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Das Lob der Narrheit

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Das Lob der Narrheit

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Gnadenlos witzig durchleuchtet der Humanist Erasmus von Rotterdam die menschliche Narrheit – indem er diese gleich selbst zu Wort kommen lässt.


Literatur­klassiker

  • Satire
  • Renaissance

Worum es geht

Unterhaltungsliteratur mit Folgen

Als Erasmus von Rotterdam 1509 Das Lob der Narrheit verfasste, hatte er eigentlich eine kleine Scherzschrift für seine Freunde im Sinn – doch sie wurde zu einem Rundumschlag gegen die Missstände in Kirche, Politik und Gesellschaft. Zu Zeiten der Inquisition und der kirchlichen Zensur war das eine mutige Tat: Nur durch den geschickten rhetorischen Kniff, die Kritik der Narrheit selbst in den Mund zu legen, entging Erasmus den üblichen scharfen Gegenmaßnahmen. Weil nie sicher ist, ob der Autor seine eigene Meinung oder die der Narrheit kundtut – die natürlich kein vernünftiger Mensch teilen würde –, kann er frei heraus Fürsten, Kardinäle und Gelehrte bloßstellen. Das Werk hatte eine ungeheure Durchschlagskraft: Endlich wurden Probleme, die schon lange gärten, prägnant in Worte gefasst. Erasmus sprach dem Volk und den Reformatoren gleichermaßen aus der Seele, wenn er die Sinnlosigkeit des Ablasshandels oder der unzähligen kleinen Kriege aufdeckte. Heutigen Lesern erlaubt Das Lob der Narrheit nicht nur einen tiefen Einblick in das Denken eines der größten Europäer, sondern bietet mit seinen bissigen Kommentaren und scharfsinnigen Analysen auch weiterhin beste Unterhaltung.

Take-aways

  • Das Lob der Narrheit ist eine der bekanntesten Schriften des Humanisten Erasmus von Rotterdam.
  • Die Grundidee: Die personifizierte Narrheit hält eine Lobrede – auf sich selbst.
  • Indem er die Narrheit sprechen lässt, schützt Erasmus sich vor etwaigen Strafmaßnahmen der Kirche, die im Text scharf kritisiert wird.
  • Die Narrheit findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten und in allen Berufsständen.
  • Ohne Narrheit wären Freundschaften oder die Ehe undenkbar: Nur dank ihr können wir unsere eigenen Fehler und diejenigen anderer Menschen übersehen.
  • Besonders Theologen und Mönche sind Narren, weil sie sich auf unwichtige Regeln statt auf die wirklichen christlichen Werte berufen.
  • Religiöse Versenkung ist nichts anderes als eine Form des Wahnsinns und die himmlische Seligkeit lediglich ein letzter, vollkommener Zustand der Narrheit.
  • Gott hat an den Narren mehr Wohlgefallen als an den Weisen.
  • Aufgrund der kritischen Beurteilung der katholischen Kirche und ihrer Dogmen zählt der Text zu den wegbereitenden Werken der Reformation.
  • Erasmus’ übernationale, humanistisch-versöhnliche Position stand in scharfem Kontrast zu den konfessionell-nationalistischen Auseinandersetzungen seiner Zeit.
  • Erasmus deutet das Christentum als humanistische Lehre, die sich mit der antiken Ethik durchaus vereinen lässt.
  • Das Buch sollte zunächst weniger eine Satire als vielmehr ein unterhaltsamer Zeitvertreib sein, geschrieben für den Kreis um Erasmus’ Freund Thomas Morus.

