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Das Labyrinth der Einsamkeit

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Das Labyrinth der Einsamkeit

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Ein literarisch-philosophischer Essay über das Wesen der Mexikaner.


Literatur­klassiker

  • Essay
  • Moderne

Worum es geht

Der Mexikaner, das unbekannte Wesen

Angeregt durch einen Aufenthalt in den USA beschäftigte sich Octavio Paz mit der Frage, was das Wesen des Mexikaners im Vergleich zu dem des Nordamerikaners ausmacht. Seine Antwort gibt er mit diesem Essay: Misstrauen, Verschlossenheit und Einsamkeit, die aus dem Unvermögen resultieren, eine eigene kulturelle Ausdrucksform zu finden. Die Ursache dafür erkennt er in der langen spanischen Kolonialherrschaft und in den importierten liberalen Ideen, die seinem Heimatland im 19. Jahrhundert von oben verordnet wurden. Am stärksten ist Paz’ literarisch-philosophischer Essay da, wo er versucht, mit den Mitteln der vergleichenden Kulturwissenschaft die Andersartigkeit der Mexikaner in ihren alltäglichen Verhaltensweisen und sprachlichen Wendungen festzumachen. Wenn Paz am Ende des Essays die Einsamkeit als Grundbedingung menschlichen Daseins beschreibt, wird die Besonderheit des mexikanischen Wesens, die er zuvor so lebendig dargestellt hat, ein wenig verwässert. Paz’ eindringliches Plädoyer, sich anderen Kulturen zu öffnen, ohne dabei auf das eigene kulturelle Erbe zu verzichten, bleibt davon jedoch unberührt.

Take-aways

  • Octavio Paz’ Essay Das Labyrinth der Einsamkeit zählt zu den Klassikern der modernen mexikanischen Literatur.
  • Inhalt: Der Hauptwesenszug der Mexikaner, die durch den Kolonialismus und später den Liberalismus des 19. Jahrhunderts ihre Ursprünglichkeit verloren, ist ihre besondere Art von Einsamkeit. Diese ist zugleich eine Grundbedingung des menschlichen Daseins. Nur in der Liebe kann sie zeitweise überwunden werden.
  • Die Frage nach dem ursprünglichen Wesen der Mexikaner beschäftigte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele mexikanische Künstler und Intellektuelle.
  • Paz’ Essay von 1950 schließt an diese Diskussion um „Mexikanität“ und indigene Kultur an.
  • Zugleich steht er in der Tradition aufklärungskritischer Strömungen wie der deutschen Romantik oder des französischen Surrealismus.
  • Mit den Mitteln der vergleichenden Kulturwissenschaft untersucht Paz anthropologische Grundkonstanten.
  • Die Ideen zu dem Essay kamen ihm 1943 während eines Studienaufenthalts in den USA.
  • Paz’ Sprache ist wissenschaftlich und literarisch, mitunter auch pathetisch.
  • Seine deutliche Absage an Kommunismus und Stalinismus brachte ihm viel Kritik von Linken ein.
  • Zitat: „Fülle, Vereinigung, Ruhe, Glück, Übereinstimmung mit der Welt erwarten uns am Ende des Labyrinths der Einsamkeit.“

Zusammenfassung

Einsamkeit und Rebellion

Ähnlich wie Individuen fragen sich Völker, woher sie kommen und wer sie sind. Auch wenn es keinen unwandelbaren Nationalcharakter gibt, so hat doch jedes Volk seine Besonderheiten. Ein wesentlicher Zug der Mexikaner ist ihr Minderwertigkeitsgefühl und ihre ganz besondere Art von Einsamkeit. Zwar sind Menschen auch anderswo einsam, dies aber auf andere Weise. Die Einsamkeit des Mexikaners gründet darin, dass er – einst mit der ganzen Schöpfung verbunden – der lebendigen, von Göttern bevölkerten Wirklichkeit entrissen wurde, sich verwaist fühlt und Sehnsucht nach seinem Ursprung verspürt. Dagegen rührt die Einsamkeit des Nordamerikaners daher, dass er in seiner von ihm selbst geschaffenen abstrakten Welt der Maschinen mit seiner selbst auferlegten Moral lebt.

