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Das Versprechen

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Das Versprechen

Requiem auf den Kriminalroman

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfĂŒgbar

Was ist drin?

Ein Lustmord an einem MĂ€dchen und ein Kommissar, der zwar richtig kombiniert, den Fall aber dennoch nicht aufklĂ€rt – in DĂŒrrenmatts Krimi triumphiert der absurde Zufall ĂŒber die menschliche Logik.


Literatur­klassiker

  • Kriminalroman
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Krimi und Antikrimi zugleich

DĂŒrrenmatts Versprechen ist ein Abgesang auf den traditionellen Kriminalroman. Das Vertrauen, ein Verbrechen dank Kombinationsgabe und Vernunft lösen zu können, ist in DĂŒrrenmatts Weltsicht ein Trugschluss: Bei ihm triumphiert der Zufall ĂŒber die Logik und den Sachverstand, mag der Ermittler noch so begnadet sein. Mit Dr. MatthĂ€i fĂŒhrt DĂŒrrenmatt ein Musterexemplar dieser Gattung ein, einen Kommissar, der sogar seine Existenz aufs Spiel setzt, um einen Kindermörder dingfest zu machen. Das Grausame an der Geschichte: Zwar hat MatthĂ€i mit seinen Mutmaßungen und Schlussfolgerungen die ganze Zeit ĂŒber recht, aber ein banaler Autounfall verhindert den Triumph ĂŒber den TĂ€ter und ĂŒber die unglĂ€ubigen Kollegen. Die Erfahrung, dass sich die Wirklichkeit seiner Kontrolle entzieht, zersetzt nach und nach die Vernunft des Ermittlers und stĂŒrzt ihn schließlich in den Wahnsinn. Als Leser braucht man Nerven wie Drahtseile, denn dieses Buch ist ebenso spannend wie deprimierend.

Take-aways

  • Das Versprechen ist der dritte Kriminalroman von Friedrich DĂŒrrenmatt.
  • Inhalt: In einem Wald bei ZĂŒrich wird die Leiche eines MĂ€dchens gefunden. Kommissar MatthĂ€i verspricht der Mutter, den TĂ€ter zu finden. WĂ€hrend die Polizei einen Hausierer als TĂ€ter verhaftet, glaubt MatthĂ€i, dass der wahre Mörder noch immer frei herumlĂ€uft. Er beschließt, die Ermittlungen privat weiterzufĂŒhren. Dass er mit seiner Vermutung richtig liegt, erfĂ€hrt er aber nie: Der TĂ€ter stirbt bei einem Autounfall, bevor er in MatthĂ€is Falle tappen kann, und als die Wahrheit Jahre spĂ€ter ans Licht kommt, ist MatthĂ€i wahnsinnig geworden und nicht mehr aufnahmefĂ€hig.
  • Die Geschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet: Ein ehemaliger Polizeikommandant erzĂ€hlt die Ereignisse einem Krimischriftsteller.
  • Trotz seiner KombinationsfĂ€higkeit und RationalitĂ€t kann der Kommissar das Verbrechen nicht aufklĂ€ren. Der Zufall macht ihm einen Strich durch die Rechnung.
  • Dem Roman vorangegangen ist ein Drehbuch DĂŒrrenmatts, das unter dem Titel Es geschah am hellichten Tag verfilmt wurde und ein Happy End hatte.
  • Nach der Verfilmung nahm DĂŒrrenmatt den Stoff nochmals auf. FĂŒr die Romanversion schrieb er ein dĂŒsteres Ende.
  • Damit unterlĂ€uft Das Versprechen die formalen Gesetze des Kriminalromans: Der Roman ist zugleich Krimi und Antikrimi.
  • 2001 kam eine auf dem Roman basierende Hollywood-Produktion in die Kinos.
  • Im Unterschied zu seinen frĂŒheren Krimis sah DĂŒrrenmatt Das Versprechen nicht als reine Brotarbeit.
  • Zitat: „Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen.“

Zusammenfassung

„Er wird kommen, er wird kommen“

Ein Schriftsteller wird ins schweizerische Chur eingeladen, um einen Vortrag ĂŒber die Kunst des Krimischreibens zu halten. Die Stadt ist kalt, grau und unwirtlich, der Vortrag stĂ¶ĂŸt auf geringes Interesse, das Hotel wirkt abweisend und öde. Um sich zu trösten, trinkt er an der Bar ein paar Whiskys, wobei er Dr. H. kennenlernt, den ehemaligen Kommandanten der ZĂŒrcher Kantonspolizei. Dieser bietet dem Schriftsteller an, ihn am folgenden Tag in seinem Auto nach ZĂŒrich zu fahren.

