Oscar Wilde
De profundis
Epistola: in carcere et vinculis
Diogenes Verlag, 1986
Was ist drin?
Oscar Wildes buchlanger Brief aus dem Gefängnis ist die Abrechnung mit einer verhängnisvollen Affäre und der Versuch einer seelischen Läuterung durch Leid.
- Autobiografie
- Fin de siècle
Worum es geht
Ein Gefängnisbrief
De profundis ist ein Aufschrei aus dem Kerker. Der schillernde Dandy und gefeierte Theaterautor Oscar Wilde wurde auf dem Höhepunkt seines Ruhms wegen homosexueller Beziehungen zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Anfang 1897, schon gegen Ende der Haft, schrieb er sich mit einem Brief an den ehemaligen Geliebten Lord Alfred Douglas die Verzweiflung vom Leib. Der Brief wurde später unter dem Titel De profundis veröffentlicht. Wilde rechnet schonungslos mit Douglas ab und wirft ihm – während er die fatale Beziehung noch einmal Revue passieren lässt – Herzlosigkeit, Verschwendungssucht, Egozentrik und Fantasielosigkeit vor. Dann schwenkt er vom Gestern aufs Heute und versucht seinem harten Leben im Gefängnis etwas Gutes abzugewinnen: Er habe dort Demut und das Leiden gelernt. Beide Erfahrungen, die er zu früheren Zeiten als Liebling der Gesellschaft wohl gering geschätzt hätte, erscheinen ihm nun essenziell und zur Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit unverzichtbar. Bis zum Schluss ist der Text von tiefem Groll und hilfloser Liebe zu Douglas geprägt. Dabei geht er in Ton und Umfang weit über die briefliche Form hinaus. Obwohl unausgewogen und gedanklich gewagt, ist Wildes Werk ein bewegendes persönliches Bekenntnis und ein bewundernswertes Stück Selbstbehauptung.
Take-aways
- Zwischen 1895 und 1897 verbrachte Oscar Wilde zwei Jahre in Haft. Dort schrieb er mit De profundis sein ungewöhnlichstes Werk.
- Ein homosexuelles Verhältnis – damals noch strafbar – war Wilde zum Verhängnis geworden.
- De profundis (= Aus der Tiefe) ist als Brief abgefasst und richtet sich an Wildes ehemaligen Geliebten Lord Alfred Douglas.
- Im Gefängnis musste Wilde erfahren, dass Douglas, der ihm seit dem Strafantritt kein einziges Mal geschrieben hatte, Auszüge von Wildes Briefen veröffentlichen wollte.
- Wilde wirft Douglas Undankbarkeit und Egoismus vor. Außerdem habe er ihn zu einem verschwenderischen, künstlerisch unproduktiven Lebensstil gezwungen.
- Trotzdem beschließt er, an seiner Liebe zu ihm festzuhalten.
- Auch Douglas sei ein Opfer: Der Hass auf seinen Vater habe ihn blind gemacht, und seinem ausschweifenden Leben sei er weder geistig noch emotional gewachsen gewesen.
- Wilde selbst, einst die gefeierte Symbolfigur des Dandyismus, entdeckt im Gefängnis die Demut.
- Er vergleicht sich mit Jesus, der die Sünde als Weg zur Vollendung und die Reue als Weihung der Seele betrachtet habe.
- Am Briefende hofft er auf ein Wiedersehen mit Douglas: Vielleicht könne er ihn nicht nur die Freuden des Lebens, sondern auch den Sinn des Leids lehren.
- De profundis ist mehr als ein privater Brief: Wildes Analyse der eigenen Wandlung scheint an ein größeres Publikum gerichtet.
- Das Buch hat klare künstlerische Schwächen – und ist zugleich das beeindruckende Dokument einer literarischen Selbstvergewisserung.