„Uns allen hat sich irgendwann unser Dasein als etwas Besonderes, Unübertragbares und Kostbares offenbart.“ (S. 20)

Im Unterschied zu den leichtgläubigen Amerikanern sind die Mexikaner gläubig. Sie lieben Mythen, nicht Kriminalgeschichten, und sind zutiefst nihilistisch. Dem unerschütterlichen Fortschrittsoptimismus, der Heiterkeit und dem Selbstvertrauen der Amerikaner setzen sie ihren Pessimismus und ihre Todessehnsucht entgegen. Der amerikanische Kult um Gesundheit, Arbeit und Glück ist ihnen fremd, stattdessen suchen sie Rausch, Grenzerfahrung und körperliche Vereinigung – ob bei der Kommunion oder im Beischlaf. Eines aber haben beide Völker gemein: die Unfähigkeit, sich mit dem Ungeformten, Chaotischen, das das Leben nun einmal ausmacht, zu versöhnen.

„Wenn wir uns ‚anders‘ fühlen, was macht uns dann so ‚anders‘, und worin besteht der eigentliche Unterschied?“ (S. 30)

Selbst Mexikaner, die schon lange in Nordamerika leben, erkennt man auf den ersten Blick. Sie stehen zwischen den Kulturen. Sie wollen sich weder anpassen – wie etwa die schwarze Bevölkerung – noch zu den eigenen Wurzeln zurückkehren und wagen es nicht, sie selbst zu sein. Die „pachucos“, junge, in Banden lebende rebellische Männer, streben in ihrer gesamten Erscheinung danach, anders zu sein und sich von der Masse abzuheben, sei es durch ihre Kleidung, sei es durch ihr provozierendes Verhalten. Von der eigenen Tradition, Sprache und Religion abgeschnitten, von der amerikanischen Gesellschaft zurückgewiesen, ziehen sie sich verbittert zurück und isolieren sich immer weiter. Durch Provokation versuchen sie, in Beziehung mit der amerikanischen Gesellschaft zu treten, die sich ihnen verschließt – nach dem Motto: Lieber ein Opfer oder geächteter Held als ein Nichts.

Zeremonien, Feste und die Liebe

Die Ursache für die Verschlossenheit der Mexikaner liegt in der Erfahrung einer feindseligen Außenwelt begründet. Zurückhaltung und Misstrauen – in der Kolonialzeit durchaus sinnvolle Schutzmechanismen gegen die allgegenwärtigen Bedrohungen – sind den Mexikanern inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Selbst Freunden vertrauen sie sich nicht an, denn das wäre ein Zeichen von Unmännlichkeit und Schwäche. Ihre höchsten Tugenden sind Stoizismus und Verzicht. In der Politik wie im Krieg, in der Kunst wie im sozialen Miteinander lieben sie das Zeremonielle, Förmliche. Es bewahrt sie davor, ihr Inneres hervorzukehren. Verstellung und das Verhehlen von Gefühlen bestimmen ihr Wesen. Sie schleichen und flüstern, sie lächeln statt sich zu beschweren. Sie stellen sich tot und verleugnen ihre Existenz, was ihnen etwas Schattenhaftes, Gespenstisches verleiht.

„Der Mexikaner lebt immer fern, fern von der Welt und den andern, fern von sich selbst.“ (S. 37)

Einzig bei den zahlreichen Volksfesten, die die Mexikaner über alles lieben und die ihr einziger Luxus sind, gehen sie aus sich heraus und öffnen sich der Welt. Da betrinken sie sich und ballern herum, da singen und johlen sie, werden redselig oder aggressiv. Dieser Hang zu explosiver, dramatischer Selbstentblößung und Hingabe stellt die Kehrseite ihrer Verschlossenheit dar. Wie die Beichte bietet ihnen die Fiesta Gelegenheit, sich zu öffnen und unterdrückte Vitalität herauszulassen.

