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Das sogenannte Böse

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Das sogenannte Böse

Zur Naturgeschichte der Aggression

dtv,

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10 Take-aways
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Was ist drin?

Kann denn Liebe Sünde sein – und Aggression ihre Voraussetzung?


Literatur­klassiker

  • Naturwissenschaften
  • Moderne

Worum es geht

Eine Sache der Natur und eine Frage der Moral

Ein Naturwissenschaftler, der in einem Sachbuch Goethe zitiert, dürfte von manchen Fachkollegen mit Stirnrunzeln betrachtet werden. So viel Interdisziplinarität ist nicht unbedingt üblich und manchmal sogar Grund zur Skepsis. Konrad Lorenz hingegen wird für die Breite seines geistigen Spektrums geschätzt, ebenso für seine Fähigkeit, sich einem großen Publikum zuzuwenden und Ergebnisse seiner Forschung allgemein verständlich zu formulieren. In Das sogenannte Böse untersucht Lorenz das natürliche Phänomen Aggression, das unter ethischen Gesichtspunkten als „böse“ konnotiert ist. Als Zoologe zeigt er aus der nicht wertenden, neutralen Perspektive des Naturwissenschaftlers viele Facetten dieses Phänomens auf. Lorenz geht es aber vor allem um menschliche Fragen, um Fragen des Zusammenlebens und der Moral. Darum verlässt er in seinem Buch dann doch den neutralen Standpunkt der Naturwissenschaft und nimmt Wertungen vor. Auch heute noch ist die Universalität der Bildung, wie Konrad Lorenz sie besaß, keineswegs die Regel – sie macht den Rang des Nobelpreisträgers und Mitbegründers der vergleichenden Verhaltensforschung aus.

Take-aways

  • Das sogenannte Böse ist das bedeutendste und meistdiskutierte Werk des österreichischen Medizin-Nobelpreisträgers Konrad Lorenz.
  • Inhalt: Die Aggression ist bei Mensch und Tier ein Ur-Instinkt mit arterhaltender Funktion. Sie richtet sich nur gegen Artgenossen. Tiere sind jedoch evolutionär durch verschiedene Mechanismen der Aggressionshemmung davor gefeit, Artgenossen zu vernichten. Diese Hemmungen fehlen dem Menschen, der in Kriegen und Verbrechen zu der wirklich bösen Tat fähig ist, Artgenossen umzubringen.
  • Das sogenannte Böse ist eine Art Lehrwerk für Laien, um diese auf den damals aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft zu heben.
  • Lorenz schreibt anschaulich und konkret, sogar unterhaltend; seine Anteilnahme und sein Respekt Tieren gegenüber ist stets spürbar.
  • Er gehörte zu den Mitbegründern der jungen Wissenschaft der Verhaltensbiologie und war durch seine Schriften auch international ihr bekanntester Vertreter.
  • Lorenz hatte schon seit Beginn seiner eigenständigen Forschungen Anfang der 30er-Jahre am Thema Tier, Mensch und Aggression gearbeitet.
  • Wegen seiner Mensch-Tier-Analogien wurde Lorenz von verschiedenen Seiten kritisiert.
  • Lorenz machte auch Vorschläge, wie man die mangelnde Balance zwischen Aggression und Aggressionshemmung beim Menschen ausgleichen könnte.
  • Die weltpolitische Lage bei Erscheinen des Buches 1963 und die unbewältigten Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs verschafften dem Buch ein gewaltiges Interesse.
  • Zitat: „Das lang gesuchte Zwischenglied zwischen dem Tier und dem wahrhaft humanen Menschen – sind wir!