Zusammenfassung

Narrheit macht glücklicher als Weisheit

Es entspricht dem Naturell der Narrheit, selbst ihr Loblied anzustimmen – da niemand sonst dazu bereit ist. Dieses (Eigen-)Lob hat sie aber auch verdient, nicht zuletzt deshalb, weil sie das Leben der Menschen fröhlicher und lebenswerter macht. Die Narrheit ist das Kind eines Gottes und einer Nymphe, und sich selbst zu den Göttern zu zählen, hält sie keinesfalls für anmaßend: Götter tun Gutes für die Menschen, und wer würde diese Aufgabe besser erfüllen als sie? Ohne die Narrheit und ihre Helferinnen, Nymphen wie die vergessliche Lethe oder die wollüstige Edone, würden die Menschen kein Vergnügen kennen, sich niemals auf die Ehe einlassen und keine Kinder bekommen. Kinder mag jeder – und zwar gerade deshalb, weil sie der Narrheit näherstehen als die Erwachsenen, die sich bereits durch Lernen und Arbeit von ihr entfernt haben. So handelt die Narrheit denn auch wohltätig, wenn sie die Menschen im Alter mithilfe von Lethe wieder in Kinder verwandelt und ihnen damit das Leben etwas erträglicher macht. Fazit: Die Weisheit ist der Feind eines glücklichen und erfüllten Lebens – wer jung und vergnügt bleiben will, der halte sich an die Narrheit!

Ohne Narrheit funktioniert nichts

Der Anteil der Vernunft im Denken und Handeln der Menschen ist ziemlich gering, zudem wird er durch Leidenschaften wie Zorn und Wollust eingeschränkt. So hat die Narrheit, die mit diesen Leidenschaften zusammenhängt, viel größeren Einfluss auf das menschliche Handeln. Immerhin ist der Mann der Vernunft näher als das Weib – nur so kann er seine Geschäfte führen. Sie hingegen versüßt sein Leben, indem sie ihn mit ihrer Narrheit erheitert. Es ist also dem Einfluss der Narrheit zu verdanken, dass die Weiber glücklicher sind als die Männer.

„Was die Sterblichen auch immer von mir schwatzen mögen (ich weiß es, meine Herren, ich weiß es, in welchem bösen Rufe die Narrheit auch bei den größten Narren steht), so bin doch ich es, wie Sie mich hier vor sich stehen sehen, durch deren übermenschliche Kraft den Herzen der Götter und der Menschen die muntersten Freuden eingeflößt werden.“ (S. 11)

Erst die Narrheit macht aus einer Feier ein festliches Gelage, sie sorgt für Unterhaltung. Auch Freundschaften wären ohne sie nicht möglich: Nur die Narrheit kann den Menschen dazu bringen, all die kleinen Fehler an anderen zu übersehen. Klar, dass die Gelehrten kaum Freude an ihr haben: Ihnen ist es nicht möglich, Fehler zu tolerieren. Auch die Ehe ist ohne den Einfluss der Narrheit nicht denkbar: Täuschung, Schmeichelei und Humor sind die närrischen Gründe, warum Mann und Frau überhaupt glücklich miteinander sein können. Sogar das Selbstbild jedes Einzelnen ist durch Narrheit geprägt: Wie sonst könnte irgendjemand sich selber mögen? Die selbstverliebte Nymphe Philautia sorgt dafür, dass man sich gefällt, und nur wer sich selbst gefällt, wird auch von anderen gemocht. Das Funktionieren der gesamten Gesellschaft hängt also letztendlich von der Narrheit ab.

„Solche weisen Leute sind, wie in allen übrigen Dingen, also besonders im Kinderzeugen höchst unglücklich; und dieses, wie mich deucht, hat die Natur vorsichtig geordnet, damit diese Seuche der Weisheit unter den Sterblichen nicht zu viel um sich fasse.“ (S. 51)

Erst recht, weil das Leben der Menschen vom Elend bestimmt ist. Es gibt keine Phase, kein Alter, in dem sie nicht mit Widrigkeiten, Krankheiten und fast unlösbaren Aufgaben zu kämpfen haben. Vernünftig betrachtet, bliebe ihnen nichts als der Selbstmord. Die Narrheit aber verhindert dies, indem sie die Menschen ihr Leid vergessen lässt, ihnen Hoffnung macht oder ihr Leben mit Wollust und Schmeichelei verschönert. Sie ist also unentbehrlich, mehr noch, sie ist der natürliche Zustand des Menschen, sein eigentliches Element, in dem allein er glücklich sein kann.