„Überhaupt ist die moderne Massengesellschaft eine Ansammlung von Einsamen.“ (S. 54)

Die mexikanischen Frauen müssen von einem Geheimnis umgeben sein. Ihre Bestimmung ist es, im Verborgenen zu leben, anständig zu sein und dem Mann gefügig, ohne einen eigenen Willen oder eigene Triebe zu haben. Während der Mann sie umwirbt, bleibt die Frau passiv und unbeweglich. Sie gilt nicht als menschliches Wesen, sondern als ein Symbol für die Fortdauer der Rasse, dem man in der Öffentlichkeit Respekt entgegenbringt. Die Liebe ist der Versuch des Mannes, die geheimnisvolle Frau zu erobern, in sie einzudringen und sie zur Hingabe zu bringen – im Grunde eine Art der Vergewaltigung.

Lebens- und Todesverachtung

Für die alten Azteken stellten Leben und Tod keinen Gegensatz dar: Leben, Sterben und Wiederauferstehung waren Stationen eines unendlichen Kreislaufs. Die wichtigste Aufgabe bestand für die Azteken darin, als Kollektiv die Fortdauer der Schöpfung zu sichern. Erst durch das Christentum rückten das Individuum und seine Erlösung in den Mittelpunkt. Bei allen Unterschieden haben beide Haltungen etwas gemein: Sie betrachten Leben und Tod nicht getrennt, sondern als zwei Seiten eines größeren Ganzen. Für die Azteken bedeutete der Tod Teilhabe an der ständigen Erneuerung des Kosmos, für die Christen ist er nur der Durchgang zu einem neuen, überirdischen Leben.

„In der modernen Welt ‚funktioniert‘ alles, als gäbe es den Tod überhaupt nicht.“ (S. 62)

Für den modernen Menschen – ob in Mexiko oder Nordamerika – hat der Tod keinen Sinn mehr. Doch während Europäer und Nordamerikaner ihn ängstlich aus ihrem Alltagsleben verdrängen, begegnet der Mexikaner dem Tod mit derselben großtuerischen Verachtung, die er auch dem Leben entgegenbringt. Anders als Nordamerikaner, die gern Krimis lesen und von Mord und Totschlag fasziniert sind, ansonsten aber jedes Wort über den Tod vermeiden, verlacht der Mexikaner in Liedern und Spottgedichten den Tod und sieht ihm offen und scheinbar furchtlos ins Gesicht. Doch dieser Todeskult ist ohne tiefere Bedeutung, denn er überwindet nicht den Gegensatz zwischen Leben und Tod, der ja überhaupt erst vom modernen Menschen konstruiert wurde. Vielmehr verschließt sich der Mexikaner vor dem Tod wie vor dem Leben, das ihm nichtig und bedeutungslos erscheint.

Starke und Schwache

Die verschlossene Art der Mexikaner ist typisch für unterdrückte Völker, die in ständiger Angst vor Bespitzelung und Verrat leben. Zwar sind die Mexikaner heute nicht mehr einer fremden Macht unterworfen, doch die Kolonialzeit wie auch die vielen missglückten Reformversuche und Revolutionen seit dem 19. Jahrhundert haben ihre Spuren hinterlassen. Dazu zählt etwa die verbreitete Vorstellung, die Gesellschaft teile sich in Starke und Schwache. In der Politik herrschen starke, reiche, skrupellose Anführer, die keinen Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Leben machen. Als Folge davon ist die Verwaltung von Korruption und Vetternwirtschaft geprägt; die Masse der Menschen kriecht vor den Mächtigen und setzt mehr Vertrauen in Personen als in Prinzipien.