Zusammenfassung

Sinn und Nutzen von Aggression

Mit Aggression ist derjenige Kampftrieb gemeint, der beim Menschen wie beim Tier gegen den Artgenossen gerichtet ist. Es geht also nicht um den Angriff auf ein Beutetier, sondern um Wettbewerb und Konkurrenz, um Reviere und Weibchen. Revier ist in erster Linie gleichbedeutend mit Nahrungsressourcen. Aggressives Verhalten gegen Artgenossen ist demnach ein selbstverständlicher Teil der Naturwelt. Ganz im Sinn der Darwin’schen Lehre ist Aggression ein zur Erhaltung der Art unentbehrlicher Instinkt, aus mehreren Gründen:

  • Durch innerartliche Aggression wird der Lebensraum so verteilt, dass nach Möglichkeit jedes Individuum sein Auskommen findet. Das ist typisch bei einzelgängerisch lebenden Tieren, die relativ ortsfest sind und für die das Revier die Nahrungsversorgung sichert. Vom Korallenfisch bis zum Wolf vertreiben Tiere Rivalen durch aggressives Verhalten. Bei nomadisierenden Herdentieren hingegen, vom Fischschwarm bis zur Bisonherde, für die Nahrung in Hülle und Fülle vorhanden ist, und die sie auf ihren langen Wanderungen einfach abgrasen, spielt diese Art der Revieraggression kaum eine Rolle. Sie ist also auch eine Reaktion auf die Umwelt.
  • Im Sinn der bestmöglichen Erhaltung der Art kommen bei der Zeugung der Nachkommenschaft nur die besten, sprich die stärksten Männchen zum Zuge; manchmal ebenfalls nur die geeignetsten Weibchen. Aggression dient hier der Auswahl der Besten. Das gibt es auch bei den Herdentieren.
  • Die Nachkommenschaft wird äußerstenfalls aggressiv beschützt, was natürlich ebenfalls der Erhaltung der Art dient.
„Das Buch handelt von der Aggression, das heißt von dem auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Mensch und Tier.“ (S. 7)

All diese Aggressionsvarianten richten sich niemals auf die Vernichtung der Artgenossen, sondern auf deren Vertreibung oder auf die Einordnung in eine Rangfolge, die Hackordnung. Diese Aggressionen sind system- und lebenserhaltend, nicht vernichtend. Sie sind nicht böse.

Die Umorientierung des Angriffs – der Weg zum Ritual

Der Aggressionstrieb ist primär und spontan vorhanden und nicht etwa nur eine Reaktion auf eine Bedrohung. Diese Spontaneität macht ihn so gefährlich. Wenn der Aggressionsimpuls kein Gegenüber findet, entsteht eine Stauung. Diese kann sich in Ersatzhandlungen entladen. Stammesgeschichtlich wurden diese Impulse als sogenannte „redirected activities“ um- und abgeleitet. Diese evolutionäre Umformung führte zu den rituellen Verhaltensweisen, die bei vielen Tieren zu beobachten sind. Zur Ritualisierung gehören etwa mimische Übertreibung und rhythmische Wiederholung, aber auch die Entstehung von optischen Akzenten, Farben, Strukturen, Mustern: vergrößerte Flossen, Federn, auffallende Körperteile – daher etwa die vielfältigen und für uns oft auch auffallend schönen Farben von Fischen.

„Die schreiend bunten Farben der Korallenfische schreien nach einer Erklärung. Welche arterhaltende Leistung hat sie herausgezüchtet?“ (S. 22)

Rituelle Verhaltensmuster ahmen natürliche Bewegungsweisen nach, deuten sie aber um. So entsteht ein neuer, autonomer Instinkt, der anderen Instinkten wie Hunger oder Flucht völlig gleichrangig ist. Diese Riten haben eine wichtige Kommunikationsfunktionen: Sie lenken die Aggression in unschädliche Bahnen, und sie stiften zwischen manchen Tieren ein festes, eheähnliches Band.

Die Wechselwirkungen der Triebe und Instinkte

Die vier großen Haupttriebe Hunger, Begattung, Furcht und Aggression sowie eine Anzahl kleinerer Dienertriebe wie Laufen, Schwimmen, Graben, Picken, Nagen stehen in einer ständigen Wechselwirkung. Nur ausnahmsweise herrscht einer dermaßen vor, dass er die anderen sozusagen ausschaltet: etwa panische Flucht. Eine entscheidende Rolle spielen dabei situationsbedingt jeweils auslösende Reize.