Zusammenfassung
Eine verhängnisvolle Affäre
Die Niederschrift des Briefes an Lord Alfred Douglas beginnt nach mehr als eineinhalb Jahren Haft des Verfassers und nach langem, vergeblichen Warten auf eine Nachricht des ehemaligen Geliebten. Der Schmerz und die Enttäuschung über dessen Schweigen sind groß, aber die Zeit der gegenseitigen Zuneigung ist trotzdem nicht vergessen. „Bosie“, so der Spitzname des Adressaten, soll sich durch das Folgende nicht angegriffen fühlen, sondern seine Eitelkeit besiegen und sein Herz öffnen. Nur so wird er zur bitter nötigen Selbsterkenntnis fähig sein.
„Nachdem Du mein Genie, meine Willenskraft und mein Vermögen in Beschlag genommen hattest, verlangtest Du in blinder, unersättlicher Gier meine ganze Existenz. Und nahmst sie.“ (S. 20)
Beklagenswert ist, dass die Beziehung zu Douglas keinen geistigen Mehrwert hatte und den Künstler zur Unproduktivität verurteilte. Douglas’ eindimensionale Vergnügungssucht hat Wildes schöpferische Fantasie gelähmt. Im Übrigen ist die eitle Fixierung des Adressaten auf kostspielige Extravaganzen immer maßloser und zugleich immer undankbarer geworden. Auf mehr als 5000 £ sind Wildes Aufwendungen für den gemeinsam gepflegten Lebensstil zu veranschlagen, den er allein zu finanzieren hatte. Am Ende hat Douglas seinen Willen gebrochen und ihn in eine Tyrannei des Schwachen über den Starken gezwungen.
Marionette des Bösen
Eine Trennung wäre das Beste gewesen. Doch Wilde hatte die Beziehung schon mehrfach beendet – und Douglas jedes Mal wieder vergeben. Ein Fall ist besonders stark in Erinnerung: Erst erkrankte Douglas, dann Wilde an Grippe; doch während Wilde sich liebevoll um den Geliebten kümmerte, ließ dieser ihn später schnöde im Stich und ging ungerührt weiter auf Vergnügungsjagd. Abermals schwor sich Wilde damals, mit Douglas für immer zu brechen. Doch ein überraschender Todesfall in dessen Familie ließ sein Herz aufs Neue erweichen.
„Hass macht die Menschen blind. Das merktest Du nicht. Liebe kann die Inschrift auf dem fernsten Stern entziffern, doch der Hass blendete Dich so sehr, dass Du über den engen, ummauerten und wolllustwelken Garten Deiner niederen Gelüste nicht hinwegsahst.“ (S. 52)
Die tragische Freundschaft der beiden hatte damit begonnen, dass Douglas Wilde in einer delikaten Angelegenheit um Hilfe gebeten, diese auch erhalten hatte und daraufhin dem berühmten Autor ein eigenes Gedicht zur Begutachtung vorlegte. Wildes Antwortbrief, voll stilisierten, übertriebenen Lobes, endete schließlich Jahre später als Beweisstück im Strafprozess – ein Indiz für die „Verführung der Unschuld“. In einem weiteren bitteren Schicksalsschlag führte ein teures Weihnachtsgeschenk, das Douglas nicht einmal besonders begeisterte, zu Wildes Bankrott und der Pfändung seiner gesamten Bibliothek. Im Rückblick erscheint Douglas fast wie eine Marionette des Bösen, die nur auf das Unglück ihres Partners aus war. Aller Luxus, den Wilde dem Jüngeren pausenlos bot und bezahlte, wurde lediglich verschlungen, nie gewürdigt. So verkehrte sich ein Leben, das Wilde gern als Lustspiel erfahren hätte, in eine abstoßende Tragödie.
Das schlimmste Laster: Seichtheit
Trotzdem muss Douglas Wilde geliebt haben – wenigstens mehr als jeden anderen Menschen. Allerdings ist in Douglas’ Herz der Hass – vor allem auf den Vater – immer das stärkere Gefühl gewesen. Mit fatalen Folgen: Während die Liebe sich von der Fantasie nährt und den Menschen veredelt, macht der Hass ihn blind und unersättlich. Im Prozess ist Wilde im Grunde ein Opfer des gegenseitigen Hasses von Vater und Sohn geworden. Auf die nachträgliche Einsicht des Adressaten und auf läuternde Scham kann man nur hoffen. Douglas soll das Geschehene wirklich begreifen. Sonst ist er dem schlimmsten Laster ausgeliefert, der Seichtheit.
