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Das Unbehagen in der Kultur

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Das Unbehagen in der Kultur

Reclam,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Die Kultur hindert uns am Glücklichsein – ihr Fehlen auch.


Literatur­klassiker

  • Psychologie
  • Moderne

Worum es geht

Die Kultur und die Triebe des Menschen

Das Unbehagen in der Kultur ist eine der wichtigsten kulturtheoretischen Schriften Sigmund Freuds. Der Vater der Psychoanalyse geht darin der Frage nach, welchen Einfluss die Kultur auf den Menschen ausübt. Er beurteilt die Kultur ausgesprochen pessimistisch, nämlich als eine Kraft, die die Triebe des Einzelnen kontrolliert und so dazu beiträgt, dass die Menschen unglücklich und neurotisch werden. Mit dieser kritischen Abhandlung aus dem Jahr 1930 distanzierte sich Freud deutlich von der Fortschrittsgläubigkeit seiner Zeit. Seine Beschreibung des Kampfes der Kultur gegen das Individuum liest sich ausgesprochen interessant. Sie hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität verloren, sondern klingt mitunter geradezu prophetisch.

Take-aways

  • Das Unbehagen in der Kultur ist ein wichtiges Alterswerk Sigmund Freuds.
  • Inhalt: Die Kultur fordert vom Einzelnen, dass er seine Triebe, insbesondere Sexualität und Aggression, unterdrückt. Mithilfe des Über-Ichs, der moralischen Instanz in seinem Inneren, richtet der Mensch seine Aggressionen gegen sich selbst und hat sein Verhalten unter Kontrolle. Diese Unterdrückung macht den Menschen unglücklich und verursacht Neurosen.
  • Freud verarbeitete in Das Unbehagen in der Kultur die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit.
  • Das Werk ist dementsprechend stark kulturpessimistisch geprägt: Freud wendet sich gegen einen naiven Fortschrittsglauben.
  • Für ihn ist der Mensch nicht frei in seinen Entscheidungen, sondern vor allem von seinen Trieben gesteuert.
  • Die Theorien Freuds und die von ihm entwickelte Psychoanalyse hatten einen enormen Einfluss auf das Geistesleben des 20. Jahrhunderts.
  • Begriffe wie „Ödipuskomplex“, „Unbewusstes“ oder „Verdrängung“ sind in die Alltagssprache eingegangen.
  • Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens galten Freuds Werke wegen ihrer Betonung der Sexualität als skandalös.
  • Nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland ging Freud ins Exil nach London, wo er 1939 starb.
  • Zitat: „Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.“

Zusammenfassung

Religion als Täuschung

Die Religion kann nur eine Täuschung sein. Zwar argumentieren ihre Verteidiger, dass die Menschen ganz selbstverständlich religiöse Regungen empfinden, etwa ein Gefühl der Verbundenheit mit etwas Höherem bzw. der ganzen Welt. Über religiöse Gefühle ist schwer zu urteilen. Es gibt allerdings eine plausible Erklärung für sie. Als Säuglinge fühlen wir uns mit der ganzen Welt verbunden, weil die Grenzen unseres Ichs noch nicht ausgeprägt sind. Mit zunehmender Entwicklung können wir immer besser zwischen unserem Ich und der uns umgebenden Umwelt unterscheiden. Das kann sich aber auch wieder ändern, z. B. wenn man sich verliebt und die Grenze zwischen Ich und Du verschwimmt. Gegenwart und Vergangenheit können in der Realität normalerweise nicht nebeneinander bestehen. Nehmen wir die Stadt Rom als Beispiel: Sie hat sich über Jahrtausende entwickelt. Alte Gebäude wurden abgerissen oder verfielen, andere wurden aufgebaut. Dass am selben Ort gleichzeitig frühere und neue Gebäude vorhanden sind, ist nicht möglich. Anders bei der menschlichen Seele: Hier sind immer frühere und spätere Entwicklungsstufen gleichzeitig präsent und können bei Bedarf abgerufen werden. Bei religiösen Gefühlen fällt der Mensch in eine frühere Entwicklungsstufe zurück. Die Vorstellung eines allmächtigen Vatergottes beispielsweise hat etwas sehr Kindliches. Daher kann religiöses Verhalten als infantil und unentwickelt gelten.