„Wo immer wir extreme Ausbildung bunter Federn, bizarrer Formen usw. beim Männchen finden, liegt der Verdacht nahe, dass die Männer nicht mehr kämpfen, sondern dass das letzte Wort in der Gattenwahl vom Weibchen gesprochen wird (...).“ (S. 46)

Man gelangt nur zu richtigen Verhaltensdeutungen, wenn man diese Vorgänge sehr differenziert betrachtet. Der sogenannte Selbsterhaltungstrieb ist eine pseudowissenschaftliche Begriffschimäre – damit vergleichbar, als ob man Automobilkraft als Erklärung für den Antrieb eines Wagens postulieren würde. Wie dieser Trieb exakt zustande kommt, muss jeweils aus einer Vielzahl detaillierter Beobachtungen genau erklärt werden.

Aggressionshemmung unter Artgenossen

Die evolutionäre Lösung, die arterhaltende Aggression ohne negative Auswirkung auf die eigenen Artgenossen in der Balance zu halten, ist die Aggressionshemmung, die durch bestimmte Reize ausgelöst wird. Die Entstehung dieser Reize entspricht der der Rituale. Die Aggressionshemmung läuft oft wie ein Kräftemessen in Turnieren oder im sportlichen Wettkampf ab. Bei diesen sogenannten Kommentkämpfen wird zunächst eine Drohgebärde aufgebaut. Drohgebärden halten eine Balance zwischen Angriffs- und Fluchtverhalten. Entstanden sind sie vermutlich zunächst durch Verlängerung des Zeitraums zwischen Drohen und tatsächlicher Ausführung etwa eines Rammstoßes. Sie haben sich durch Ritualisierung verselbstständigt. Selbst Fische kennen Drohgebärden: Beim Breitseit-Drohen präsentieren die Knochenfische ihrem Widersacher die größtmöglichen Körperumrisse.

„Gerade die Einsicht, dass der Aggressionstrieb ein echter, primär arterhaltender Instinkt ist, lässt uns seine volle Gefährlichkeit erkennen: Die Spontaneität des Instinktes ist es, die ihn so gefährlich macht.“ (S. 55)

Insbesondere bei höheren Wirbeltieren spielen physiologische Hemmungen eine entscheidende Rolle: So werden sie dazu gebracht, an einem bestimmten Punkt zu stoppen, wie etwa Hirsche beim Geweihkampf. Hierzu gehört auch die Hemmung, gegen den eigenen Nachwuchs aggressiv zu werden. Der die Hemmung auslösende Reiz ist zum Beispiel bei Puten eine bestimmte an Weinen erinnernde Lautäußerung des Kükens. Hört die Pute diesen Laut nicht, hackt sie die Küken tot. Das schonende Verhalten gegenüber der eigenen Brut ist also nicht angeboren, sondern wird als Aggressionshemmung ausgelöst.

„Was es hier zu zeigen galt, ist die unabschätzbar wichtige Tatsache, dass durch den Vorgang der stammesgeschichtlichen Ritualisierung jeweils ein neuer und völlig autonomer Instinkt entsteht, der grundsätzlich ebenso selbstständig ist wie nur irgendeiner der sogenannten ‚großen‘ Triebe, wie der zur Ernährung, Begattung, Flucht oder Aggression.“ (S. 71)

Unter warmblütigen Wirbeltieren gibt es normalerweise keinen Kannibalismus. Die dafür verantwortlichen Hemmungsmechanismen sind noch wenig erforscht. Weit verbreitet scheint aber infantiles Verhalten zu sein (zum Beispiel Betteln um Nahrung), mit dem sich auch halb erwachsene Tiere gegen Aggressionen erwachsener Tiere schützen. Bei Hunden gibt es gegenüber den Junghunden des eigenen Rudels die sprichwörtliche Beißhemmung. Sie wird bei erwachsenen Hunden auch durch eine Demutshaltung des Gegenübers ausgelöst.