„Eine Kultur, die den Tod verleugnet, verleugnet auch das Leben.“ (S. 65)

Der Inbegriff des Starken, der das Streben nach Macht verkörpert, ist der Macho. Er ist aggressiv und gewalttätig, zugleich aber ein Spaßvogel, dessen Scherze maßlos sind. Die Anekdote von dem Mann, der seinem klagenden Saufkumpan in den Kopf schießt, um diesen von seinen Kopfschmerzen zu befreien, ist typisch für den absurden, zerstörerischen Humor des Machos. Der Macho bevorzugt geschlossene Männerbünde, worin ein homoerotisches Element zum Vorschein kommt. Mit dem Typus des Patriarchen, der väterliche Gewalt über seine Nachkommen, einen Stamm oder ein Reich ausübt, hat der Macho nichts gemein. In seiner Macht ist er von der Umwelt isoliert, einsam, ohne jede Verpflichtung gegenüber anderen.

Der Import von Katholizismus und Liberalismus

Die Spanier unter Cortés hatten Anfang des 16. Jahrhunderts bei der Eroberung Mexikos leichtes Spiel. Das lag vor allem daran, dass die Azteken ihrer eigenen Herrschaft müde waren. Die Götter, so schien es, waren ihnen nicht gewogen, und fasziniert ergaben sie sich in den Tod. In der Folgezeit versuchten die Spanier, aus der kulturellen, sprachlichen, politischen und religiösen Vielfalt, auf die sie in Mittelamerika trafen, eine Einheit zu formen. Der Katholizismus bot der eingeborenen Bevölkerung dabei einen guten Ersatz für den Verlust ihrer eigenen Götter und Tempel. Als lebendiger Glaube, der durch Taufe und Kommunion allen offenstand, wurde der Katholizismus für die Indios zu einer neuen spirituellen und sozialen Heimat. Die Zugehörigkeit zu einer Kirche und damit zu einer Gemeinschaft gab ihnen nach dem Zusammenbruch ihrer Welt wieder Halt und ihrem Leben neuen Sinn. Die Menschen – gleich welchen Standes – fühlten sich nicht einsam, Individuum und Gesellschaft standen in lebendiger Beziehung zueinander. Im Lauf der Zeit erstarrte jedoch der Katholizismus, und das religiöse Leben beschränkte sich auf passiven Glauben, unter dem die alten Eingeborenenmythen fortlebten.

„Denn alles, was der Mexikaner heute ist, kann man folgendermaßen zusammenfassen: Er will oder wagt nicht, er selbst zu sein.“ (S. 77)

Wie der Katholizismus wurde auch der Liberalismus, der sich im 19. Jahrhundert in Mexiko ausbreitete, von außen importiert. In Europa und in den USA waren die liberal-demokratischen Verfassungen das Ergebnis eines langen geschichtlichen Prozesses, der schließlich zur Zerstörung des Ancien Régime führte. In Mexiko dagegen, das 1857 nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg eine liberale Verfassung erhielt, blieben die Ideen von Freiheit und Gleichheit leere Worte. Eine Minderheit philosophisch gebildeter Bürger zwang dem Rest der Bevölkerung ihre abstrakte Freiheits- und Vernunftideologie auf – ohne Rücksicht auf religiöse Tradition und historisch gewachsene Realität. Indem sie christliche Jenseitsvorstellung durch irdische Reformversprechen ersetzten, beraubten sie die Armen der Mythen und Glaubensinhalte, die ihnen Trost geboten hatten. Doch am Ende änderten sie nur die Gesetze, nicht die politische Wirklichkeit. Unter dem Deckmantel liberalen Fortschrittsglaubens blieben die alten Besitzverhältnisse bestehen.