„Ich warte, ich warte, er wird kommen, er wird kommen.“ (MatthĂ€i, S. 10)

Bei der Fahrt sind die beiden MĂ€nner zunĂ€chst schweigsam und mĂŒrrisch, die winterliche Landschaft ist starr und abweisend. Der Schriftsteller spĂŒrt die Nachwirkungen des Alkohols und döst immer wieder ein. An einer Tankstelle machen die beiden MĂ€nner halt. Auf einer Steinbank sitzt ein verwahrloster, vor sich hin stierender Mann, der nach Alkohol stinkt. WĂ€hrend er den Wagen volltankt, trinken die Reisenden einen Kaffee. Als sie zum Wagen zurĂŒckgehen, stĂ¶ĂŸt der Unbekannte plötzlich die Worte „Er wird kommen, er wird kommen“ hervor. WĂ€hrend der Weiterreise erzĂ€hlt der ehemalige Polizeikommandant dem Schriftsteller die Geschichte des Verwahrlosten, der noch neun Jahre zuvor sein fĂ€higster Mann gewesen sei: ein Ermittler, der nur fĂŒr seinen Beruf lebte und seine FĂ€lle mit unbestechlichem Rationalismus, bar jeden GefĂŒhls, löste. Mit 50 Jahren nahm dieser Kommissar namens Dr. MatthĂ€i eine Stelle in Jordanien an, wo er die Polizei reorganisieren sollte. Doch wenige Tage vor seiner Abreise sah er sich mit einem Mordfall konfrontiert, der seine routinierte professionelle Gelassenheit in bedingungslose Leidenschaft umschlagen ließ. Dr. H. beginnt zu erzĂ€hlen.

Ein Versprechen aus Mitleid

In einem Wald bei MĂ€gendorf in der NĂ€he von ZĂŒrich ist die Leiche der kleinen Gritli Moser gefunden worden. Die DrittklĂ€sslerin, die in einem Nachbardorf wohnte, ist einem Sexualdelikt zum Opfer gefallen – es ist bereits der dritte Mord an einem kleinen MĂ€dchen binnen fĂŒnf Jahren. VerdĂ€chtigt wird der Hausierer von Gunten, der sich Jahre zuvor an einer 14-JĂ€hrigen vergangen hat und deshalb vorbestraft ist. Von Gunten hingegen behauptet, er habe die Leiche lediglich gefunden. Die Tatsache, dass er danach sofort Alarm schlug, scheint fĂŒr seine Version zu sprechen. MatthĂ€i muss den Eltern des MĂ€dchens die schreckliche Nachricht ĂŒberbringen. Als er nach einem lĂ€ngeren Fußmarsch Gritlis Elternhaus erreicht, hackt Vater Moser gerade Holz. Er sieht, dass MatthĂ€i Gritlis Korb in der Hand hĂ€lt, und ahnt, dass seiner Tochter etwas zugestoßen sein muss. Der Polizist sagt den Eltern, was geschehen ist, wobei er der schockierten Mutter Moser bei seiner Seligkeit schwört, den Mörder zu finden.

Schneller Erfolg und große Zweifel

Bei seiner RĂŒckkehr ins Dorf muss er feststellen, dass die erzĂŒrnten Bauern den Abzug der Polizei und des verdĂ€chtigen Hausierers verhindern wollen und dabei vom GemeindeprĂ€sidenten zumindest passiv unterstĂŒtzt werden. Dieser weigert sich nĂ€mlich trotz MatthĂ€is Aufforderung, sich bei den Dorfbewohnern fĂŒr die Polizeibeamten einzusetzen. Eine von Minute zu Minute unruhiger werdende Menge blockiert die Straße und droht mit Lynchjustiz. Erst eine Rede MatthĂ€is, in der er auf die Unsicherheit der vorliegenden Indizien und die FragwĂŒrdigkeit der Selbstjustiz hinweist, bringt die Bauern zur Besinnung. Zögernd und widerwillig machen sie den Weg frei.

„Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen.“ (Dr. H., S. 12)

Der Hausierer von Gunten beteuert zwar hartnĂ€ckig seine Unschuld, doch die Indizien gegen ihn verdichten sich immer weiter: Gritli wurde mit einer Rasierklinge ermordet, und der Hausierer fĂŒhrt Rasierklingen in seinem Sortiment. An seinem Kittel findet die Polizei Blutspuren der Ermordeten und im Magen des MĂ€dchens Schokolade, wobei der VerdĂ€chtige zugeben muss, tatsĂ€chlich Schokolade auf sich gehabt zu haben. Die Blutspuren erklĂ€rt er damit, dass er ĂŒber das tote MĂ€dchen gestolpert sei. Nach stundenlangem Verhör bricht von Gunten jedoch zusammen und gesteht die Tat. Kurz darauf bringt er sich in seiner Zelle um.