Kampfgemeinschaften sind die Ausnahme

Sehr verbreitet sind Tiergesellschaften ohne eine persönliche Bindung der Tierindividuen untereinander. Die einfachste Form ist die anonyme Schar, beispielsweise Heringsschwärme oder Bisonherden. Da sie wandern, haben sie keine Revierprobleme. Der arterhaltende Vorteil ihrer relativ geringen Distanz zueinander besteht darin, dass ihre Masse Beutegreifer verwirrt.

„Da jede Abweichung von den gruppencharakteristischen Umgangsformen Aggression hervorruft, werden auf diese Weise alle Mitglieder einer Gruppe zur genauen Einhaltung dieser Normen des Sozialverhaltens gezwungen.“ (S. 83)

Etliche Vögel, die in großen Kolonien brüten, bilden reine Nachbarschaften oder, wie die Störche im Hinblick auf die Brut, reine Geschäftspartnerschaften: Außerhalb der Brutzeit haben sie keinerlei Verbindung zueinander.

Eine besondere Form sind die kollektiven Kampfgemeinschaften der Wanderratten. Ratten bilden Sippen gemeinsamer Abstammung, die aber schnell so groß werden, dass sich die einzelnen Mitglieder untereinander nicht kennen können. Wie bei staatenbildenden Insekten, die auch eine gemeinsame Abstammung von der Königin haben und die sich unmöglich individuell kennen können, ist es ein spezifischer Geruch, der die Sippenzugehörigkeit für alle erkennbar macht. Untereinander sind Ratten vollkommen friedlich und aggressionsgehemmt; sie kennen im Unterschied zum Wolfsrudel nicht einmal eine Rangordnung beim Fressen. Aber sie wenden sich mit grausamer Konsequenz gegen jeden sippenfremden Artgenossen. Die fehlende Aggressionshemmung gegenüber sippenfremden Artgenossen dient demnach nicht mehr der Erhaltung der Art, sondern nur der der Sippe.

Gänse sind auch nur Menschen

Ganz anders als bei den anonymen Scharen, Nachbarschaften oder dem Sonderfall der Ratten bilden Tiere aber auch echte Gruppen, in denen sich die Tierindividuen in der Tat persönlich kennen und Bindungen untereinander entwickeln. Selbstverständlich muss dieses individuell erlernt werden, es kann schon definitionsgemäß nicht instinktiv vorhanden sein. Damit Tiere sich kennenlernen können, sind im Lauf der Evolution bei verschiedenen Arten Angriffshandlungen und Drohgebärden umorientiert worden (redirected activity). Sie wurden ritualisiert und zu einem neuen, eigenständigen Instinkt. So wurden aus Drohgebärden Begrüßungen und Befriedungen, wie etwa der Tanz der Kraniche oder das Triumphgeschrei der Gänse. Diese Rituale werden häufig wiederholt und das Band verfestigt sich bis hin zur eheähnlichen, lebenslangen Gemeinschaft mancher Tiere, wie etwa bei den Graugänsen. Diese Bindung ist also aus umorientierter Aggression entstanden. Innerhalb einer fest gefügten Gruppe gibt es dann keine innerartliche Aggression mehr, wohl aber nach außen. Es sind gerade Tiere mit hoch entwickelter innerartlicher Aggression, bei denen dies zu beobachten ist.

Und was ist mit dem Menschen?