„Sehen Sie allen den Jammer, mit dem das Menschenleben zu kämpfen hat. Elend, garstig, steht es um seine Geburt; um die Auferziehung ists Holzhackersarbeit; tausenderlei Gefahren belagern seine Kindheit; durch die jugendlichen Jahre muss er sich hindurchschwitzen; ihn beugt die Last des Alters; und der Tod ist ihm ein verdrüsslicher Bote.“ (S. 61)

Die Weisheit und die Wissenschaften können demnach mit einer Krankheit verglichen werden, die den Menschen aus seinem glücklichen Naturzustand gerissen und seinen natürlichen Trieb zur Narrheit entstellt hat. Der Narr ist dem Gelehrten in vielerlei Hinsicht überlegen: Er kennt keine Angst, kein Gewissen und keinen Neid. Sein Leben ist ein einziges Spiel. Die Fürsten hören auf ihn, auch wenn er sie deutlich beleidigt und offen kritisiert. Narren können nicht lügen oder ihre eigenen Ziele verfolgen, deshalb ist ihnen die Gunst ihrer Herren sicher. Der Weise hingegen ist immer von Zweifeln geplagt, er wirkt auf andere griesgrämig und verschroben.

Wahnsinn und Selbstliebe

Es gibt zwei Arten von Wahnsinn: zum einen den Wahnsinn, der aus der Hölle stammt und aus Menschen Mörder oder andere Verbrecher macht; zum anderen die wünschenswerte Art des Wahnsinns, die aus der Narrheit entsteht: Sie schaltet den Verstand vollkommen oder in einigen Bereichen aus und macht so den Menschen sorgloser und zufriedener. Solange man auf diesem zweiten Weg des Wahnsinns bleibt und sich an die Narrheit hält, ist man glücklich. Fast jeder Mensch ist auf die eine oder andere Weise im zweiten Sinne wahnsinnig: sei es, weil er seine Frau für keusch und rein hält, obwohl sie viele andere Männer hat, weil er auf die Jagd geht und meint, er hätte eine große Tat vollbracht, wenn er ein auf ihn zugetriebenes Tier erlegt, oder weil er meint, durch Alchemie in die Natur eingreifen zu können. Besonders ausgeprägt ist dieser Wahnsinn im Bereich der Religion: Die Vorstellung, man könne durch Ablasszahlungen die Zeit im Fegefeuer verkürzen oder durch die Anbetung von Heiligen sein Leben verbessern, kann nur einem Wahnsinnigen sinnvoll erscheinen. Auch die Selbstverliebtheit von Adligen, Künstlern und Wissenschaftlern ist auf ihre Narrheit zurückzuführen.

„O um die Wahrheit ist es etwas Vortreffliches! Sie belustigt, wenn nichts Beleidigendes eingemischt ist: Aber das ist auch eine Gabe, die von den Göttern nur den Narren zugeteilt worden.“ (S. 76)

Jedes europäische Volk hat seine ihm eigene Narrheit: Die Franzosen etwa behaupten, allein die feine Lebensart zu besitzen, und die Griechen brüsten sich mit der Erfindung der Wissenschaften. Diese Eigenliebe arbeitet eng mit der Schmeichelei zusammen. Alle Menschen möchten lieber eine schmeichelhafte Lüge hören als die Wahrheit erkennen. Die Schlussfolgerung, die man aus Platons Höhlengleichnis ziehen kann, ist deshalb die: Zwar sind die meisten Menschen ungebildet und bleiben in der Anschauung von Schattenbildern in der Höhle sitzen – aber sie sind dabei wenigstens zufrieden und glücklich und außerdem in großer Gesellschaft.

„Ferner, warum sollte mir nach einem Tempel verlangen, da mir (wenn ich mich nicht irre) die ganze Welt zum Schönsten dient? So lange noch Menschen sind, wirds mir an Verehrern nicht fehlen.“ (S. 105)

Die Menschen haben der Narrheit sehr viel zu verdanken. Daher ist es nur recht, sie als eine Göttin zu verehren. Sie hilft jedem, der sich ihr zuwendet, und sie fordert (das unterscheidet sie von den anderen Göttern) keine Opfer oder Tempel. Sie straft niemanden für sein Handeln oder für mangelnde Ehrerbietung, sie ist zufrieden damit, dass alle Menschen nach ihrer Anweisung leben, also: Narren sind.