„Unsere kriminalistischen Mittel sind unzulĂ€nglich, und je mehr wir sie ausbauen, desto unzulĂ€nglicher werden sie im Grunde. Doch ihr von der Schriftstellerei kĂŒmmert euch nicht darum.“ (Dr. H., S. 13)

Der Fall scheint gelöst, doch MatthĂ€i befallen Zweifel. Sein Instinkt sagt ihm, dass der Hausierer unschuldig war; er wirft sich vor, wĂ€hrend des harten Verhörs nichts fĂŒr ihn getan zu haben. Das Versprechen, das er Gritlis Mutter gegeben hat, legt sich wie ein Schatten auf sein Gewissen. Kurz bevor er nach Jordanien abfliegen soll, sieht er am Flughafen eine Kinderschar und wirft in letzter Sekunde seine PlĂ€ne ĂŒber den Haufen. Er will den wahren Schuldigen zur Strecke bringen. Doch seine ehemaligen Kollegen sind alles andere als erfreut ĂŒber diesen Entschluss. Sie werfen dem Beamten vor, einem Hirngespinst nachzujagen. Als sich der Polizeikommandant Dr. H. weigert, MatthĂ€i wieder ins Korps aufzunehmen, kĂŒndigt dieser an, die Ermittlungen auf eigene Faust weiterzufĂŒhren. Kurz darauf erfĂ€hrt Dr. H., dass sich der Charakter seines ehemals besten Mitarbeiters dramatisch verĂ€ndert habe: Er sei betrunken in verschiedenen Bars gesehen worden und habe zu rauchen begonnen. Dr. H. ruft einen Polizeipsychiater an und erfĂ€hrt zu seiner Überraschung, dass sich MatthĂ€i kurz zuvor selber um einen Termin bemĂŒht hat.

Der schwarze Mann, der Steinbock und die Igel

Zu Beginn seiner Ermittlungen kehrt MatthĂ€i nach MĂ€gendorf zurĂŒck, um eine von Gritlis Zeichnungen aus dem Klassenzimmer zu entwenden. Sie zeigt einen riesigen, schwarz gekleideten Mann, daneben ein schwarzes Auto, einige Igel und ein seltsames Tier mit Hörnern. Eine Schulfreundin von Gritli erzĂ€hlt dem Ermittler, dass sich das MĂ€dchen mit dem Riesen angefreundet habe. MatthĂ€i legt die Zeichnung dem Polizeipsychiater vor, der ihn auf Geheiß von Dr. H. eigentlich von seinem Wahn befreien soll. Die Zeichnung tut er zunĂ€chst als bloße Kinderfantasie ab, lĂ€sst sich dann aber doch zu ein paar Vermutungen ĂŒber den hypothetischen Kindsmörder hinreißen: Er sei möglicherweise ein geistig zurĂŒckgebliebener Mann, der von seiner Frau unterdrĂŒckt oder ausgebeutet werde und sich rĂ€che, indem er kleine MĂ€dchen ermorde. Der Widerstand gegen seinen Mordtrieb werde immer schwĂ€cher, weshalb sich die Zeitspanne zwischen den einzelnen Taten verkĂŒrze. Er werde sich auf öffentlichen PlĂ€tzen oder vor Schulen ein Opfer aussuchen, sich um dessen Vertrauen bemĂŒhen und es schließlich mit einer Rasierklinge umbringen.

„‚Versprechen Sie das?‘ – ‚Ich verspreche es, Frau Moser‘, sagte der KommissĂ€r, auf einmal nur vom Wunsche bestimmt, den Ort zu verlassen. ‚Bei Ihrer Seligkeit?‘ Der KommissĂ€r stutzte. ‚Bei meiner Seligkeit‘, sagte er endlich. Was wollte er anderes.“ (S. 26)