Die als Wissenschaft noch junge vergleichende Verhaltensforschung wirft mit ihren Erkenntnissen zur Aggression bei Tieren die Frage auf, ob und was davon zur Verhütung von Gefahren des menschlichen Aggressionstriebs anwendbar wäre. Allein schon gegen diese Fragestellung haben sich von vornherein Stimmen erhoben. Kritiker wollten den menschlichen freien Willen unter keinen Umständen von Überlegungen oder Erkenntnissen angetastet sehen, die menschliches Verhalten auf Reiz-Reflex-Kausalitäten zurückführen. Ähnliche grundsätzliche Einwände gab es schon gegen die Erkenntnisse von Charles Darwin und Sigmund Freud. Doch die Gegner verkennen das Wesen wissenschaftlicher Erkenntnisse einerseits und des freien Willens andererseits – aus folgenden Gründen:

  • Die Erkenntnis kausaler Naturzusammenhänge ist immer hilfreich. Sie kann den freien Willen nicht „entwerten“. Die Natur wird durch Wissenschaft nicht entgöttert.
  • Wir können keine Grenze der Naturerkenntnis ziehen, weil niemand diese Grenze kennt. Das Einzige, was wir definitiv wissen, ist, dass gerade in der Natur sich alles ständig im Fluss, in Veränderung und Evolution befindet. Es wäre anmaßend anzunehmen, unser gegenwärtiges Menschsein sei die Krone der Schöpfung.
  • Freier Wille ist keineswegs gleichbedeutend mit Amoral oder Willkür. Vermehrtes Ursachenwissen kann dem Willen in jeder Hinsicht dienstbar gemacht werden, es kann ihn aber nicht vermindern. Verbesserte Heilungschancen durch bessere medizinische Kenntnisse sind das beste Beispiel.

Ecce Homo

Der Mensch ist kein Raubtier. Für ein mit schwachen Zähnen und Fingernägeln nur kläglich bewaffnetes Wesen bestand kein Selektionsdruck, instinktive Aggressionshemmungen zu entwickeln. Grundlegend geändert wurde die Situation durch die Erfindung von Waffen. Wegen des begrifflichen Denkens, zu dem der Mensch fähig ist, ist deren Verbreitung ohne langsame evolutionäre Prozesse sofort möglich. Für gegenläufige Anpassungsvorgänge fehlt die Zeit. Die menschliche Fähigkeit zur gegenseitigen Vernichtung wird durch verantwortliche Moral dahingehend kompensiert, dass aggressive Leidenschaften gezügelt werden: Es findet verstandesmäßiger Triebverzicht statt. Zur vernünftigen Einsicht muss eine gefühlsmäßige Wertempfindung hinzutreten, damit daraus ein Gebot, etwa zu rettendem Handeln, oder ein Verbot entsteht („Du sollst nicht töten“). Dieser Gefühlsfaktor hat seinerseits instinktive Wurzeln. Sehr deutlich zeigt die Begeisterungsfähigkeit, wie stark menschliches Verhalten instinktgeleitet ist. Genau beobachtet, ist sie eine Form von Aggression. Begeisterung kann zu großen Taten beflügeln, aber – demagogisch aufgestachelt – auch zerstörerisch sein, selbst gegen Artgenossen.

Wege der Aggressionsverhinderung zwischen Menschen

Aggression lässt sich nicht einfach wegzüchten. Es wäre auch fatal, diesen Urtrieb auszuschalten, weil er als Antrieb hinter vielen menschlichen Tätigkeiten steht – vom täglichen Rasieren bis zum Streben nach bedeutenden wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen. Denkbare Wege, um mit der Aggression umzugehen, sind:

  • abreagieren und umlenken durch Ersatzhandlungen,
  • ritualisierte Formen des Kampfes wie etwa im Sport, sei es im Mannschaftssport oder im Ausloten von Grenzen beim Bergsteigen oder Tauchen,
  • persönliche Einzelbekanntschaften und internationale Freundschaften, die den Aufbau von Hassbeziehungen zwischen Völkern verhindern,
  • Begeisterung für Wissenschaft und Kunst,
  • Lachen und Humor, denn: Wer lacht, schießt nicht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Lorenz’ populäres Hauptwerk zeichnet sich durch einen sehr durchdachten Aufbau aus. Der Autor betont selbst, dass er für den Leser den Weg nachzeichnen will, auf dem er selbst zu seinen Erkenntnissen gelangt ist. Insofern ist die Erzählung historisch-chronologisch aufgebaut. Gleichwohl ist das Buch sinnvoll gegliedert, ähnlich wie ein Lehrbuch, und schreitet Schritt für Schritt vom Einfachen zum Komplexen fort. In den letzten drei Kapiteln widmet sich Lorenz den ethischen Fragen, die aus seiner Sicht aus den Erkenntnissen der vergleichenden Verhaltensforschung erwachsen.