Kaufleute, Gelehrte, Theologen und Mönche

Nicht nur die Völker, auch die Berufsstände haben ihre eigenen Narrheiten, die ganz unterschiedliche Gründe und Ausprägungen haben können. Die Kaufleute etwa betrügen, stehlen und lassen sich von Bittstellern schmeicheln. Die größten Narren sind jedoch die, die sich für weise Männer halten und wissenschaftlich arbeiten. Ein gutes Beispiel dafür sind die Lehrer, die ihren Schülern mit äußerster Pedanterie unwichtiges Wissen einprügeln wollen und sich selbst für etwas Besseres halten, weil sie bei ihren Sprachforschungen irrelevante Kleinigkeiten entdecken. Auch die Juristen sind einem besonderen Wahn verfallen: Sie halten sich selbst für sehr gelehrt, weil sie eine Menge Gesetze zitieren können, die mit der eigentlichen Sachlage nichts zu tun haben. Die Philosophen wiederum meinen, sie allein könnten die Geheimnisse der Natur erklären, indem sie abstrakte Ursachen angeben und verworrene Berechnungen anstellen – und dies, obwohl sie nicht mal im kleinsten Detail untereinander einig werden.

„Wenn Sie, meine Herren, (...) das unzählbare Gewirre der Sterblichen vom Monde herab sehen könnten, so würd es Sie dünken, Sie sehen Heere von Mücken oder Schnaken, die sich untereinander erzanken, bekriegen, belauern, berauben, spielen, Mutwillen treiben, geboren werden, fallen, sterben.“ (S. 110 f.)

Am arrogantesten und zugleich am leichtesten reizbar sind aber die Theologen, die jeden zum Ketzer erklären, mit dem sie nicht gut auskommen. Mit dem gesamten Arsenal der scholastischen Tradition bewaffnet, erklären sie die Welt so, wie es ihnen gerade passt. Die Geheimnisse der christlichen Lehre sind ihnen nicht genug, immer neue Fragen werfen sie auf, egal ob diese noch mit der ursprünglichen Lehre vereinbar sind oder nicht. Es ist fraglich, ob einer der Apostel in den Ausführungen der Theologen seinen eigenen Glauben wiedererkennen würde. Genauso von Narrheit besessen sind die Mönche, die kaum etwas über die christliche Lehre wissen und sich nur selten an die Gelübde halten, die sie in ihrem Orden abgelegt haben. Peinlichst genau achten sie jedoch auf die Einhaltung all der kleinen zusätzlichen Regeln, der Kleiderordnung und der Schlaf- und Essenszeiten. Letztendlich hat keine dieser Regeln, Verordnungen, Auslegungen oder Spitzfindigkeiten noch irgendetwas mit dem einzigen Gesetz zu tun, das Christus begründet hat: dem Gesetz der Nächstenliebe.

Die Predigt als Schauspiel

Predigten sind heute, entgegen ihrer ursprünglichen Aufgabe, ein nach genauen Regeln ausgearbeitetes Schauspiel geworden. Die erste Regel hierbei lautet, dass die Rede durch eine ausgeprägte Mimik und Gestik untermalt werden soll. Zweitens soll die Predigt mit einer Einleitung versehen werden, die möglichst wenig mit dem eigentlichen Thema zu tun hat und scharfsinnige Vergleiche beinhaltet (wie etwa die Herleitung der Dreieinigkeit aus der Grammatik). Drittens soll sie möglichst wenig Bezug zu den Evangelien haben. Viertens muss die Predigt mit allerlei unverständlichen, scholastischen Syllogismen garniert werden. Und fünftens schließlich muss sich der Prediger irgendeine Geschichte, die nicht in der christlichen Tradition steht, vornehmen und sie mit schauspielerischer Redekunst vortragen, den einen oder anderen Scherz einfließen lassen und sich alles in allem eher wie ein Marktschreier denn wie ein religiöses Vorbild benehmen. Durch diese neue Form der Predigt verliert die Aufgabe, den Menschen die Evangelien zu vermitteln, vollkommen an Bedeutung und es verwundert nicht, dass sich die Gläubigen so weit von Gottes Wort entfernen.