Auch Dr. H. ĂŒberkommen jetzt Zweifel an der Schuld des Hausierers, und er muss sich eingestehen, dass er MatthĂ€is HartnĂ€ckigkeit bewundert. Kurz darauf erfĂ€hrt der Polizeikommandant, dass sein ehemaliger Untergebener in der NĂ€he von Chur als Tankwart arbeitet und mit Frau Heller, einer ehemaligen Prostituierten, und deren kleiner Tochter Annemarie zusammenlebt. Die Tankstelle ist Ă€ußerst beliebt, vor allem bei ExhĂ€ftlingen, die vor Schadenfreude schier außer sich sind, wenn ihnen ein einstiger Polizist Benzin nachfĂŒllen und die Frontscheiben wischen muss. Dr. H. ahnt, dass all dies mit den Ermittlungen im Fall Gritli Moser zusammenhĂ€ngt, und er macht sich auf den Weg nach GraubĂŒnden, um seine Vermutung zu ĂŒberprĂŒfen. ZunĂ€chst ist MatthĂ€i abweisend, aber dann erklĂ€rt er sich: Das seltsame gehörnte Tier auf Gritlis Zeichnung sei ein Steinbock – das Wappentier GraubĂŒndens. Der Mörder lebe in diesem Kanton und auf seinem Weg nach ZĂŒrich mĂŒsse er zwangslĂ€ufig an der Tankstelle vorbeifahren. Die kleine Annemarie, die Gritli Moser Ă€hnlich sieht, soll den TriebtĂ€ter anlocken, ohne dass ihre Mutter oder sie selbst etwas davon ahnt. Dr. H. ist schockiert, kann jedoch seine Bewunderung fĂŒr die ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden nicht verhehlen.

Verzweifeltes Warten

MatthĂ€i arbeitet als Tankwart, bringt die kleine Annemarie in die Schule und wartet auf den Mörder, wochen- und monatelang. AllmĂ€hlich versinkt er in stumpfer Verzweiflung, sitzt oft wĂ€hrend Tagen rauchend und trinkend vor der Tankstelle, um sich irgendwann mĂŒhsam wieder aufzuraffen. Aber eines Tages kommt das MĂ€dchen nicht von der Schule zurĂŒck. MatthĂ€i findet es auf einer Lichtung. Es sagt ihm, es warte auf einen Zauberer. Als das Kind kurz darauf zugibt, dass ihm ein rĂ€tselhafter Fremder Schokolade geschenkt hat – und zwar igelförmige TrĂŒffel –, wird MatthĂ€i von einer gewaltigen Erregung erfasst: Schlagartig wird ihm klar, was die rĂ€tselhaften Igel auf Gritlis Zeichnung zu bedeuten haben. Es scheint, als hĂ€tte der Gesuchte endlich angebissen. MatthĂ€i sagt dem MĂ€dchen, der Unbekannte sei ein guter Zauberer und es solle ihn ruhig wieder aufsuchen. Annemarie umarmt ihn strahlend.

„Die Bauern waren zusammengeströmt. Sie hatten von Gunten entdeckt. Sie hielten ihn fĂŒr den TĂ€ter; Hausierer sind immer verdĂ€chtig.“ (S. 28)

Nun ist auch Dr. H. ĂŒberzeugt. In Begleitung mehrerer bewaffneter Polizisten eilt er nach Chur, um die Falle zuschnappen zu lassen. Annemarie erwartet auf der Lichtung ahnungslos singend den Zauberer und wird dabei von den versteckten Beamten keine Sekunde aus den Augen gelassen. Es vergeht ein Tag, es vergehen zwei Tage – nichts geschieht. Die MĂ€nner geben nicht auf, sie beobachten das MĂ€dchen weiterhin, doch in ihrer Erfolglosigkeit beginnen sie das Kind mit dem geschmacklosen roten Kleidchen, den ZahnlĂŒcken und dem hĂ€sslichen Mund geradezu zu hassen. Schließlich verlieren die MĂ€nner die Geduld, stĂŒrmen aus ihren Verstecken, umringen das Kind, schĂŒtteln es und fragen schreiend, auf wen es warte. Als MatthĂ€i versucht, Annemarie zu erklĂ€ren, dass ihr verehrter Zauberer in Wahrheit ein Mörder sei, antwortet sie nur: „Du lĂŒgst!“ Und als die Mutter von den wahren Absichten des Fahnders erfĂ€hrt, nennt sie ihn ein Schwein. Dr. H. beschließt, nach ZĂŒrich zurĂŒckzukehren, MatthĂ€i aber will weiterwarten. Der ehemalige Musterpolizist fĂ€llt im Lauf der Jahre dem Suff und dem Wahnsinn anheim. Frau Heller und Annemarie eröffnen eine armselige Kneipe und arbeiten daneben beide als Prostituierte. Dr. H. glaubt nun doch wieder an die Schuld des Hausierers, weil seit Jahren kein Lustmord an einem kleinen MĂ€dchen mehr geschehen ist.