Entfremdung und Einsamkeit als Daseinshaltung

Die Reformbewegung des 19. Jahrhunderts hat das ursprüngliche mexikanische Wesen erstickt. Die Folge ist, dass der Mexikaner keine eigene Form des Ausdrucks kennt. Will er sich ausdrücken, so versteckt er sich hinter Masken, die er nur an Fest- oder Trauertagen herunterreißt. Die Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts bot den Mexikanern nach der Diktatur unter Porfirio Díaz endlich die Möglichkeit, sich selbst zu finden – ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Die Situation der Landarbeiter hat sich durch die Agrarreform zwar verbessert, aber viele leben im Elend. Und trotz des industriellen Aufschwungs ist Mexiko immer noch ein reines Rohstoffland. Erst in jüngster Zeit ist eine unabhängige Arbeiterbewegung entstanden. Die kommunistischen Länder, allen voran die Sowjetunion, bieten indes kein Vorbild. Mit ihrer starren Ideologie und ihrem Staatsterror ist Stalins Reich nicht das, was sich Marx und Engels einst unter einem Arbeiterstaat vorstellten.

„Der Positivismus aber konnte uns gar nichts bieten. Im Gegenteil, er offenbarte uns die ganze Blöße der liberalen Ideen: lauter schöne, nutzlose Worte!“ (S. 133)

Einsamkeit und Selbstentfremdung sind indes nichts spezifisch Mexikanisches, sondern eine Grundbedingung des menschlichen Daseins – in unserer Epoche kollektiver Arbeit und kollektiver Vergnügungen mehr als je zuvor. Der moderne Mensch geht nicht mehr in seiner Arbeit auf, da diese in Zeiten industrieller Fertigung alles Schöpferische verloren hat. Er verspürt eine vage Sehnsucht nach jenem goldenen Zeitalter, in dem Mensch und Schöpfung eins waren. Doch er ist dazu verdammt, in unserer Welt der Hotels, Büros und Kinos zu leben – Sinnbilder der modernen Einsamkeit.

Die Liebe als revolutionärer Akt

Nicht nur in Mexiko, sondern auf der ganzen Welt wollen Menschen in einer humanen Gesellschaft leben, in der Wort und Tat übereinstimmen und in der Kooperation und Solidarität statt Lüge und Verstellung herrschen. Von der Liebe erwarten sie, dass sie die Gegensätze zwischen Leben und Tod, zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Individuum und Gemeinschaft überwinden und ihnen zumindest einen Augenblick vollkommenen Daseins gewähren soll. Doch in unserer patriarchalischen Gesellschaft macht der Mann die Frau zum Objekt und zwängt sie in ein Schema, in das sie sich ihrerseits bereitwillig fügt. Sie ist niemals sie selbst, sondern stets nur Mutter oder Geliebte, Muse oder Hexe.

„Wie Revolutionen nicht mit Worten gemacht werden, so werden auch Ideen nicht mit Erlassen eingepflanzt.“ (S. 152)

Die Gesellschaft setzt die Liebe mit der Ehe gleich. Es ist eine Bindung zwecks Zeugung von Nachwuchs. Die Liebe zwischen Menschen verschiedener Klassen oder Rassen ist in unserer Gesellschaft tabu. Wirkliche Liebe, in der zwei einsame Menschen – gleich welcher Herkunft oder welchen Standes – sich einander öffnen und eine eigene Welt schaffen, ist immer ein Akt des Widerstands gegen die sterile bürgerliche Welt. Die moderne Gesellschaft versucht, durch Unterdrückung den Dualismus zwischen Gut und Böse, Ideal und Wirklichkeit, Arm und Reich, Bürgertum und Proletariat abzuschaffen und eine harmonische Ordnung herzustellen. Zugleich aber verhindert sie Liebe und wirkliche erotische Vereinigung, die allein die Kraft besäße, die Dialektik der Einsamkeit zu überwinden.