„Doch ich sagte mir: ,Um jeden Preis muss ich in meinem Herzen die Liebe bewahren. Wenn ich ins Gefängnis gehe ohne Liebe, was soll aus meiner Seele werden?‘“ (S. 62)
Wahrscheinlich werden die Worte dieses Briefs bei Douglas auf taube Ohren stoßen. Doch sei’s drum, um jeden Preis gilt es, sich im Gefängnis die Liebe zu bewahren – um der Liebe selbst willen, aber auch für das eigene seelische Gleichgewicht. Und dies, obwohl Douglas diese Liebe eigentlich nicht verdient und auf Dauer mehr die Züge eines Feindes getragen hat als die eines Liebenden. Am Anfang seiner Gefängniszeit hat Wilde beschlossen, auch in Douglas einen Leidenden zu sehen, der von Reue und Schuldgefühlen geplagt ist. Dann allerdings hat er erfahren, dass der ehemalige Geliebte in einer literarischen Zeitschrift Teile aus Wildes Briefen abdrucken wollte. Seine Bestürzung nahm noch einmal zu, als ihm klar wurde, dass es sich dabei um Briefe aus den ersten Hafttagen handelt. Stumpfsinn, Egoismus und Eitelkeit sind es offenbar, die Douglas leiten.
Die Entdeckung der Demut
Seit den ersten Enttäuschungen der Gefangenenzeit ist inzwischen mehr als ein Jahr vergangen. Der Fluss des Lebens ist ins Stocken geraten, eine nicht enden wollende „Jahreszeit des Grams“ ist angebrochen. Wildes Mutter ist gestorben, und Douglas hat keine Beileidsnote geschickt. Voller Ekel nahm Wilde bald darauf zur Kenntnis, dass der frühere Geliebte ihm ungefragt einen Band mit eigenen Gedichten widmen wollte – ein unerhörter, nicht hinzunehmender Vorgang, der ebenso empörend ist wie Douglas’ andauerndes, herzloses Schweigen. Schließlich wurde Wilde per Gerichtsbeschluss auch noch das Sorgerecht für seine zwei Kinder entzogen. Auf Mitleid von Douglas ist nicht zu rechnen, dessen Fantasielosigkeit verhindert das. Trotzdem muss man ihm vergeben: um die eigene, das Herz schwer belastende Bitterkeit zu überwinden.
„Ich schreibe diesen Brief nicht, um Bitternis in Dein Herz zu senken, sondern um sie aus dem meinen zu reißen.“ (S. 89)
Wildes Werdegang ist beeindruckend: Er war die künstlerische Symbolfigur seiner Zeit, genial in vielerlei Hinsicht, intellektuell wie stilistisch brillant und zu Recht von allen verehrt. Auf das Spiel mit Kontrasten gepolt, suchte er, der Dichter im Höhenflug, am Ende bewusst das Niedrige und fand Gefallen an der Perversion. Das verdarb ihm den Charakter, führte zum Kontrollverlust und schließlich in die Schande. Nun, nach fast zwei Jahren Kerker und endlosem Leid, hat er etwas Überraschendes in der Tiefe seines Herzens entdeckt: die Demut. Sie erscheint wie der wertvolle Rest seiner Seele und zugleich wie der erste Schritt in ein neues Leben. Plötzlich verliert die Mittellosigkeit ihren Schrecken. Der innere Wandel bleibt freilich ein riskanter Prozess, den man als Individualist durchstehen muss, ohne feigen Rückzug in die Religion, zur Moral oder in den Vernunftglauben.