Das Leben ertragen

Wozu ist der Mensch auf der Welt, was ist der Sinn seines Daseins? Diese Frage hat noch niemand befriedigend beantworten können. Der Mensch möchte glücklich sein, er strebt nach Lustgewinn. Darauf ist die Welt jedoch nicht ausgerichtet. Sie ist voller Bedrohungen; die Gesundheit und das Leben des Menschen sind vergänglich. Er kann das dauerhafte Glück, das er sucht, also nicht finden. Darum sucht er Ersatzbefriedigungen, Ablenkungen, oder er flüchtet in eine Sucht. Wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit kann eine solche Ersatzbefriedigung sein, sie steht aber nur wenigen offen. Suchtmittel lassen uns die Realität vergessen, doch sie haben unerwünschte Nebenwirkungen. Auch die Sexualität schenkt Ablenkung. Wenn das Leben gar nicht zu ertragen ist, flüchtet der Mensch in die Neurose oder gar in die Psychose, in Wahnvorstellungen. Als eine kollektive Wahnvorstellung kann man die Religion ansehen. Indem der Mensch sich einredet, dass eine höhere Macht sein Leben lenkt und Hingabe verlangt, erhält sein Leben einen Sinn. Wenn er dann doch leiden muss, kann er sich immer noch sagen, dass es Gottes Wille war. Letztlich ist dies die völlige Unterwerfung unter das Leid – und dafür kann man sich den Umweg über die Religion eigentlich ersparen.

Der technische Fortschritt

Der Mensch hofft, sein Unglück durch den Fortschritt zu beseitigen, aber diese Hoffnung ist trügerisch. Die technischen Errungenschaften der Neuzeit haben zwar die Fähigkeiten des Menschen enorm erweitert und ihn seinen Göttern ähnlich werden lassen. Aber so vielversprechend sie auch waren, sie konnten das menschliche Unglück doch nicht vermindern. Vieles hat sich verändert: Die Lebenserwartung ist höher, die Kindersterblichkeit geringer, und wenn eines unserer Familienmitglieder weit entfernt lebt, können wir über das Telefon jederzeit Kontakt herstellen. Aber das ist ein zweischneidiges Schwert: Eine höhere Lebenserwartung bedeutet auch ein längeres Leiden im Alter, und ohne die Entwicklungen des technischen Fortschritts, etwa die Eisenbahn, würden die Familien näher beieinander leben. Viele Menschen glauben, sie wären glücklich, wenn sie ursprünglicher leben könnten. Und tatsächlich erscheinen uns Naturvölker oft glücklicher, doch ihr Leben kennen wir nicht wirklich. Auch ob es den Menschen früher besser ging als heute, können wir nicht beurteilen.

Der Mensch in der Gemeinschaft

Das Unglück des Menschen hat noch einen anderen Grund: Er hat es noch nicht geschafft, das Zusammenleben mit anderen befriedigend zu regeln, sei es in der Familie oder in anderen Institutionen. Dabei ist alle menschliche Kultur vom Zusammenleben in größeren Gruppen geprägt, und schon früh in ihrer kulturellen Entwicklung haben die Menschen Gemeinschaften gebildet. Die Gründe waren zum einen die Notwendigkeit gemeinsamen Arbeitens, zum anderen die geschlechtliche Liebe. Diese ist die größte Quelle des menschlichen Glücks, zugleich aber auch gefährlich, denn gerade hier kann der Mensch tief verletzt werden. Außerdem ist sie meist nur auf eine Person gerichtet. Um diese Nachteile zu umgehen, hat sich der Mensch in die zielgehemmte Liebe geflüchtet, d. h. die Liebe zu anderen ohne sexuelles Begehren. So entstehen Freundschaften oder die Zuneigung zwischen Geschwistern. Durch die zielgehemmte Liebe kann der Mensch größere Gemeinschaften bilden. Leider haben Liebe und Kultur unterschiedliche Ziele: Die Liebe bindet den Mensch an die Familie, während die Kultur fordert, dass er sich von ihr löst und auch außerhalb der Familie aktiv wird.