Zum Text

Aufbau und Stil

Octavio Paz’ Das Labyrinth der Einsamkeit besteht aus zehn Kapiteln, von denen die ersten vier die Besonderheiten des mexikanischen Charakters beschreiben. In vier weiteren Abschnitten widmet Paz sich der Geschichte des Kolonialismus und der Reformen bzw. Revolutionen in Mexiko, um im neunten Kapitel abschließend das Wesentliche des mexikanischen Lebensgefühls herauszuarbeiten. Den zehnten Aufsatz über die blutig niedergeschlagene Studentenrevolte in Mexiko-Stadt fügte Paz 1969 nachträglich hinzu. Paz’ Sprache ist teils wissenschaftlich-philosophisch, teils literarisch, oft persönlich, emotional und bisweilen voller Pathos. Die zahlreichen Beispiele, die der Autor in seinem Essay anführt, um die Eigenarten des mexikanischen Volkes zu verdeutlichen, sind dem alltäglichen Leben entnommen und sehr anschaulich. Ohne zwischen Hoch- und Populärkultur zu unterscheiden, analysiert Paz alle möglichen kulturellen Ausdrucksformen – von Schimpfwörtern, Redensarten und Volksliedern bis hin zu lyrischen und philosophischen Werken.

Interpretationsansätze

  • Obgleich Octavio Paz’ Essay Das Labyrinth der Einsamkeit eindeutig dem im 19. Jahrhundert aufgekommenen Genre des nationalpsychologischen Essays zuzurechnen ist, grenzt sich der Autor bereits auf der ersten Seite von der europäischen Tradition der Völkerpsychologie ab.
  • Paz verortet sich selbst in einer Traditionslinie, die von der deutschen Romantik über den lateinamerikanischen Modernismo bis zu den französischen Surrealisten reicht. Eine kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Aufklärung war diesen Strömungen gemeinsam. Gegen die Herrschaft der Vernunft setzten sie Imagination, Traum und magisches Denken, gegen den Individualismus das Kollektive, wie es etwa in Volksliedern und Mythen oder in außereuropäischer, sogenannter primitiver Kunst zum Ausdruck kommt.
  • Paz kritisiert die Unfähigkeit der USA, die Andersartigkeit anderer Kulturen zu akzeptieren und diese zu integrieren. Das sture Beharren der eingewanderten Mexikaner auf ihrer kulturellen Überlegenheit und die Betonung ihres Andersseins ist in seinen Augen nicht zuletzt das Ergebnis mangelnder Anerkennung und kultureller Integration vonseiten der Amerikaner.
  • Auch wenn Paz auf den Topos des Goldenen Zeitalters zurückgreift, gibt es für ihn keine bessere Vergangenheit, zu der die Menschen zurückkehren könnten. Die Einsamkeit hat sich nicht erst im Lauf der Geschichte entwickelt, sondern ist die Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Paz richtet den Blick auf anthropologische Grundkonstanten und Probleme in der Gegenwart – nicht mit Mitteln der Geschichtsphilosophie, sondern mit denen der vergleichenden Kulturwissenschaften.
  • Mit seiner Behauptung, bei Volksfesten komme die ursprüngliche, präkolumbische Identität des Mexikaners explosionsartig zum Vorschein, stützt Paz sich auf C. G. Jungs Archetypenlehre. Danach besteht das Unbewusste aus persönlichen und kollektiven, vererbten Urbildern, die in jedem Individuum und jeder Gesellschaft wirksam sind. Damit kollektive archaische Grundtriebe nicht überhandnehmen, muss sich der Einzelne im Prozess der Individuation zu einer individuellen Persönlichkeit bilden.