„‚FrĂ€ulein‘, sagte er, ‚ich fliege nicht‘, und kehrte ins FlughafengebĂ€ude zurĂŒck, schritt unter der Terrasse mit der unermesslichen Schar der Kinder hindurch dem Ausgang zu.“ (ĂŒber MatthĂ€i, S. 67)

Nachdem Dr. H. dem Schriftsteller all dies erzĂ€hlt hat, kommen die beiden MĂ€nner in ZĂŒrich an, wo sie in der Kronenhalle essen gehen. Dr. H. malt sich aus, wie das Schriftstellerhirn seines Zuhörers die Geschichte wohl umformen wĂŒrde: etwa im Sinne von Vernunft und christlichem Glauben, wobei das Gute triumphieren wĂŒrde und es MatthĂ€i gelĂ€nge, den Mörder zu verhaften. Oder die Geschichte wĂŒrde nach den unvorhersehbaren Spielregeln eines absurden Schicksals enden: Der Ermittler könnte im Kampf einen Unschuldigen umbringen, den die Polizei jedoch aufgrund falscher Indizien fĂŒr den wahren TĂ€ter hielte – wonach MatthĂ€i als Genie gefeiert und in Ehren wieder in den Dienst aufgenommen wĂŒrde. Doch die RealitĂ€t sieht anders aus, wie Dr. H. nun erzĂ€hlt:

Das GestÀndnis einer Sterbenden

Jahre nach den geschilderten Ereignissen erfĂ€hrt Dr. H. durch einen Zufall, dass er tatsĂ€chlich nahe daran gewesen war, sein Ziel zu erreichen. Der Beamte wird ans Sterbebett der alten, reichen Frau Schrott gerufen, die der nahende Tod zu einem spĂ€ten GestĂ€ndnis drĂ€ngt. Zuerst redet die Frau nur wirres Zeug, und Dr. H. glaubt, sie wolle der Polizei eine Erbschaft anbieten. Er unterdrĂŒckt seine Ungeduld, wĂ€hrend der Pfarrer die Dame immer wieder auffordert, endlich mit ihrem GestĂ€ndnis herauszurĂŒcken.

„Dass Sie den Wahnsinn als Methode wĂ€hlen, mag mutig sein, das will ich gerne anerkennen, extreme Haltungen imponieren ja heute, aber wenn diese Methode nicht zum Ziel fĂŒhrt, fĂŒrchte ich, dass Ihnen dann einmal nur noch der Wahnsinn bleibt.“ (Psychiater, S. 95 f.)

Schließlich kommt sie zur Sache: Nach dem Tod ihres ersten Mannes habe sie ihren 32 Jahre jĂŒngeren Hausangestellten Albert geheiratet – aber nur, damit es kein Gerede gebe, weil in ihrem Haushalt ein Mann lebe. Eine Liebesbeziehung habe sie mit Albert niemals gehabt, schon wegen des Altersunterschieds nicht. Er sei immer anstĂ€ndig gewesen, habe Hausarbeiten verrichtet und abgesehen von „Ja, Mutti“ kaum etwas gesagt. Einmal jedoch sei er spĂ€tnachts blutverschmiert nach Hause gekommen und habe erzĂ€hlt, er habe einen Unfall gehabt. Am folgenden Morgen habe in der Zeitung gestanden, im St. Gallischen sei ein MĂ€dchen ermordet worden. Albert habe den Mord zugegeben und gesagt, eine Stimme vom Himmel habe ihm die Tat befohlen. Gleichzeitig habe er versprochen, so etwas nie wieder zu tun. Obwohl ihr das ermordete MĂ€dchen leidgetan habe, habe sie Albert nicht angezeigt.

„Ein MĂ€dchen können Sie doch nicht immer wie einen Köder in der NĂ€he der Straße halten, es muss doch auch zur Schule, es will doch auch fort von Ihrer verfluchten Landstraße.“ (Dr. H., S. 110)

Dasselbe sei dann in den folgenden Jahren noch zwei Mal passiert. Und irgendwann habe sie gemerkt, dass Albert wieder unruhig sei, spĂ€t nach Hause komme und jeweils SchokoladentrĂŒffel mitnehme – genau wie vor den Morden. Ihr Mann habe ihr dann gestanden, dass er wieder ein MĂ€dchen ausgespĂ€ht habe. Es lebe bei einer Tankstelle, er treffe es regelmĂ€ĂŸig und schenke ihm Schokolade. Die Stimme befehle ihm, neuerlich einen Mord zu begehen. Frau Schrott erzĂ€hlt, sie habe ihrem Albert daraufhin verboten, zur Tankstelle zu fahren. Doch dieser sei zum ersten Mal in ihrer Ehe wĂŒtend geworden und habe geschrien, sie behandle ihn wie einen nichtswĂŒrdigen Hausknecht. In seinem schwarzen Auto sei er mit SchokoladetrĂŒffeln und Rasiermesser in Richtung Tankstelle davongebraust. Eine Viertelstunde spĂ€ter habe sie die Nachricht erhalten, ihr Mann sei mit einem Lastwagen zusammengestoßen und ums Leben gekommen.