Die Kultur als Quelle des Unbehagens

In einer Kultur wird das Recht des Einzelnen durch die Gruppe geschützt und die Macht des Stärkeren begrenzt. Das heißt, der Einzelne kann nicht einfach seine Triebe ausleben, denn das würde die Gruppe zerstören. Deshalb kontrolliert die Kultur die Triebe des Individuums. Das Individuum in der Kultur muss seine Triebe entweder unterdrücken oder auf andere Weise ausleben. Weil der Mensch danach strebt, glücklich zu werden, fügt er sich in die Gemeinschaft und damit in die Kultur ein. Dieses Einfügen verursacht ihm Unbehagen, doch den Nachteil nimmt er in Kauf. Der Kampf zwischen Trieb und Kultur, zwischen dem Streben nach individuellem Glück und dem Wunsch, zur Gruppe zu gehören, tobt in jedem Menschen, und seine Unterordnung unter die Anforderungen seiner Kultur ist häufig eine Ursache für Neurosen. In primitiven Gesellschaften können nur die Starken und Mächtigen ihre Triebe ausleben, die anderen sind dafür umso unfreier.

Kultur und Sexualität

Die Kultur versucht die Sexualität des Menschen weitestgehend zu kontrollieren, indem sie als einzige gültige Norm eine lebenslange heterosexuelle Beziehung vorschreibt und alle anderen Formen der Sexualität tabuisiert. Diese Norm ist fast nicht zu erfüllen, weil die Menschen eigentlich bisexuell veranlagt sind. Deshalb gibt es auch so viele Abweichungen, die dann meist stillschweigend toleriert werden. Die menschliche Sexualität wird durch die rigiden Normen der Kultur stark eingeschränkt, wodurch Neurosen entstehen. Neurotisches Verhalten ist der misslingende Versuch einer Ersatzbefriedigung. Aus diesen krankhaften Verhaltensmustern entsteht nur neues Leid. Welche unmöglichen Einschränkungen die Kultur von uns fordert, zeigt sich am besten am Gebot der Nächstenliebe: Es steht völlig im Gegensatz zur Natur des Menschen. Wer ganz unbefangen an die Sache herangeht, wird sich zu Recht fragen, warum er nicht nur die Menschen lieben soll, zu denen er sich hingezogen fühlt, sondern alle, zumal dann, wenn einige von ihnen ihm auch noch schaden.

Kultur und Aggression

Warum unterdrückt die Kultur so eifrig den Sexualtrieb und propagiert die zielgehemmte Liebe bzw. Nächstenliebe? Sie will auf diese Weise den Aggressionstrieb des Menschen, der sie zerstören könnte, in Schach halten. Denn der Mensch ist nicht nur gut: Er hat auch eine Menge Aggression in sich. Das zeigt sich immer wieder, nicht nur im Krieg. Diese Aggressionen wirksam zu beherrschen, ist der Kultur bisher noch nicht gelungen. Der Kommunismus verfolgt zwar dieses Ziel; er führt alle Aggression auf ungerechte Besitzverhältnisse zurück und hofft, dass mit der Aufhebung des Privateigentums auch die Aggression verschwindet. Dies ist aber ein Irrtum, denn die Aggression gehört einfach zum Menschen, unabhängig davon, was er besitzt. Wenn Menschen sich zu größeren Gruppen zusammenschließen, richtet sich die Aggression häufig nach außen, gegen die, die nicht zur Gruppe gehören. So sind die Feindseligkeiten zwischen den Nationen zu erklären.

Menschliche Triebe

In der psychoanalytischen Trieblehre unterscheidet man zwischen dem Trieb der Libido und dem Destruktions- oder Todestrieb. Die Libido bezieht sich entweder auf ein Objekt außerhalb des Ichs oder aber in narzisstischer Weise auf das Ich selbst. Sie dient der Selbsterhaltung. Der Todestrieb dagegen ist mit Aggression verbunden. Libido und Destruktion sind gegensätzlich, aber zugleich miteinander verknüpft. Das zeigt sich am deutlichsten in sadistischem bzw. masochistischem Verhalten.