Fürsten und christliche Würdenträger

Die Fürsten, die eigentlich ein Vorbild an Tugend, Gerechtigkeit und Fleiß sein sollten, missachten all ihre Aufgaben und beuten stattdessen das Volk aus, um ihren Reichtum zu vergrößern. Die Ausstaffierung mit den Insignien der Macht und der Gerechtigkeit ist nichts anderes als eine Kostümierung; die Person dahinter ist kaum mehr als ein Schauspieler.

„Wollust ists für einen solchen, wenn er in einem halb vermoderten Buche etliche veraltete Wörter erstänkert oder ein Stück von einem mit verstümmelten Buchstaben bezeichneten Stein hervorgegraben hat; o Jupiter! wie hüpft der nicht vor Freude! Welcher Triumph! Welches Lobgewäsch! Als ob er Afrika besiegt oder Babylon erobert hätte!“ (über den Grammatiker, S. 113)

Dieses Verhalten der weltlichen Fürsten wird längst von den christlichen Würdenträgern nachgeahmt. Auch sie täuschen das Volk mit allerlei Symbolen (Hirtenstab, weißes Gewand), um ihm Tugendhaftigkeit vorzuheucheln. Fleiß und Sorgfalt zeigen sie nur, wenn es ums Geldeintreiben geht: Keiner dieser Männer, die sich selbst für die Stellvertreter Christi auf Erden halten, möchte scheinbar dessen Leben und Wirken nacheifern. Armut oder gar ernstlich empfundene Sorge um die ihnen Anvertrauten sind ihnen gänzlich fremd. Sie reißen Ländereien an sich, häufen unfassbare Reichtümer an und beginnen Auseinandersetzungen, gar Kriege, um diesen Reichtum zu schützen. Dabei ist das Vergießen des Blutes anderer Christen die unmenschlichste und unchristlichste Tat, derer sich die Kirchenfürsten schuldig machen. Sie leugnen das Gesetz der Nächstenliebe und rechtfertigen ihr Tun, indem sie Gottes Wort verdrehen.

Historische und biblische Belege

Diese ganze Rede der Narrheit soll keinesfalls als Satire auf die gesellschaftlichen Zustände missverstanden werden. Vielmehr sollen die gezeigten Formen der Narrheiten deren unleugbaren Einfluss auf alle Bereiche des Lebens illustrieren. Als zusätzlicher Beweis für diesen Einfluss lassen sich Zitate antiker Dichter heranziehen, die in ihrer Ethik zum gleichen Ergebnis gekommen sind. Schon Horaz hat darauf hingewiesen, dass es besser sei, ein Narr zu sein als ein weiser Mann. Er erkannte, dass alle Menschen letztlich Narren sind – genauso steht es auch in der Bibel, wo sich zahlreiche Belege dafür finden, dass der Mensch mehr Narr als Weiser ist. Diese Textstellen sind eindeutiger als viele andere, auf die sich die Theologen beziehen, wenn sie Ketzer verbrennen oder ihren eigenen prunkvollen Lebensstil rechtfertigen. Es lässt sich sogar plausibel dafür argumentieren, dass Gott den Narren dem Weisen vorzieht. Jesus hat die Pharisäer bekämpft und die Gläubigen mit Tieren wie Lämmern oder Rehen verglichen, die der Narrheit näherstünden als der Weisheit. Und woraus resultierte noch mal der Sündenfall? Aus dem Kosten vom Baume der Erkenntnis – das Glück des Menschen wurde also durch das Wissen zerstört. Aus alldem lässt sich nur das Fazit ziehen, dass die Narrheit ein wichtiger Bestandteil der christlichen Religion, die Weisheit dagegen schädlich ist.