„So wartete er denn. Unerbittlich, hartnĂ€ckig, leidenschaftlich.“ (ĂŒber MatthĂ€i, S. 112)

Nach diesem GestÀndnis geht der Polizeikommandant nach Chur, wo er dem bereits völlig verkommenen MatthÀi von der ErzÀhlung der alten Dame berichtet. Doch dieser ist nicht mehr in der Lage, aus seiner Wahnwelt auszubrechen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Roman hat eine Rahmen- und eine Binnenhandlung: Die Rahmenhandlung schildert das Zusammentreffen zwischen dem Schriftsteller und dem ehemaligen Polizeikommandanten Dr. H. Die Binnenhandlung, die dem Schriftsteller von Dr. H. erzĂ€hlt wird, beschreibt die neun Jahre zurĂŒckliegenden Ereignisse um Gritli Mosers Ermordung sowie MatthĂ€is Ermittlung und sein Versinken im Wahnsinn. Der entscheidende Wendepunkt findet statt, als der Kommissar auf dem Flughafen seine PlĂ€ne ĂŒber den Haufen wirft und auf seine Laufbahn in Jordanien verzichtet. Zeichnete er sich zuvor durch emotionslose NĂŒchternheit aus, so ist er nun leidenschaftlich und verbissen. Sein Kontrollverlust wird – vielleicht etwas zu plakativ – durch die Tatsache illustriert, dass er von einem Tag auf den anderen zu trinken und zu rauchen beginnt. DĂŒrrenmatts Sprache ist geradlinig, schmucklos und unprĂ€tentiös. Auffallend sind die zahlreichen atmosphĂ€risch dichten Beschreibungen von Natur und WetterverhĂ€ltnissen, die den Gang der Ereignisse oder die GemĂŒtsverfassung der Figuren illustrieren. FĂŒr DĂŒrrenmatt scheint die Sprache mehr Werkzeug fĂŒr die Vermittlung von Handlungen und Gedanken als eigenstĂ€ndiges Spielzeug zu sein. Genau dies lĂ€sst er Dr. H. dem Kriminalschriftsteller zu Beginn des Romans auch deutlich sagen: „Lasst die Vollkommenheit fahren, wollt ihr weiterkommen, zu den Dingen, zu der Wirklichkeit, wie es sich fĂŒr MĂ€nner schickt, sonst bleibt ihr sitzen, mit nutzlosen StilĂŒbungen beschĂ€ftigt.“

InterpretationsansÀtze

  • Das Versprechen gehört zwar zum Genre des Kriminalromans, zugleich jedoch demontiert das Buch dessen Gesetze und fĂŒhrt sie ad absurdum: Die Logik des Kommissars, obwohl vollkommen korrekt, fĂŒhrt hier nicht zur AufklĂ€rung des Verbrechens. MatthĂ€i muss erfahren, dass seine rationalistische Weltsicht ein Irrtum ist.
  • Der Wirklichkeit ist mit menschlicher Logik und kriminaltechnischem Sachverstand nicht beizukommen. Das oberste, die RealitĂ€t beherrschende Prinzip ist fĂŒr DĂŒrrenmatt der Zufall, der in seiner Unvorhersehbarkeit jede Planung zunichtemachen kann.
  • Mit dem Untertitel „Requiem auf den Kriminalroman“ macht DĂŒrrenmatt deutlich, dass er das Grundprinzip der AufklĂ€rung eines Verbrechens in der herkömmlichen Detektivliteratur fĂŒr ĂŒberholt hĂ€lt. Das Versprechen ist darum zugleich Krimi und Antikrimi.
  • Der Roman enthĂ€lt zahlreiche literarische Anspielungen, indem er zum Beispiel Motive aus den Werken Becketts, Edgar Allan Poes und George Simenons aufgreift und teilweise verfremdet. Deutlich sind auch die BezĂŒge zur literarischen Tradition des MĂ€rchens, vor allem zu RotkĂ€ppchen.
  • Die Grenze zwischen Gut und Böse erweist sich als durchlĂ€ssig: Der Mörder ist im Grunde genommen ein bedauernswertes psychisches Wrack, das von seiner reichen und gewissenlosen Ehefrau ausgebeutet wird. Die Ermittlungsmethoden MatthĂ€is sind moralisch fragwĂŒrdig, genauso wie die Bereitschaft der einfachen und aufrechten MĂ€gendorfer Bauern, einen Akt von Lynchjustiz zu begehen.