Das Leid und dessen Leitfigur
Alles erfahrene Leid muss bejaht werden, als notwendiges Erlebnis für die Seele. Man darf die Demütigungen des Gefängnisalltags nicht von sich weisen, sonst hemmt man die eigene Entwicklung. Der inneren Vervollkommnung zuliebe darf man sich seiner Strafe nicht mehr schämen. Bei der Einlieferung ins Gefängnis wollte Wilde noch sterben, später beherrschte ihn der Zorn, dann die Melancholie. Jetzt macht sich eine neue Heiterkeit breit. Das Leid hat sich als Geheimnis des Lebens offenbart. Früher glaubte er, dass alles menschliche Leid Gottes fehlende Anteilnahme beweise. Doch in Wirklichkeit sorgt wohl eine liebende Instanz für das irdische Leid – denn dem Leid entspringt die Schönheit der Seele. Ein Künstler muss schon deshalb voller Demut jede Erfahrung bejahen, weil er sein ganzes Leben der Entwicklung des eigenen Ich widmet.
„Ich war ein Mann, der Kunst und Kultur seiner Zeit symbolisierte. Ich selbst hatte das schon an der Schwelle meines Mannesalters erkannt, und später zwang ich die ganze Welt, es zu erkennen.“ (S. 90)
In dieser Hinsicht ist das Leben des Künstlers dem Leben Jesu Christi vergleichbar. Christus war nicht nur ein Vorläufer der romantischen Bewegung; sein Wesen gründet auch, wie das des Künstlers, auf einer außerordentlichen Fantasie. Darüber hinaus kann er als Erster unter den Liebenden gelten und als der größte Individualist. Wilde ist erst mit dem schlimmsten Schicksalsschlag auf den Grund seiner Seele vorgestoßen. Die Demut, die er dort fand, hat ihn jene kindliche Einfalt gelehrt, die Christus den Menschen abgefordert hat. Die Kunst und die Fantasie der Künstler mag die Menschen erheblich bereichert haben. Doch Jesus’ Vorstellungskraft ging wesentlich weiter. Sein universelles Mitleid machte ihn zum Fürsprecher der Sprachlosen und Leidenden, und mithilfe seiner Künstlernatur machte er sich schließlich selbst zum leibhaftigen Bild des Schmerzes.
Das schreckliche Ende als wunderbarer Anfang
Der klassischen Kunst, die sich äußeren, vorgegebenen Regeln verdankt, steht die romantische Kunst gegenüber, die sich aus inneren Impulsen, aus der Intuition speist. Da Jesus „sich selbst aus seiner eigenen Fantasie“ schuf, ist er für immer die zentrale Gestalt der Romantik. Christus hat die Fantasie als eine Form der Liebe begriffen, und diese wiederum ist die Verkörperung Gottes. Jesus liebte die Unwissenden, denn in ihnen war stets Raum für eine große Idee. Die Dummen mochte er dagegen nicht, noch weniger die Verdummten und am allerwenigsten die Philister in ihrer billigen Selbstzufriedenheit und trügerischen Rechtgläubigkeit. Deren weltlicher Macht stellte er den alleinigen Wert des Geistes gegenüber, ihrem regelstarren Tagwerk das kontinuierlich sich erneuernde Dasein. Neben dem Leiden sah Christus auch die Sünde als einen Weg zur Vollendung an – denn die Reue der Seele ist zugleich ihre Weihung. Womöglich muss man sogar ins Gefängnis gehen, um das zu begreifen.
„Mir bleibt nur noch eines, äußerste Demut: genau wie Dir nur noch eines bleibt, äußerste Demut. Wirf Dich in den Staub und lerne sie an meiner Seite.“ (S. 91)
Für den Fall einer Rückkehr zur künstlerischen Arbeit nach der Entlassung aus dem Gefängnis kommen nur zwei Themen infrage. Erstens: „Die Rolle Christi als Vorläufer der romantischen Bewegung.“ Zweitens: „Das Leben des Künstlers und wohin es führt.“ Im Gegensatz zu praktischeren Naturen, die eine bestimmte Karriere anzustreben in der Lage sind, ist der Künstler im Grunde auf Selbstverwirklichung aus und weiß deshalb nie genau, wohin er geht. Dieser Wille zur Selbsterkenntnis ist die erste Stufe des Wissens. Auf der letzten jedoch erkennt man, dass die Menschenseele unerforschlich ist. Am Anfang seiner Haftzeit hat Wilde sich verzweifelt gesagt: Was für ein schreckliches Ende! Nun, gegen Ablauf der Haft, muss es lauten: Was für ein wunderbarer Anfang!