„Als ob es schädlichere Feinde der Kirche gebe als gottlose Päpste, die durch ihr Stillschweigen Christum lassen zernichtet werden, ihn durch eigennützige Gesetze binden, durch erzwungene Auslegungen schänden, durch ein vergiftetes Leben töten.“ (S. 157)

Die religiöse Versenkung ist letztendlich nichts anderes als eine Form des Wahnsinns und die himmlische Seligkeit lediglich ein letzter, vollkommener Zustand der Narrheit, den sich die Gläubigen erträumen. Alles christliche Streben ist auf Glückseligkeit ausgerichtet, die nur durch die Narrheit zu erreichen ist. So kann man denn einzig das närrische Leben als gottgefällig bezeichnen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Lob der Narrheit ist eine Lobrede der Narrheit an sich selbst, sie ist nicht in Kapitel gegliedert. Der Aufbau der Argumentation ist alles andere als linear oder schlüssig: Ausführungen zur Narrheit verschiedener Berufsstände, lehrreiche Deutungen der antiken Mythen und bissige Kommentare zu den Dogmen der katholischen Kirche reihen sich mitunter wahllos aneinander. Gleich zu Beginn rechtfertigt Erasmus diese Vorgehensweise und legt der Narrheit die Ankündigung in den Mund: „Eine unausgearbeitete und im Stegreife gehaltene, deswegen aber um so viel natürlichere und der Wahrheit angemessenere Rede werden Sie von mir hören.“ Dieser lockere Aufbau ergibt sich nicht zuletzt auch aus der kurzen Bearbeitungszeit: In nur sieben Tagen soll Erasmus die satirische Rede niedergeschrieben haben. Dabei lässt sich nicht immer genau sagen, welche Abschnitte wirklich die Meinung des Autors wiedergeben und welche lediglich scherzhaft der Narrheit in den Mund gelegt werden. Man kann wohl davon ausgehen, dass der größte Teil der Kritik an der Kirche Erasmus’ Ansichten widerspiegelt; die Schimpfreden auf die Weisen und Gelehrten scheinen dagegen eher augenzwinkernde Selbstironie zu sein. Manche Passagen sind schwerer zugänglich als der Rest, etwa der Vergleich der christlichen mit der platonischen Lehre gegen Ende des Werks: Hier scheint Erasmus eine wissenschaftliche Erörterung angehen zu wollen, die, wie er zu spät bemerkt, den Rahmen der Rede sprengt und daher etwas überstürzt abgebrochen wird. Stilistisch ist das Büchlein ein herausragendes Kunstwerk, das durch die zahlreichen Anleihen aus antiken Werken und aus der Bibel sowie durch eindrückliche bildhafte Vergleiche besticht. Die teilweise sperrigen Satzkonstruktionen des lateinischen Originals werden durch rhetorische Kniffe aufgelockert. Im Großen und Ganzen ist Erasmus’ Sprache gut verständlich, lediglich einige Anspielungen auf Zeitgenossen und Verweise auf literarische Quellen verlangen ein gewisses Vorwissen.

Interpretationsansätze

  • Als Erasmus Das Lob der Narrheit verfasste, wollte er eigentlich nur eine unterhaltsame Satire für den kleinen Bekanntenkreis schreiben, der sich im Haus seines Freundes Thomas Morus 1509 eingefunden hatte. Die breite öffentliche Wirkung dieser „Privatschrift“ ging dann weit über die ursprüngliche Absicht des Autors hinaus.
  • Zur Kampfschrift einer gesamten Bewegung wurde das Werk vor allem durch die Kritik an der katholischen Kirche. Erasmus lässt die Narrheit viele Fragen anschneiden, die später zu den Hauptanliegen der Reformation zählten, darunter die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Ablasshandels.
  • Neben der Kritik an den Dogmen der katholischen Kirche äußerst Erasmus im Lob der Narrheit auch eine generelle Zeit- und Gesellschaftskritik, die einerseits die Narrheiten seiner Mitmenschen aufdeckt, andererseits aber auch nicht davor zurückschreckt, sein eigenes Gelehrtendasein augezwinkernd zu hinterfragen.
  • Erasmus greift mit der Darstellung der menschlichen Torheit in all ihren Facetten ein bereits aus der Antike bekanntes und im Mittelalter beliebtes Thema auf. Während sie vorher von Gott als himmlischem Richter verurteilt wurde, wird die Narrheit bei Erasmus zur tröstlichen, humanistischen Sendung: Keiner kann sich von Widersprüchlichkeiten, Fehlern und Irrtümern lossprechen, die Narrheit ist wesentlicher Teil des Menschseins.