Historischer Hintergrund

Mexikos Weg zur Unabhängigkeit

In der Zeit vor der spanischen Kolonialherrschaft, die mit der Eroberung der Halbinsel Yucatán durch Hernán Cortés 1519 begann, lebten in Mexiko indigene Völker wie Azteken, Maya und Zapoteken. Binnen Kurzem zerstörten die spanischen Eroberer das alte Aztekenreich und brachten ganz „Neuspanien“ – so die offizielle Bezeichnung der Region – unter ihre Kontrolle. Nach 300 Jahren Kolonialherrschaft verstärkten sich ab dem frühen 19. Jahrhundert in der Region Unabhängigkeitsbestrebungen. 1821 erlangte Mexiko nach elfjährigem Krieg die Unabhängigkeit vom Mutterland Spanien, doch innenpolitisch änderte sich nur wenig. Kirche und Militär bewahrten ihre Vormachtstellung, und die Regierung ruhte ganz in den Händen einer reichen Oberschicht. Zudem verlor Mexiko nach kriegerischen Auseinandersetzungen Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als die Hälfte seines Territoriums an die USA. Die internen Machtkämpfe zwischen katholischer Kirche, Liberalen und Konservativen schwächten das Land und mündeten schließlich in eine Diktatur unter General Porfirio Díaz, der Mexiko von 1876 bis zu seinem Sturz 1911 – mit einigen Unterbrechungen – fast 30 Jahre lang regierte.

Die autoritäre Herrschaft von Porfirio Díaz führte zwar zu wirtschaftlicher Modernisierung, Industrialisierung und zum Aufbau einer Infrastruktur. An den sozialen Problemen, insbesondere an der Lage der ärmeren Landbevölkerung, änderte sich jedoch nichts. Politische Ämter und Landbesitz konzentrierten sich in den Händen einiger weniger Großgrundbesitzer, auf deren Latifundien sich die unter Díaz’ Herrschaft enteigneten Bauern für einen Hungerlohn als Landarbeiter verdingten. Nachdem es immer wieder zu ländlichen Unruhen gekommen war, brach 1910 eine Revolution aus, die zehn Jahre währte. 1917 erhielt Mexiko eine liberale Verfassung; die darin verankerte Bodenreform wurde indes erst in den 1930er-Jahren unter Präsident Lázaro Cárdenas del Río umgesetzt, der große Landflächen neu verteilen ließ und für bessere Bildungschancen der indigenen Bevölkerung sorgte.

Spätestens seit der Revolution setzten sich viele mexikanische Künstler und Denker mit der Frage nach der Identität ihres Landes und dem Wesen Mexikos auseinander. Sie verstanden sich als Wegbereiter einer Modernisierung ihres Landes und vertraten nicht mehr bloß ästhetische, sondern auch politisch-soziale Ziele. In den Augen vieler mexikanischer Philosophen und Literaten bedeutete die Revolution – nach Jahrzehnten der Díaz-Herrschaft mit ihren aus Europa importierten Werten der Ökonomie und Effizienz – eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln. Insbesondere das Ateneo de la Juventud, eine 1909 gegründete Gruppe junger Intellektueller um den Soziologen Antonio Caso, wandte sich entschieden gegen einen in ihren Augen kalt berechnenden, angelsächsisch geprägten Rationalismus und Pragmatismus. Auch nach Ende der Revolution beherrschten „indigenismo“ und „mexicanidad“, also die Wiederbelebung der indianischen Tradition und der Mexikanität, das geistige und künstlerische Leben des Landes. So forderte der Philosoph Samuel Ramos 1934 seine Landsleute in einem Aufsatz auf, ihr Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden und sich auf ihre eigenen Werte zu besinnen, statt Europa zu imitieren.