Gut und Böse

Wie schafft es die Kultur, die Aggression des Einzelnen in Schranken zu halten? Sie sorgt dafür, dass der Mensch seine Aggression gegen sich selbst richtet. Oft bewerten Menschen gerade diejenigen Dinge als böse, die ihnen eigentlich guttun. Der Grund dafür ist, dass dem Menschen die Bewertung von außen vorgegeben wird. Das Kind orientiert sich zunächst an den Normen seiner Umgebung, weil es Angst hat, bei Fehlverhalten die Zuneigung der Autoritäten zu verlieren. Daher auch sein schlechtes Gewissen, wenn es gegen die Norm verstößt. Zugleich ist das der Grund, weshalb manchmal eine Gruppe etwas Böses tut, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben – das geschieht immer dann, wenn dieses Verhalten von den Autoritäten toleriert bzw. gefördert wird und keine Strafe folgt.

Ich und Über-Ich

Mit zunehmender Reife orientiert sich der Mensch nicht mehr nur an Autoritäten. Die strafende Instanz verlagert sich nach innen und wird als Über-Ich ein Teil der eigenen Persönlichkeit. Das Über-Ich ist das Gewissen. Es bildet sich aus den Aggressionen des Menschen und übt diese Aggressionen, die das Ich eigentlich nach außen ausleben wollte, gegen das Ich selbst aus, indem es dieses kontrolliert und Schuldgefühle verursacht. Bezeichnend ist, dass sie nicht nur dann auftreten, wenn man etwas Böses getan hat, sondern auch dann, wenn man das Böse nur gedacht hat. Denn dem Über-Ich kann der Mensch nicht entfliehen, es kennt ja sogar seine Gedanken. Ein ausgeprägtes Über-Ich wird mit der Zeit immer strenger, und gerade sehr moralische Menschen haben die meisten Schuldgefühle. Solche Menschen neigen dazu, auch Schicksalsschläge nicht als Unglück, sondern als verdiente Strafe anzusehen und ihr Verhalten noch mehr zu kontrollieren.

Gewissen und Schuld

Das Gewissen ist sozusagen eine Funktion des Über-Ichs und hat die Aufgabe, alles zu überwachen und zu beurteilen, was das Ich denkt und tut. Das Schuldgefühl macht dem Ich bewusst, dass es vom Über-Ich bewacht wird und nicht einfach tun kann, was es will. Das Ich unterwirft sich dem Über-Ich – insofern kann man diese Beziehung als masochistisch bezeichnen. Auf Schuldgefühle reagiert das Ich mit Reue; sie allein ist schon eine Strafe. Das Schuldgefühl ist umso stärker, je weniger man seine Aggressionen ausleben kann. Schuldgefühle sind eigentlich Angst. Auch sie können Neurosen verursachen. Am deutlichsten wird dies bei der Zwangsneurose. Bei allen anderen Neurosen bleiben die Schuldgefühle eher im Hintergrund und sind den Betroffenen oft gar nicht bewusst. Man muss den Religionen zugutehalten, dass wenigstens sie die Bedeutung der Schuldgefühle ahnen und den Menschen Erlösung anbieten.

Das Über-Ich und die Kultur

Wie Individuen entwickeln auch Gruppen ein Über-Ich. Oft sind es herausragende Persönlichkeiten, die dieses Über-Ich prägen, und oft üben sie erst nach ihrem Tod diesen Einfluss aus. Jesus Christus ist das beste Beispiel. Das Kultur-Über-Ich prägt das Über-Ich des Einzelnen, der der Kultur angehört. Die Regeln des Kultur-Über-Ichs sind in ethischen Vorschriften festgehalten. Kultur-Über-Ich und individuelles Über-Ich stellen hohe Forderungen an das Ich. Ob dieses die Forderungen bewältigen kann und ob es damit glücklich ist, ist ihnen gleichgültig. Vor allem nehmen sie keine Rücksicht auf das Es, d. h. die Triebe des Einzelnen. Nach den Forderungen des Über-Ichs soll das Ich das Es kontrollieren – das ist dem Ich aber gar nicht möglich. Wenn das Ich mit den Forderungen des Über-Ichs und der daraus resultierenden Kontrolle des Es überfordert ist, entstehen Neurosen.

„Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen.“ (S. 7)

Die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft verläuft ähnlich wie die Anpassung des Einzelnen an die Kultur. Daher kann man auch ganze Kulturen als neurotisch bezeichnen; therapieren lässt sich eine Kultur allerdings nicht. Die Auffassung, der Mensch würde sich durch die Kultur immer mehr vervollkommnen, ist naiv. Kultur ist für den Menschen ein Zwang, der ihn krank macht. Inzwischen ist die Menschheit in ihrer Entwicklung so weit, dass sie sich selbst ausrotten kann. Die Frage ist: Wenn Eros und Destruktionstrieb gegeneinander kämpfen, wer wird dann siegen?

Zum Text

Aufbau und Stil

Das Unbehagen in der Kultur ist eine in acht Kapitel untergliederte Abhandlung. Die Kapitel tragen keine Überschriften, sondern sind nur mit römischen Ziffern durchnummeriert. Zahlreiche, z. T. sehr lange Fußnoten ergänzen den Text. Außerdem finden sich viele Zitate und Anspielungen auf literarische Texte. Freuds Sprache ist, insbesondere im Vergleich mit anderen wissenschaftlichen Texten, ausgesprochen klar und verständlich. Er bevorzugt kurze Sätze; statt schwer verständlicher Fremdwörter verwendet er nach Möglichkeit deutsche Begriffe. Viele dieser Begriffe, wie Es oder Über-Ich, hat er selbst geprägt, sie sind aber auch denjenigen verständlich, die sich in seiner Theorie nicht auskennen. Damit ist das Werk auch für Nichtpsychologen lesbar. Freud bringt seine Gedanken klar auf den Punkt und scheut auch vor provokanten Formulierungen nicht zurück.

Interpretationsansätze

  • Der Begriff der Kultur umfasst bei Freud alle Errungenschaften der Zivilisation, alles, was den „zivilisierten“ vom „primitiven“ Menschen unterscheidet. Das Unbehagen in der Kultur ist deutlich kulturkritisch geprägt. Die Kultur erscheint nicht als eine positive Errungenschaft des Menschen, sondern als etwas, was dem Menschen eigentlich fremd ist, ihn einschränkt und krank macht. Zugleich bietet Freud keine positive Gegenwelt an: Auch in Gemeinschaften, die weniger von der Kultur geprägt sind, hat kaum jemand die Möglichkeit, sich auszuleben.
  • Dem entspricht die pessimistische Weltsicht Freuds: Der Mensch strebt zwar danach, in seinem Leben glücklich zu werden, kann dieses Ziel aber nie erreichen, solange er mit anderen Menschen eine Gemeinschaft bildet. Zugleich kann er auf diese Gemeinschaft nicht verzichten, denn er braucht sie zum Überleben. Dieses Dilemma endet für viele Menschen in Schuldgefühlen und Neurosen.
  • Freud erweist sich als entschiedener Gegner jeglichen Fortschrittsglaubens. Der Mensch wird die Natur nie beherrschen können, er bleibt immer verletzlich und in seinen Fähigkeiten begrenzt. Was die Menschen als Fortschritt bejubeln, macht sie nicht glücklicher, sondern entfremdet sie umso mehr von ihren eigentlichen Bedürfnissen.
  • Die Auffassung, der Mensch könne über seine Handlungen frei entscheiden, lehnt Freud ab. Ihm zufolge ist der Mensch primär von Trieben gesteuert, derer er sich oft gar nicht bewusst ist. Entsprechend spielt auch die Sexualität in Freuds Theorie eine zentrale Rolle.
  • Nach Freud gibt es Gut und Böse nicht als unabhängige Instanzen in der Welt. Was gut oder böse ist, wird von den jeweils herrschenden Autoritäten entschieden, und die Menschen richten sich danach, weil sie das Wohlwollen dieser Autoritäten nicht verlieren möchten. Ob ein Mensch moralisches Verhalten zeigt oder Schuldgefühle hat, hängt nicht davon ab, ob er ein guter Mensch ist, sondern davon, wie stark sein Über-Ich ausgeprägt ist und ihn unter Druck setzt. Moralisches Verhalten ist demnach nicht „gut“, sondern nur eine Aggression, die der Mensch gegen sich selbst wendet, weil er sie nicht ausleben darf.
  • Freud vertritt einen sozialpsychologischen Ansatz: Die psychischen Störungen des Individuums sind primär auf den Einfluss der Gesellschaft zurückzuführen. Diese gibt den Rahmen vor, in dem der Einzelne sich entwickeln darf; je stärker er sich den Vorgaben anpasst, umso größer ist die Gefahr, dass Neurosen entstehen.