Historischer Hintergrund

Die Schweiz in den 50er-Jahren: Wohlstand, Behaglichkeit, Verfilzung

Das Versprechen erschien Ende der 50er-Jahre, zu einer Zeit, als die Erinnerung an die Apokalypse des Zweiten Weltkriegs durch einen fiebrigen Wirtschaftsaufschwung in den Hintergrund gedrĂ€ngt wurde und sich mit dem Kalten Krieg eine neue, diesmal atomare Katastrophe als mögliches Schreckensszenario abzeichnete. In der von Hitlers Weltmachtstreben verschonten Schweiz bildete sich in diesem und im folgenden Jahrzehnt jene geistige Grundstimmung aus, die die linke Intelligenz des Landes – neben DĂŒrrenmatt etwa Max Frisch, Niklaus Meienberg und Paul Nizon – pausenlos kritisieren und schließlich erfolgreich demontieren sollte: der Mythos von der unbefleckten NeutralitĂ€t und der rettenden Macht der Schweizer Armee, die Behaglichkeit inmitten des wachsenden Wohlstands, die zwischen militĂ€rischer, wirtschaftlicher und konservativer politischer Elite wuchernde Verfilzung. „Zu unserem Davonkommen gehört die Schuld; gerade hier erweist sich die Schweiz als klein, kleiner noch als auf der Landkarte“, schrieb DĂŒrrenmatt in seinem Essay Zur Dramaturgie der Schweiz.

Auch im Versprechen sind Motive der traditionellen Kritik an der Schweiz, an Konsumismus und Wohlstandsliebe vorhanden: Da ist zum Beispiel die Schilderung der „monströsen, sinnlosen Unruhe“, die die „ganze Ostschweiz“ wegen eines Autorennens erfasst. Oder die autoritĂ€re Selbstgerechtigkeit, mit der die Polizisten den verdĂ€chtigen Hausierer behandeln. Oder die Entlarvung einer – typisch schweizerischen – bĂ€uerlich-dörflichen Idylle, in deren Mitte sich von einem Moment zum anderen der Funke der Lynchjustiz entzĂŒndet.

Entstehung

WĂ€hrend DĂŒrrenmatts frĂŒhere Kriminalromane Der Richter und sein Henker (1952) und Der Verdacht (1953) nach Angaben des Autors reine Brotarbeiten zur Überwindung einer finanziell schwierigen Situation waren, entstand Das Versprechen (1958) zu einer Zeit, als sich DĂŒrrenmatt als Dramatiker etabliert hatte und keine Geldsorgen mehr hatte.

Die Keimzelle des Romans ist ein Drehbuch, das DĂŒrrenmatt im Auftrag des Filmproduzenten Lazar Wechsler anfertigte und das unter dem Titel Es geschah am hellichten Tag verfilmt wurde. Als Thema war „Sexualverbrechen an Kindern“ vorgegeben, der Film sollte eine aufklĂ€rerisch wirkende Warnung sein. Im Unterschied zum spĂ€ter verfassten Roman endet der Film deshalb mit einem Happy End: Die Rechnung des Detektivs geht auf, der Mörder wird unschĂ€dlich gemacht. Laut DĂŒrrenmatt greift Das Versprechen die Handlung des Films zwar auf, entwickelt sie jedoch weiter, jenseits aller volkspĂ€dagogischen Absichten. Der Roman erschien vom 5. bis 28. August 1958 als Vorabdruck in der Neuen ZĂŒrcher Zeitung und noch im selben Jahr im ZĂŒrcher Verlag Die Arche.

Wirkungsgeschichte

Das Versprechen stand stets im Schatten von DĂŒrrenmatts bekannteren Kriminalromanen Der Richter und sein Henker und Der Verdacht. Dennoch wurde er von der zeitgenössischen Kritik alles in allem mit Zustimmung aufgenommen. Der österreichische Schriftsteller Peter Handke notierte nach der LektĂŒre des Werks, er habe das BedĂŒrfnis, sich beim Autor „fĂŒr den Entwurf eines nicht den Tatsachen gehorchenden Lebens“ zu bedanken. Der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Kritiker Walter Jens bezeichnete das Buch als großen Roman, der vor Intelligenz, Realismus und Fantasie nahezu berste.