Historischer Hintergrund

Zwischen Renaissance und Reformation

Die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert brachte einige der einschneidendsten Veränderungen für Europa mit sich. Die Seefahrer erkundeten die Welt, Christoph Kolumbus entdeckte Amerika, die Theorie, dass die Welt eine Kugel sei, wurde endlich bestätigt. Die Wissenschaft erlebte einen nie zuvor gekannten Auftrieb, viele der seit Jahrhunderten für unumstößlich gehaltenen Lehren mussten revidiert werden. Die mittelalterliche Scholastik wurde durch den neu aufwallenden Erkenntnistrieb der europäischen Intellektuellen abgelöst, und durch den Buchdruck verbreiteten sich neue Theorien und Denkmodelle mit ungeheurer Geschwindigkeit. Gleichzeitig bildeten sich neue gesellschaftliche Formen heraus: Das Landesfürstentum erstarkte und die aufstrebenden Städte ermöglichten ein vom Adel unabhängiges, zunehmend gebildetes Bürgertum, das durch die gerade entdeckten Handelswege zu Wohlstand kam. Der Wissenshunger und der Wille zur Erneuerung machte auch vor den kirchlichen Lehren nicht Halt. Die Kritik an den immer größer werdenden weltlichen Machtansprüchen christlicher Würdenträger entlud sich schließlich in der Reformation. Dabei wurden die Dogmen der katholischen Kirche von den Reformatoren einer kritischen Prüfung unterzogen und schließlich, u. a. von Martin Luther, offen angegriffen. 1517 nagelte Luther seine 95 Thesen, die sich vor allem gegen den Ablasshandel wendeten, an die Kirchentür in Wittenberg. Auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1520 brach der junge Augustinermönch endgültig mit der katholischen Kirche und entfachte so eine der längsten und blutigsten Auseinandersetzungen der europäischen Geschichte. Nicht nur zwischen den beiden großen Kirchen wurden Kämpfe ausgefochten, auch innerhalb und im Fahrwasser der protestantischen Bewegung kam es zu Auseinandersetzungen. Erst mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde erstmals – wenn auch nur dem Landesherren – die freie Religionswahl erlaubt. Es folgte die konfessionelle Spaltung des Deutschen Reiches.

Entstehung

Das Lob der Narrheit, oft auch als Das Lob der Torheit übersetzt, entstand in einer Epoche des Umbruchs. Auf einer Reise von Italien, wo er den Pomp und die Zurschaustellung des kirchlichen Reichtums miterleben konnte, nach England entwickelte Erasmus die Idee zu einer kleinen Schrift, die nach seinen jahrelangen Studien einen Überblick seiner bisher gesammelten Erkenntnisse über den Menschen und dessen Handeln vereinen sollte. 1509 im Haus seines Freundes Thomas Morus, dem er die Schrift widmete, angekommen, schrieb er sie in nur sieben Tagen auf Latein nieder. Der Titel Encomium moriae ergab sich aus einem Sprachspiel: Das griechische Wort „moria“ (= Narrheit) klingt ähnlich wie der Name des Freundes, und obwohl Morus nach Aussagen Erasmus’ der Narrheit ferner stand als die meisten, glaubte er den Freund mit seiner Lobrede amüsieren zu können. Erasmus selbst bezeichnete Das Lob der Narrheit als eine Spielerei, einen Zeitvertreib. Dennoch verfolgte er mit dem Verfassen der Satire durchaus auch ernstere Ziele: die Bloßstellung der korrupten Geistlichkeit, die Analyse der menschlichen Schwächen und auch die ironische Betrachtung seines eigenen Gelehrtendaseins.