Lorenz ist immer ganz bei den Tieren. Er vermag das Tierleben konkret und anschaulich zu schildern, oft mit einer Prise Humor und ohne Fachjargon. Man spürt seine intensive Vertrautheit und Anteilnahme am Tierleben. Er behandelt die Tiere mit Respekt, aber ohne schmusige Tierliebe und ohne Vermenschlichung. Stil und Wortwahl wirken heute bisweilen ein wenig altmodisch; so verwendet Lorenz häufig das Dativ-e, das wir nur noch in feststehenden Wendungen wie „im Dienste“ oder „zum Wohle“ kennen. Lorenz verliert sich nie in beiläufigen Anekdoten, daher ist das ganze Buch sehr kompakt und unterhaltsam zu lesen.

Interpretationsansätze

  • Für Lorenz ist die Aggression ein natürlich vorhandener und notwendiger Trieb, der artspezifisch in unterschiedlicher Weise ausgeprägt und über komplizierte Wechselwirkungen gegen „böse“ Auswirkungen instinktiv gefeit ist. Lorenz’ Forschungen hatten ergeben, dass gerade als gefährlich bekannte Tiere dank selektiver, natürlicher Zuchtwahl über instinktive Aggressionshemmungen verfügen. Dies verhindert bei ihnen die Vernichtung der eigenen Art.
  • Als das ultimative Böse bezeichnet Lorenz die Vernichtung von Artgenossen. Sein Buch, erschienen 1963, entstand in der Zeit des Kalten Krieges, des schärfsten Gegensatzes zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischem Ostblock. Die gegenseitige atomare Bedrohung der Supermächte USA und UdSSR löste bei Lorenz größte Sorge in Bezug auf menschliche Aggression und fehlende Aggressionshemmung aus. Er befürchtete, dass die menschliche Aggressionskontrolle durch moralisches Verhalten nicht wirkungsvoll genug sein könnte.
  • Lorenz’ Thesen wurden von Anfang an teilweise heftig bestritten. So weitgehende Ausprägungen tierischen Verhaltens aufgrund stammesgeschichtlicher Verwandtschaft, wie Lorenz sie konstatierte, wollten viele nicht wahrhaben. So hielt man schon prinzipiell den Vergleich zwischen Mensch und Tier und alle weiteren Schlussfolgerungen für unzulässig. Andere Kritiker bewerteten den freien Willen des Menschen und die Fähigkeit zu moralischem Handeln höher als Lorenz. In den letzten Kapiteln macht Lorenz ansatzweise Vorschläge, „natürliche“ Aggressionshemmungen ins gesellschaftliche Leben der Menschen einzubauen.
  • Einiges von Lorenz’ Gedankengängen wirkt heute zeitbedingt und überholt – allein schon weil die politische Entwicklung weitergegangen ist. Andererseits war er in seinem Bewusstsein vom Eingebettetsein des Menschen in den Gesamtzusammenhang der Natur seiner Zeit voraus. Das gilt nicht nur für sein Bewusstsein für Ökologie, sondern auch im Hinblick auf die Forschungsergebnisse der modernen Genetik.