Zu wenig Herz, Verstand und Fantasie
Muss man ein besserer Mensch werden? Nein, wohl aber ein tieferer. Als vom Leid geprüfte und zum Mitleid befähigte Seele ist man nah herangerückt an Gottes Geheimnis. Als Künstler muss man fortschreiten, aus innerer Notwendigkeit. Im Übrigen verdankt sich das Verderben des Inhaftierten keinem Übermaß, sondern einem Mangel an Individualismus. Wilde hätte sich nie dazu hinreißen lassen dürfen, Douglas’ Vater zu verklagen. Dass Douglas ihn dazu getrieben hat, bedeutete den Einzug der Philisterei in ein Leben, das damit nie etwas zu tun haben wollte.
„Ich muss versuchen, jede einzelne Demütigung des Leibes zu einem Erlebnis der Seele zu machen.“ (S. 96)
Gott sei Dank, dass er Wilde neben Douglas noch andere, bessere Freunde beschert hat. Im Grunde müsste Douglas sich glücklich schätzen, wenn Wildes wahre Freunde ihn auch nur den Schmutz ihrer Schuhe küssen ließen. Unglücklicherweise hat wohl auch Douglas’ Mutter zur moralischen Verkommenheit ihres Sohnes beigetragen, denn sie wagte es nie, ihm wirklich ins Gewissen zu reden. Stattdessen bat sie Wilde brieflich, doch bitte positiven Einfluss auf ihren Sohn auszuüben. Wilde allerdings musste sich geschlagen geben, er konnte auf Douglas keinerlei Einfluss nehmen. Denn dazu waren dessen Herz, Verstand und Fantasie schlicht zu wenig ausgebildet. Nur für Sentimentalitäten war er zu haben, geliehene Gefühle also, deren wahren Wert und wahre Kosten er nicht kannte.
„Ja, Christi Platz ist bei den Dichtern. Sein Menschheitsbild entsprang direkt seiner Vorstellungskraft und kann nur durch sie verwirklicht werden.“ (S. 112)
Überhaupt lag darin das große Missverhältnis der einstigen Freundschaft: Douglas drängte sich in ein Leben, dessen geistige Umlaufbahn für den winzigen Radius seiner Vorstellungskraft bei Weitem zu groß war. Die Tragödie, die er ins Rollen brachte, konnte er selbst gefühlsmäßig gar nicht erfassen. Wie Rosenkranz und Güldenstern in Shakespeares Hamlet begriff er nichts von den großen Leidenschaften, die um ihn herum zum Ausbruch kamen. Er hat ein kostbares Leben in seinen Händen gehalten wie ein komplexes Spielzeug, dem er nicht gewachsen war, – und es schließlich zerbrochen.
Die Liebe vermag Ungeheures
Wie mag ein künftiges Wiedersehen mit Bosie verlaufen? Wilde will zunächst mit zwei anderen Freunden in ein ausländisches Fischerdorf ziehen. Das Meer soll bei der Suche nach dem Mystischen in Leben, Kunst und Natur helfen. Nach Ablauf eines Monats kann es dann zu einem sorgfältig vorbereiteten Treffen kommen. Zwar trennt sie beide der Abgrund des Leids, doch die Demut und die Liebe vermögen Ungeheures. Womöglich steht ihnen nun erst bevor, sich endlich wahrhaftig kennenzulernen. Vielleicht ist es Wilde sogar aufgetragen, Douglas nicht nur die Freuden des Lebens, sondern auch den Sinn und die Schönheit des Leids zu lehren. Mit dieser Überlegung endet der Brief. Unterzeichnet ist er mit „Dein Dich liebender Freund Oscar Wilde“.
Zum Text
Aufbau und Stil
De profundis ist als persönlicher Brief an Oscar Wildes ehemaligen Geliebten Lord Alfred Douglas verfasst, geht aber in seinem Anspruch und in seiner Länge weit über das Briefformat hinaus. Das ganze Werk ist von einer Art doppelten Stimmlage durchzogen. Wilde richtet sein Schreiben eindeutig – und eindringlich – an seinen Adressaten. Zugleich schlägt er jedoch einen Ton an, der nach einer weiteren Öffentlichkeit ruft. Diese strukturelle Gespaltenheit erklärt sich durch Wildes verzweifelte Lage: Einerseits empfand er es als existenziell notwendig, seinem ehemaligen Partner eine Revision der gemeinsamen Vergangenheit vorzulegen. Andererseits bot ihm dieser Rückblick auch Gelegenheit zu einem Rechenschaftsbericht vor sich selbst: Vom äußeren Unglück ausgehend, leitet er über zur Selbstanalyse und nutzt die Hafterfahrung schließlich zum Entwurf einer neuen Selbstdefinition. Diese Fusion mehrerer Motive führt dazu, dass das Buch sich grob in drei Abschnitte gliedern lässt, wobei Wilde allerdings keine expliziten Unterteilungen vorgenommen hat. De profundis ist damit alles andere als ein ausgewogenes Werk. Leidenschaftlich, voller Zorn und enttäuschter Liebe stürzt sich Wilde auf Douglas und auf die Scherben seines Daseins. Und doch verzichtet er bei aller Wut und Anklage nicht auf formalen Schliff. Wilde mag im Gefängnis die Demut entdeckt haben; in der rhetorischen Brillanz und den argumentativen Schnörkeln des Textes steckt jedoch der selbstverliebte, intellektuelle Stilist von früher.
Interpretationsansätze
- Vor allem anderen ist De profundis eine persönliche Abrechnung. Das anhaltende Interesse an diesem Werk hängt unmittelbar mit der Anteilnahme an Oscar Wildes realem Schicksal zusammen: an einem furchtbaren Skandal, dessen dramatische Details noch heute überraschen und bewegen.
- Wilde verknüpft die Abrechnung mit einer bitteren Selbstanklage. Diese mündet in den Versuch einer Läuterung. Wilde, der die Haft zunächst als sinnlos und ungerecht empfindet, wird durch das andauernde Leid verwandelt. Er begreift es schließlich als essenzielles Erlebnis, als Erfahrung, die zur Vervollkommnung seiner Persönlichkeit dienen soll.
- Von sich selbst als Künstler, Liebendem und Leidendem schlägt Wilde einen Bogen zu Jesus Christus. In ihm sieht er den Idealtypus der romantischen Künstlerseele verkörpert. Jesus habe wie kein zweiter Liebe und Leid als zentrale Erfahrungen des menschlichen Daseins angesehen. Die Rolle als „Schmerzensmann“ sei Christus’ ureigenes Lebensprojekt gewesen und zugleich die erste Meisterleistung eines radikalen Individualismus.
- Wilde, einst eitler Dandy und erklärter Individualist, entdeckt im Gefängnis die Demut. Er beschreibt sie als Fähigkeit, ausnahmslos alle Erfahrungen annehmen zu können. Das ist eine bedeutende persönliche Entwicklung, doch Wilde betont die Kontinuität im Wandel: Wer die seelische Stärke besitze, auch das Leiden als wertvoll für das eigene Leben zu akzeptieren, der werde erst wahrhaft zum Individualisten.
- De profundis ist ein erstaunliches Werk der Selbstbehauptung. Wilde versucht sich am eigenen Schopf aus einem dunklen Loch zu ziehen. Seine Argumentation ist nicht immer überzeugend, seine Posen sind oft übertrieben, seine Stimme ist einmal zu leutselig, ein andermal zu schrill. Doch der heroische schriftstellerische Versuch, dem eigenen verunglückten Leben ein neues Fundament zu geben, bleibt beeindruckend.