Historischer Hintergrund

Österreich im Umbruch

1867 entstand aus dem Kaiserreich Österreich durch den Zusammenschluss mit Ungarn die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn: ein Staat, in dem Angehörige der unterschiedlichsten Völker zusammenlebten und in dem es deshalb immer wieder zu Spannungen und Autonomiebestrebungen kam. Böhmen und Mähren entwickelten sich zunehmend zum industriellen Zentrum der Donaumonarchie und sorgten in der Folge für einen wirtschaftlichen Boom. Wien war um 1900 zu einem Zentrum der Künstler und Wissenschaftler geworden. Zugleich blockierten die Nationalitätenkonflikte den Staat zusehends. Als Österreich-Ungarn 1908 Bosnien-Herzegowina annektierte, führte dies zu wachsenden Spannungen mit Serbien. Schließlich löste ein serbischer Nationalist den Ersten Weltkrieg aus, als er im Juni 1914 den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand bei einem Attentat in Sarajevo tötete. Die österreichische Armee erwies sich bald als wenig erfolgreich. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Niederlage Österreichs zerbrach auch das Kaiserreich. 1918 wurde die Republik ausgerufen. Die Nationalversammlung strebte einen Zusammenschluss mit Deutschland an, doch die alliierten Siegermächte unterbanden diese Pläne. Das Land war durch Krieg und Reparationszahlungen wirtschaftlich stark geschwächt, es kam zur Inflation, die erst 1924 durch eine Währungsreform gestoppt werden konnte. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 traf auch Österreich hart. Die noch junge Demokratie war instabil, und wie auch in anderen europäischen Staaten nutzten Anhänger radikaler politischer Parteien die politische und wirtschaftliche Schwäche des Landes, um an die Macht zu gelangen. Es kam vermehrt zu Unruhen, denen Polizei und Militär nur mit Waffengewalt zu begegnen wussten. Etwa ab 1930 gewannen die Faschisten zunehmend an Macht.

Entstehung

Sigmund Freud befasste sich in seinen Texten schon früh mit dem Thema Kultur. Zu den Vorläufern von Das Unbehagen in der Kultur zählen die Schriften Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908) sowie Totem und Tabu (1913). Die Annahme, dass der Mensch neben der Libido auch einen Aggressionstrieb in sich trägt, vertrat Freud schon 1920 in der Abhandlung Jenseits des Lustprinzips; mit Schuldgefühlen setzte er sich in Das Ich und das Es (1923) auseinander. Freud schrieb Das Unbehagen in der Kultur ab Sommer 1929. Es war seine erste größere Veröffentlichung seit seiner Krebserkrankung im Jahr 1922, und der Autor war zu diesem Zeitpunkt bereits 73 Jahre alt. Die Abhandlung erschien Ende 1929 in Wien, allerdings vordatiert auf 1930. Zudem wurden das erste und das fünfte Kapitel separat in der Zeitschrift Psychoanalytische Bewegung veröffentlicht. Freud verarbeitete in Das Unbehagen in der Kultur die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der folgenden politischen Wirren, die ihn am zivilisierten Kulturmenschen zweifeln ließen. Nach dem unbegrenzten Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts setzte sich nun nicht nur bei ihm die Vorstellung durch, dass die Menschen die Welt nie vollständig würden beherrschen können und dass trotz aller kultureller Errungenschaften das Böse im Menschen jederzeit wieder ausbrechen konnte. In seiner scharfen Kritik an der Religion griff Freud Gedanken anderer berühmter Religionskritiker wie Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche auf.