Historischer Hintergrund

Verhaltensforschung im Aufbruch

Die vergleichende Verhaltensforschung ist aus der Zoologie hervorgegangen und hat sich erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts als eigenständiger Forschungszweig etabliert. Wie in anderen Forschungsgebieten auch kann man in ihr durch vergleichende Beobachtung zu konkreten und genauen, nachprüfbaren Aussagen gelangen. Im 19. Jahrhundert hatten sich Zoologen hauptsächlich mit der Anatomie und der Taxonomie von Tieren beschäftigt, aber wenig Interesse für deren Verhalten aufgebracht. Es war der in Berlin tätige Zoologe und Ornithologe Oskar Heinroth, dem bestimmte Bewegungsweisen und Rufe vor allem bei Enten und Gänsen auffielen. Er untersuchte sie systematisch und legte so die Grundlagen für die Verhaltensforschung, die er selbst Ethologie nannte. Das ist auch heute der akademische Begriff dieser Disziplin. Bereits Heinroth prägte inzwischen geläufige Ausdrücke wie Imponiergehabe, Triumphgeschrei, Prägung und Hetze als Fachbegriffe zur Beschreibung bestimmter biologischer Verhaltenskomplexe. In der Anfangsphase der Verhaltensforschung hatten auch andere herausragende Ornithologen wie in Deutschland Erwin Stresemann, ebenfalls am Berliner Zoo, wesentlichen Anteil an der Entwicklung der jungen Disziplin.

Im 20. Jahrhundert standen sich in der Verhaltensforschung die beiden Schulen der Evolutionisten und der Behavioristen gegenüber. Letztere hatte vor allem im angelsächsischen Raum ihre Hauptvertreter, etwa John B. Watson und B. F. Skinner. Der bekannteste Begriff aus diesem Umfeld ist der „Pawlow’sche Reflex“, benannt nach dem russischen Mediziner Iwan Pawlow: Dessen Hund sabberte schon nach kurzer Lehrzeit, wenn er die Nahrung nur sah oder einen bestimmten Klingelton hörte. Diese Lehre erklärt tierisches Verhalten aus sogenannten natürlichen (unkonditionierten) oder angelernten (konditionierten bzw. bedingten) Reflexen. Darauf baute Skinner dann eine ganze Theorie des menschlichen Lernens auf, das sogenannte Programmierte Lernen. Erich von Holst, ein weiterer bedeutender deutscher Verhaltensforscher und späterer Co-Direktor von Lorenz am Max-Planck-Institut, überzeugte Lorenz schon früh von der Unzulänglichkeit des Behaviorismus. Die stattdessen von ihnen vertretene Instinkttheorie, die von konkret definierbaren inneren Antrieben ausging, bot trotz komplizierter Wechselwirkungen viel umfassendere Erklärungsmöglichkeiten. Das wurde durch den Nobelpreis 1973 honoriert. Aus methodischen Überlegungen heraus wie auch aufgrund moderner Hirnforschung gilt inzwischen allerdings auch die Instinkttheorie als überholt.

Entstehung

Wie es zu der Niederschrift von Das sogenannte Böse kam, schildert Lorenz selbst im Eingangskapitel des Buches. Der mittlerweile fast 60-jährige Leiter des Max-Planck-Instituts in Seewiesen hielt sich im Winter 1960/61 gemeinsam mit seiner Frau anlässlich einer seiner vielen Vortragsreisen in den USA auf. Bei einem anschließenden Urlaubsaufenthalt in Florida beobachtete er schnorchelnd in den dortigen Korallenriffen, wie ein Korallenfisch sein Revier ausgesprochen aggressiv gegen einen anderen bunten Korallenfisch verteidigte. Dieses Ausmaß an Aggression hatte Lorenz so noch nie bei Tieren beobachtet.

Das Buch, das in den folgenden anderthalb Jahren entstand, ist eine Summe von Lorenz’ vielfältigen Forschungen an ganz unterschiedlichen Tierarten, vor allem Fischen und Vögeln, mit Fokus auf das Phänomen der Aggression gegen Artgenossen. Die gedanklichen Grundlagen gehen aber, wie oft bei Lorenz, schon auf die 30er-Jahre zurück. 1935 etwa veröffentlichte er den Artikel Moral und Waffen der Tiere, in dem die wesentlichen Gedanken von Das sogenannte Böse bereits enthalten waren. Schon damals orakelte er, die Menschheit könne eines Tage in zwei gegnerische Lager gespalten sein und jedes verfüge über genügend Vernichtungskraft, das andere vollkommen auszulöschen. Diese Situation sah er in der hochbrisanten politischen Weltlage auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs tatsächlich verwirklicht.