Historischer Hintergrund
Die viktorianische Moral und ihre Gegner
Oscar Wilde war ein Kind der Viktorianischen Epoche: Königin Victoria hielt den britischen Thron von 1837 bis zu ihrem Tod 1901 – also während des Dichters gesamter Lebenszeit. Gegen Ende ihrer Regentschaft hatte sich Großbritannien in einen modernen Industriestaat verwandelt, der freilich noch immer am Klassensystem und am Kolonialismus festhielt. Die sozialen Spannungen innerhalb der Gesellschaft, geprägt von wachsender Armut auf der einen, Standesdünkel und immensem unternehmerischem Reichtum auf der anderen Seite, wurden überwölbt von einer traditionellen, religiös inspirierten Moral, deren Symbolfiguren die Königin selbst und ihr Gatte Prinz Albert waren. Die hohen moralischen Standards führten zur Gründung zahlreicher sozialer Hilfsorganisationen und verschiedener Reformbewegungen. Trotzdem wuchs der Abstand zwischen ethischen Idealen und gesellschaftlicher Realität. Die schleichende Liberalisierung des Sexuallebens, die Ausweitung der Prostitution und die neu entstandene Sensationspresse forderten die herrschende Prüderie heraus und führten 1885 zu einer Verschärfung der Gesetze über erlaubtes und unerlaubtes Sexualverhalten. Praktizierte Homosexualität, Sodomie genannt, blieb strafbar – Oscar Wilde bekam dies am eigenen Leib zu spüren. Parallel zum offiziellen moralischen Regime hatte sich im britischen Kulturleben der zweiten Jahrhunderthälfte die Bewegung des Ästhetizismus etabliert, ein Netzwerk von Literaten und Künstlern, die den viktorianischen Tugendkanon offen kritisierten und jede moralische Verpflichtung der Kunst ablehnten. Oscar Wilde, dessen demonstrativ dandyhaftes Benehmen ohnehin von vielen als skandalös empfunden wurde, galt als Aushängeschild und führender Kopf der Ästheten.
Entstehung
Wilde schrieb De profundis zwischen Januar und März 1897 in einer Einzelzelle des Gefängnisses von Reading, mehr als eineinhalb Jahre nach seiner Inhaftierung, moralisch und körperlich schwer angeschlagen. Nach knapp sechs Monaten Haft war er vom Gericht offiziell für bankrott erklärt worden, drei Monate später starb seine Mutter. Außerdem verfügte Wildes Frau, dass er seine Söhne nicht mehr zu Gesicht bekommen sollte. In Reading hatte Wilde lange Zeit unter einem strengen Direktor zu leiden, der auch kleinste Überschreitungen der Gefängnisordnung zum Anlass für verschärfte Haftbedingungen nahm. Doch nicht nur disziplinarische Maßnahmen, auch der Alltag machte Wilde zu schaffen. Es war allgemein verboten, mit anderen Häftlingen zu sprechen. Die Erlaubnis zum Lesen in der Zelle musste Wilde sich erst erkämpfen. Schreiben durfte er lediglich an die Gefängnisverwaltung, an Anwälte und – in seltenen Fällen – an Freunde. Erst als im Juli 1896 der Gefängnisdirektor ausgetauscht wurde, besserten sich Wildes Haftbedingungen. Er erhielt nun Bücher auf Bestellung und bekam auch dauerhaft Schreibzeug zugesprochen. Noch immer musste er aber das Geschriebene abends zur Kontrolle und Verwahrung einreichen. Erst als der literarische Charakter seines Briefes an Douglas offenbar wurde, gestattete ihm der Gefängnisdirektor regelmäßige Revisionen am Text. Am 3. April 1897 bat Wilde um die Erlaubnis, den Brief an seinen eigentlichen Adressaten abzuschicken. Doch er besann sich eines Besseren – in der Furcht, Douglas könnte den Brief aus Wut womöglich für immer vernichten. Wilde bat deshalb darum, den Text zunächst an seinen Freund Robert Ross zu schicken. Die Gefängnisverwaltung verbot jedoch die Aussendung des Manuskripts vor der Entlassung. Am letzten Hafttag, dem 18. Mai 1897, trug Wilde den Text, noch ohne Titel, selbst aus dem Gefängnis heraus.