Eine nachhaltige Wirkung hatte die Geschichte vom Kommissar und dem Kindermörder durch die Ă€ußerst erfolgreiche Verfilmung Es geschah am hellichten Tag. Dessen Produktion war jedoch von zahlreichen Widrigkeiten begleitet. ZunĂ€chst lehnte der vorgesehene Regisseur das Angebot ab, danach gab es Streit um den Titel: DĂŒrrenmatt war mit Es geschah am hellichten Tag nicht einverstanden, seine eigenen VorschlĂ€ge – Gott schlief am Vormittag und Schrott geht bummern – stießen wiederum bei den Geldgebern des Projekts auf Ablehnung. Der Beginn der Dreharbeiten verzögerte sich so lange, dass schließlich auch der Ersatzregisseur und der als Hauptdarsteller vorgesehene Schauspieler verzichten mussten. So wurde das Projekt unter der Leitung von Ladislao Vajda in Angriff genommen; Kommissar MatthĂ€i wurde vom bekannten deutschen Schauspieler Heinz RĂŒhmann gespielt, die Rolle des ebenso kindlich wie bedrohlich auftretenden Mörders ĂŒbernahm Gert Fröbe. Obwohl DĂŒrrenmatt vom Resultat der Verfilmung alles andere als begeistert war, reiste er 1958 gemeinsam mit seiner Frau nach Berlin, um das Werk an den Filmfestspielen vorzustellen. Der Stoff wurde noch weitere Male verfilmt, etwa 1997 in Deutschland unter der Regie von Bernd Eichinger. Aus dem Jahr 2001 stammt eine Hollywood-Produktion mit hochkarĂ€tiger Besetzung: Regisseur von The Pledge war Sean Penn, den Ermittler spielte Jack Nicholson.

Über den Autor

Friedrich DĂŒrrenmatt wird am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Schweizer Kanton Bern geboren. Sein Vater ist protestantischer Pfarrer. In Bern besucht DĂŒrrenmatt das Freie Gymnasium und das Humboldtianum, 1941 legt er die Matura ab. Er ist bestenfalls ein mittelmĂ€ĂŸiger SchĂŒler und bezeichnet die Schulzeit spĂ€ter als die ĂŒbelste Phase seines Lebens. In Bern und ZĂŒrich studiert er Philosophie, Literatur- und Naturwissenschaften. Seinen eigenen biografischen Schriften zufolge fĂŒhrt er das Leben eines verkrachten Studenten. 1946 zieht er nach Basel, ein Jahr spĂ€ter heiratet er die Schauspielerin Lotti Geissler, mit der er drei Kinder hat. 1947 wird sein erstes TheaterstĂŒck Es steht geschrieben uraufgefĂŒhrt. Aus Geldnot verfasst DĂŒrrenmatt Anfang der 50er-Jahre seinen wohl bis heute bekanntesten Kriminalroman Der Richter und sein Henker (1950/51), es folgen Der Verdacht (1951/52) und Das Versprechen (1958). Die TheaterstĂŒcke Die Ehe des Herrn Mississippi (1952) und Ein Engel kommt nach Babylon (1953) machen ihn einem breiten Publikum bekannt, die Dramen Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1962) begrĂŒnden seinen Weltruhm. Ab 1952 lebt der Schriftsteller in einem eigenen Haus bei NeuchĂątel. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet DĂŒrrenmatt 1984 die Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr. Wechselvoll ist sein VerhĂ€ltnis zur zweiten großen Figur der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts, Max Frisch. Die anfĂ€ngliche Freundschaft schlĂ€gt in gegenseitiges Ressentiment um, das auf persönlicher Antipathie und literarischen Differenzen beruht. DĂŒrrenmatt erhĂ€lt im Lauf seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Georg-BĂŒchner-Preis. Sein literarisches Werk ist Ă€ußerst vielfĂ€ltig: Neben TheaterstĂŒcken und Romanen umfasst es Hörspiele, Essays, ErzĂ€hlungen, VortrĂ€ge sowie autobiografische, literatur- und theatertheoretische Schriften. Daneben arbeitet DĂŒrrenmatt zeitweise als Regisseur und stĂ€ndig als Maler und Zeichner. Er stirbt am 14. Dezember 1990 in NeuchĂątel an einem Herzinfarkt.

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