Wirkungsgeschichte

Nicht zuletzt die weltpolitische Lage verschaffte Konrad Lorenz’ Buch den gewaltigen Resonanzboden, der es zum internationalen Bestseller werden ließ. Davon abgesehen war Lorenz ein begabter Autor, der schon mit seinem ersten Buch Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen und populärwissenschaftlichen Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften Erfolg hatte. Das sogenannte Böse war für das breite Publikum verständlich, kam es denn auch ohne Fußnoten und Anmerkungsapparat aus. Es thematisierte nicht nur eher zufällig die damalige aktuelle Weltlage, sondern in gewisser Weise auch die jüngere Vergangenheit der Deutschen und Österreicher, in der sie in zuvor unvorstellbarer Aggressivität Millionen von Artgenossen vernichtet hatten. Ließ sich eine derartige Manifestation des Bösen biologisch erklären? Von Anfang an waren Lorenz’ Tier-Mensch-Analogien, sein Schluss „von der Gans aufs Ganze“ (Der Spiegel) umstritten. International fand das Buch viel Zuspruch, auch und gerade in den USA, die bereits mit einem Bein im Vietnamkrieg standen.

Über den Autor

Konrad Lorenz wird am 7. November 1903 in Wien geboren. Er stammt aus einer wohlhabenden Arztfamilie. Auf Wunsch seines Vaters beginnt er ein Medizinstudium in New York. Zurück in Wien pflegt er eine beinahe halsbrecherische Leidenschaft für Motorradrennfahrten. Bei Abschluss des Studiums in Wien heiratet er 1927 seine Jugendfreundin Margarethe Gebhardt. Gretl, eine praktizierende Ärztin, mit der er drei Kinder haben wird, bestreitet lange den Lebensunterhalt. In den späten 1920er-Jahren arbeitet Lorenz bei dem Anatomen Ferdinand Hochstetter, studiert Zoologie und beginnt mit Beobachtungen von Tieren. Es folgen Lorenz’ produktivste Jahre, in denen er die Grundlagen für die vergleichende Verhaltensforschung legt. Damals spricht man noch von „Tierpsychologie“. Alle späteren Arbeiten basieren auf den grundlegenden Erkenntnissen jener Jahre. 1935 wird er zum „Vater“ der Graugans Martina, die er auf sich prägt. Beim „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 ist Lorenz 34 Jahre alt. Er tritt der NSDAP bei und beginnt 1940 seine akademische Karriere im ostpreußischen Königsberg. Lorenz präsentiert in Schriften dieser Zeit ein nationalsozialistisches Gedankengut, das er nach 1945 zwar zu relativieren versucht, das ihn jedoch immer als großer Makel begleiten wird. Während des Zweiten Weltkriegs wird er als Militärarzt eingezogen und gerät 1944 in russische Gefangenschaft, aus der er 1948 heimkehrt. 1950 wird Lorenz Co-Leiter eines Max-Planck-Instituts in Buldern in Westfalen, das er aufbaut und das 1955 nach Seewiesen in Bayern verlegt wird. Lorenz reist regelmäßig zu Vorträgen in die USA und wird weltweit bekannt. Ab 1972 engagiert er sich politisch für den Umweltschutz. 1973 erhält er zusammen mit dem Österreicher Karl von Frisch und dem Niederländer Nikolaas Tinbergen den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Damit ehrt die Schwedische Akademie die Begründer der Verhaltensforschung. Bei der Verleihung des Nobelpreises ist Lorenz 70 Jahre alt. Er stirbt am 27. Februar 1989 in Wien.

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