Wirkungsgeschichte

Es gibt wohl keine zweite Figur der europäischen Geistesgeschichte, die von Zeitgenossen so verehrt und von der Nachwelt so ignoriert wurde wie Erasmus von Rotterdam. Obwohl er im 16. Jahrhundert angesehener, bekannter und geschätzter war als die anderen Vertreter der Reformation, sind es heute die Namen Luther, Johannes Calvin und Huldrych Zwingli, die wir zuerst mit dieser Zeit des Umbruchs in Verbindung bringen. Der stets um Frieden und Ausgleich bemühte Erasmus hat mit seinem Ideal eines übernationalen Humanismus dennoch viele große Geister beeinflusst; seine Ideen wurden von Voltaire, Baruch de Spinoza und Gotthold Ephraim Lessing aufgegriffen und fanden schließlich in Friedrich Schillers Werken ihre literarische Vollendung.

Im 20. Jahrhundert hat Stefan Zweig Erasmus als stillen Verfechter des Friedens und der Menschlichkeit in seiner Biografie Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1934) einfühlsam porträtiert und vor allem dessen Auseinandersetzung mit Martin Luther plastisch illustriert. Erasmus’ tiefe Einsicht in die menschliche Psyche, seine scharfe Verurteilung des Krieges und des Fanatismus fanden in keinem seiner Werke stärkeren Ausdruck als im Lob der Narrheit. Seine enorme Durchschlagskraft und wegbereitende Wirkung für die Reformation, aber auch die bissige und geistreiche Sprache machen es zu einer bis heute überaus amüsanten und lehrreichen Lektüre.

Über den Autor

Erasmus von Rotterdam wird am 27. Oktober 1466 oder 1469 (das genaue Datum ist umstritten) als Sohn eines Priesters und einer Arzttochter in Rotterdam geboren. Nachdem seine Eltern kurz nacheinander sterben, wird er zum Eintritt in den Augustinerorden gedrängt. Zunächst besucht er die Klosterschule in Herzogenbusch und lebt dann einige Jahre in einem Augustinerkloster. Bereits dort studiert er das klassische Altertum. Die Unfreiheit des Mönchslebens ist ihm zuwider. 1492 wird er zum Priester geweiht und im Jahr darauf Sekretär des Bischofs von Cambrai. Zwischen 1495 und 1499 studiert er in Paris Philosophie, Theologie, Griechisch und Hebräisch. Auf einer Reise durch England lernt er um 1500 Thomas Morus kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet. Ihm widmet er sein 1511 erschienenes Werk Encomium moriae (Das Lob der Narrheit), in dem er auf ironische Weise gegen verbreitete Irrtümer und für vernünftige Anschauungen eintritt. Von 1506 bis 1509 hält er sich in Italien auf, in Turin promoviert er zum Doktor der Theologie. Ab 1514 lebt Erasmus überwiegend in Basel. 1516 bringt er dort eine textkritische (d. h. durch Vergleich mehrerer Fassungen gewonnene) griechische Ausgabe des Neuen Testaments und eine lateinische Übersetzung heraus. Im selben Jahr veröffentlicht er die Institutio Principis Christiani (Die Erziehung des christlichen Fürsten) und widmet sie dem späteren Kaiser Karl V., damals noch Herzog von Burgund, dessen Berater er im gleichen Jahr wird. Geistlichen Ämtern, die ihm angeboten werden, zieht er stets seine Unabhängigkeit vor. Mit seinem 1524 veröffentlichten Werk De Libero Arbitrio (Vom freien Willen) bricht er mit Luther: Im Gegensatz zum Reformator beharrt Erasmus auf der von Gott gegebenen Fähigkeit, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. 1529 flieht er vor der Reformation aus Basel nach Freiburg. 1535 kehrt er nach Basel zurück, wo er am 12. Juli 1536 an Typhus stirbt. Schon zu Lebzeiten hat sich Erasmus den Ruf erworben, der größte Gelehrte seiner Zeit zu sein. Als Zeichen der Wertschätzung für den bedeutenden Humanisten und Begründer der modernen Philologie wird er, obwohl Katholik, im protestantischen Basler Münster beigesetzt.

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