Wirkungsgeschichte

Der Einfluss Sigmund Freuds auf das 20. Jahrhundert kann kaum überschätzt werden. Begriffe wie „Ödipuskomplex“, „Unbewusstes“ oder „Verdrängung“ sind längst in die Alltagssprache übergegangen, und der berühmte „Freud’sche Versprecher“ ist sprichwörtlich. Sigmund Freud hat nicht nur die Psychologie, sondern das gesamte Geistesleben der Moderne entscheidend geprägt. Viele Menschen assoziieren heute Psychotherapie oder Psychologie ganz selbstverständlich mit der Psychoanalyse und Sigmund Freuds berühmter Couch, obwohl die Psychoanalyse nur eines von vielen Verfahren darstellt. Zur damaligen Zeit allerdings galten die Schriften Sigmund Freuds wegen ihrer Religionskritik und ihrer offenen Auseinandersetzung mit der Sexualität als skandalös. Freud begründete die sexuelle Freizügigkeit der Moderne entscheidend mit. So akzeptierte er z. B. Homosexualität als eine von vielen Formen menschlicher Sexualität, und das in einer Zeit, als sie noch als Krankheit bzw. als Verbrechen galt. Noch heute ist Sigmund Freud umstritten; manche Kritiker werfen ihm vor, den Einfluss der Sexualität auf die menschliche Entwicklung überschätzt zu haben.

Das Unbehagen in der Kultur ist eine der zentralen Schriften Sigmund Freuds. Neben Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) ist sie seine wichtigste kulturkritische Arbeit. Die Abhandlung hatte starken Einfluss auf viele kulturkritische Philosophen und Soziologen nach Freud. Dazu gehören auch die Vertreter der Frankfurter Schule, wie Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno oder Erich Fromm. Auch die 68er-Bewegung berief sich auf Freuds Kulturkritik.

Über den Autor

Sigmund Freud wird am 6. Mai 1856 im mährischen Freiberg, in der heutigen Tschechischen Republik, geboren. Sein Vater ist ein erfolgreicher jüdischer Kaufmann. Vier Jahre nach Sigmunds Geburt zieht die Familie nach Wien. Hier absolviert Freud das Gymnasium und beginnt anschließend ein Medizinstudium. Von 1876 bis 1882 ist er als Assistent im physiologischen Laboratorium tätig und erforscht unter anderem das Nervensystem von Aalen. Seine Promotion erhält er 1881. Im Jahr darauf lernt er seine spätere Frau Martha Bernays kennen. Nach einigen Jahren am Allgemeinen Krankenhaus fährt er 1885 nach Paris, um sich vom dortigen Professor Charcot in der Kunst der Hypnose ausbilden zu lassen. In Paris setzt er sich mit der Hysterie als Krankheit auseinander – und lernt, wie diese mithilfe der Hypnose ansatzweise kuriert werden kann. 1886 kehrt Freud nach Wien zurück und eröffnet seine Privatpraxis. Zusammen mit Josef Breuer veröffentlicht er 1895 die Studien über Hysterie. Gleichzeitig beginnt er, seine eigenen Träume zu analysieren. 1896 bezeichnet er seine Therapieform zum ersten Mal mit dem Begriff „Psychoanalyse“. 1900 erscheint Die Traumdeutung, Freuds erste größere theoretische Arbeit. In Wien gründet er zusammen mit einigen Anhängern die Psychoanalytische Gesellschaft. Jahrbücher und Kongresse folgen und ein enger Kreis von Freudianern schart sich um den Wiener Psychoanalytiker. Doch ab 1911 verlassen ihn einige Mitglieder, unter ihnen Alfred Adler und Carl Gustav Jung, weil sie sich von Freuds teilweise dogmatischen Ansichten unter Druck gesetzt fühlen und eigene Theorien vertreten. Trotz eines Krebsleidens bleibt Freud hochproduktiv. Zu seinen wichtigsten Schriften gehören Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), Totem und Tabu (1913), Jenseits des Lustprinzips (1920), Das Ich und das Es (1923) sowie Das Unbehagen in der Kultur (1930). Nach Hitlers Einmarsch in Österreich flieht Freud nach London, wo er am 23. September 1939 an einer Überdosis Morphium stirbt.

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