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Der Antichrist

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Der Antichrist

Versuch einer Kritik des Christentums

Nikol Verlag,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

In Nietzsches Kritik am Christentum kommt einzig und allein Jesus selbst ungeschoren davon.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Nietzsches Kampf gegen das Christentum tritt in die letzte Phase

Nietzsches Antichrist spiegelt die Radikalisierung in Nietzsches Denkens während der späten 1880er-Jahre und offenbart ein enorm gewachsenes Sendungsbewusstsein. Hier wird nicht gelehrtenhaft doziert, hier wird unter Einsatz aller geistigen Kräfte ein historischer Kampf ausgetragen, voll Angriffslust und Pathos. Kritik am Christentum hatte Nietzsche sein gesamtes philosophisches Leben lang formuliert, hier bündelte er sie noch einmal in ungewöhnlicher Schärfe, bevor er kurz darauf endgültig dem Wahnsinn verfiel. Ob der Leser sich selbst als christlich versteht oder nicht – Nietzsche fordert ihn durch die ungeheure Leidenschaft seines Denkens wie kaum ein anderer Philosoph dazu auf, das eigene Denken zu überprüfen und in existenziellen Fragen Stellung zu beziehen. Aktualität wird diese Forderung gewiss nie einbüßen.

Take-aways

  • Der Antichrist ist eine Polemik gegen das Christentum und gehört zu den Spätwerken Nietzsches.
  • Inhalt: Das Christentum ist eine nihilistische, lebensverneinende Religion. Es stammt aus dem Ressentiment schwacher Menschen gegenüber den starken Menschen. Die Botschaft von Jesus, der angetreten war, die jüdische Priesterherrschaft zu überwinden, wurde nach seinem Tod verfälscht. Die Sünde ist eine Erfindung der Priester und dient deren Machterhalt. Das Christentum war das größte Verhängnis der Menschheit und muss überwunden werden.
  • Nietzsche änderte den Untertitel Versuch einer Kritik des Christentums später in Fluch auf das Christentum. Dem entspricht der teils unerbittliche, radikale Ton des Buches.
  • Im Überschwang der Leidenschaft maß Nietzsche der Schlüssigkeit seiner Argumente teils nur noch untergeordnete Bedeutung bei.
  • Nietzsche war überzeugt, mit seiner Schrift die Menschheitsgeschichte in eine neue Richtung zu lenken.
  • Der Antichrist spitzt Argumente aus Nietzsches früheren Schriften zu.
  • Als Sohn eines protestantischen Pfarrers wuchs Nietzsche in einem religiösen Elternhaus auf und war als Kind für seine Bibelfestigkeit bekannt.
  • Der Antichrist war zunächst als erster von vier Teilen eines größer angelegten Werkes mit dem Titel „Umwertung aller Werte“ gedacht.
  • Der Antichrist wurde – wie das gesamte Spätwerk Nietzsches – oft als Ausdruck seines Wahnsinns interpretiert.
  • „Ich heiße das Christentum den Einen großen Fluch (…) ich heiße es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit …“ (S. 139)

Zusammenfassung

Das Christentum ist die lebensfeindliche Religion par excellence

Die Vorstellung, die Menschheit werde sich geschichtlich zum Besseren entwickeln, ist ein moderner Irrglaube. Das Gegenteil ist der Fall: Der moderne europäische Mensch ist ein jahrtausendelang gezüchtetes Haus- und Herdentier, das seine natürlichen Instinkte verloren hat – ein Christ. Jeder natürliche Instinkt zielt auf Lebenserhaltung, auf Vermehrung der Kräfte, auf Wachstum, kurz gesagt: auf den Willen zur Macht. Wo dieser Wille gehemmt wird, verdirbt der Mensch. Was ihn hemmt? Die heutigen Werte und Ideale. Sie klagen die Instinkte als verwerflich an und wollen sie verbannen. Ist der Wille zur Macht aber der einzig wahre Lebensinstinkt, dann sind alle Werte, die die Menschheit heute beherrschen, dekadent. Und sie alle haben ihren Ursprung im Christentum.

„Der ‚Fortschritt‘ ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee.“ (S. 10)

Das Christentum ist eine lebensfeindliche Religion. Die gesunden und kräftigen Instinkte des starken, unabhängigen Menschen gelten dem Christentum als böse. Für alles Niedrige, Schwache und Missratene hingegen ergreift es Partei, indem es das Mitleid zur Tugend erklärt. Das Mitleid aber widerspricht allen lebenserhaltenden Instinkten – es ist kräftezehrend und es vermehrt Leiden durch Ansteckung. Die lebensfeindliche Tendenz, die darin zum Ausdruck kommt, beweist den nihilistischen Charakter des Christentums. Was im Nihilismus allerdings „Nichts“ heißt, wird im Christentum zu „Jenseits“, „Gott“ oder dem „wahren Leben“. Gott wird zum Nichts und das Nichts wird damit erstrebenswert. 

„Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus.“ (S. 14)

Der Theologeninstinkt und die Philosophie

Auf die Philosophie hat das Christentum schon immer einen zersetzenden Einfluss gehabt. Denn ihre Theologen und Priester sind wirklichkeitsfeindlich: Wer vor der Wirklichkeit die Augen verschließt, weil er einzig und allein „Gott“, „Erlösung“ und „Ewigkeit“ für wirklich hält, wird auch die Wahrheit leugnen und verfälschen. Auch aus dieser andauernden Verfälschung entwickelt sich mit der Zeit ein Instinkt – der Theologeninstinkt. