratten ihnen den Garaus machen. Für Onetti folgen leitende Posten bei Reuters in Montevideo und Buenos Aires, eine dritte Ehe mit einer holländischen Redaktionskollegin und ein Job als Werbetexter. Mit Das kurze Leben (La vida breve, 1950) beginnt Onetti seinen Romanzyklus um die fiktive Stadt Santa María. 1955 heiratet er ein viertes und letztes Mal: diesmal eine deutlich jüngere, deutschstämmige Geigerin. 1962 erhält er den uruguayischen Literatur-Nationalpreis. Statt einer Dankesrede sagt er: „Ich rede nicht, ich schreibe.“ Zu Beginn der uruguayischen Militärdiktatur fällt er in Ungnade und wird 1974 zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Entlassung geht er nach Madrid ins Exil, wo er 1980 den bedeutenden Cervantes-Preis entgegennimmt – und dann das ihm zu Ehren veranstaltete königliche Festbankett schwänzt. In den letzten zehn Jahren verlässt er nur noch selten sein Bett, liest, raucht und trinkt exzessiv. Am 30. Mai 1994 stirbt Onetti 84-jährig an einem Herzanfall.

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