Entstehung

Viele Ideen zu seinem Essay kamen Octavio Paz während eines zweijährigen Aufenthalts in den USA. Dank eines Stipendiums konnte er 1943 nach Kalifornien reisen, wo er sich an der Universität Berkeley mit nordamerikanischer Dichtung beschäftigen wollte. Auf dem Weg dorthin blieb er eine Zeit lang in Los Angeles. In dieser modernen Großstadt, in der damals schon mehr als 1 Millionen Menschen mexikanischer Abstammung lebten, wurde ihm nach eigenen Angaben erstmals seine Fremdheit in Nordamerika bewusst. Bis zur Niederschrift seiner Gedanken sollte allerdings noch einige Zeit vergehen. Das Kernstück seines Essays verfasste Octavio Paz zwischen 1945 und 1950, während er in Paris lebte. Das Labyrinth der Einsamkeit wurde 1950 in Mexiko-Stadt veröffentlicht und 1959 in einer überarbeiteten, um ein Kapitel erweiterten Ausgabe neu aufgelegt. 1970 erschien eine um ein weiteres Kapitel ergänzte Fassung, in dem sich Paz kritisch mit der blutigen Niederschlagung der studentischen Proteste in Mexiko-Stadt im Jahr 1968 auseinandersetzte.

Wirkungsgeschichte

Das Labyrinth der Einsamkeit, das sich über philosophische Fachkreise hinaus an ein breiteres Publikum wendet, wurde kontrovers aufgenommen. Vor allem in linken Kreisen nahm man dem Autor seine Kritik an Kommunismus und Stalinismus übel. Nach Erscheinen der zweiten erweiterten Auflage wurde das Buch in viele Sprachen übersetzt. 1961 erschien die erste englische Ausgabe, 1970 folgte die erste deutsche Übersetzung.

Über den Autor

Octavio Paz wird am 31. März 1914 in Mexiko-Stadt geboren. Sein Großvater, ein bekannter Intellektueller, unterstützte Diktator General Porfirio Díaz, sein Vater, Anwalt und Journalist, ist Anhänger des Reformers Emiliano Zapata. Mit 17 Jahren gründet Octavio Paz eine Literaturzeitschrift, mit 19 Jahren veröffentlicht er erste Gedichte. Sein Studium an der philosophischen Fakultät der Universität von Mexiko-Stadt bricht er im Alter von 23 Jahren ab und zieht in die Provinz Yucatán, wo er eine Schule für Arbeiter- und Bauernkinder gründet und seine Liebe zur alten indianischen Kultur entdeckt. Als überzeugter Kommunist kämpft Paz im Spanischen Bürgerkrieg gegen Francos Truppen, doch angesichts stalinistischer Umtriebe verliert er den Glauben an seine Ideale. Über Paris kehrt er in seine Heimat zurück, heiratet 1937 die Schriftstellerin Elena Garro, mit der er eine Tochter bekommt, und gründet die literarische Zeitschrift Taller. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und der Ermordung Leo Trotzkis im mexikanischen Exil wendet sich Octavio Paz endgültig vom Kommunismus ab. Nach einem Aufenthalt in den USA tritt er 1945 in den auswärtigen Dienst ein und geht als Gesandter Mexikos nach Paris, wo er André Breton und anderen Surrealisten begegnet. 1950 erscheint sein Essay Das Labyrinth der Einsamkeit (El laberinto de la soledad). Während längerer Aufenthalte in Japan und Indien beschäftigt er sich intensiv mit der Lyrik des Orients, mit Buddhismus und Taoismus. Von 1954 bis 1959 lebt Paz wieder in Mexiko-Stadt, wo er publizistisch tätig ist und zahlreiche Gedichte veröffentlicht. Nach drei weiteren Jahren in Paris wird er 1962 zum Botschafter in Neu-Delhi ernannt. Aus Protest gegen das Blutbad, das die mexikanische Regierung unter protestierenden Studenten in Mexiko-Stadt anrichtet, legt er sein Amt nieder und lebt, inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, als Gastprofessor in den USA, bevor er 1971 in seine Heimatstadt zurückkehrt. Neben vielen anderen Preisen erhält Octavio Paz 1990 den Literaturnobelpreis. Er stirbt am 20. April 1998 in Mexiko-Stadt.

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