Wirkungsgeschichte
De profundis ist zu Lebzeiten Wildes nicht veröffentlicht worden. Es bestehen sogar Zweifel, ob der Brief jemals seinen Adressaten erreicht hat. Nach dem Ende der Haft ließ Wilde seinen Freund Robert Ross mindestens zwei Kopien des Textes anfertigen. Eine war für Douglas bestimmt, der den Erhalt des Briefes jedoch stets bestritten hat. Ross veröffentlichte das Werk erstmals 1905, fünf Jahre nach Wildes Tod. Der Titel De profundis (= Aus der Tiefe) ist Ross’ Wahl, ein Verweis auf den biblischen Psalm 130. In der ersten Ausgabe erschien der Text allerdings in einer um mehr als die Hälfte gekürzten Form. Der Ausgabe fehlte jeder Verweis auf die Figur Lord Alfred Douglas. Die gekappte Fassung war erfolgreich, erhielt positive Kritiken und wurde, kaum verändert, in die erste Ausgabe von Wildes gesammelten Werken übernommen. Das Originalmanuskript übergab Ross 1909 dem Britischen Museum, unter der Bedingung, es dort für weitere 50 Jahre unter Verschluss zu halten. Seine eigene Abschrift vermachte er Wildes jüngerem Sohn. Der versuchte 1936 eine komplette Version zu veröffentlichen, wurde aber von Douglas (inzwischen 65 Jahre alt) daran gehindert. Schließlich erschien 1949 eine erste, weitgehend dem Original entsprechende Ausgabe. Doch erst 1962, auf Grundlage der inzwischen freigegebenen Urfassung, wurde der Text endlich in voller Länge veröffentlicht.
Heute zählt er zu Wildes wichtigsten und bewegendsten Prosawerken. Teile des persönlichen Dramas, um das De profundis kreist, sind in Brian Gilberts Filmbiografie Oscar Wilde (1997) festgehalten.
Über den Autor
wird am 16. Oktober 1854 in Dublin geboren. Seine Mutter ist Schriftstellerin, der Vater Chirurg. Wilde studiert in Dublin und Oxford klassische Philologie. Schon als Student begeistert er sich für die Ideale des Ästhetizismus und praktiziert mustergültig die Idee von der Ausdehnung des Schönheitskults auf alle Bereiche des Lebens. Sein exzentrisches Auftreten mit langer Mähne und exquisiter Garderobe macht ihn früh bekannt. 1879 zieht Wilde nach London um, lehrt dort Ästhetik und steigt schnell in die feine Gesellschaft auf. 1884 heiratet er die wohlhabende und gebildete Constance Lloyd, die 1885 und 1886 die beiden Söhne Cyril und Vyvyan zur Welt bringt. Zu dieser Zeit beginnt er seine Homosexualität auszuleben. Nach lyrischen Arbeiten, Essays und Märchen veröffentlicht er 1891 seinen einzigen Roman, den Skandalerfolg Das Bildnis des Dorian Gray (The Picture of Dorian Gray). Mit dem Theaterstück Lady Windermeres Fächer (Lady Windermere’s Fan) etabliert er sich 1892 endgültig als Erfolgsautor von sprühendem Witz und scharfem Intellekt – viktorianischen Vorbehalten gegen seine „Unmoral“ zum Trotz. Wildes Ruf festigt sich in den Folgejahren mit den Stücken Eine Frau ohne Bedeutung (A Woman of No Importance), Ein idealer Gatte (An Ideal Husband) und Die Bedeutung, Ernst zu sein (The Importance of Being Earnest). Dann wird ihm seine mehrjährige Beziehung mit dem jungen Snob Lord Alfred Douglas zum Verhängnis. Wilde wird 1895 wegen homosexueller Kontakte zu zwei Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis verfasst er De profundis. Die letzten Lebensjahre verbringt er in relativer Armut, von Freunden unterstützt, auf dem europäischen Festland. Bis zu seinem Tod am 30. November 1900 in Paris veröffentlicht er nur noch Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading (The Ballad of Reading Gaol), ein Text über seine Hafterfahrung.
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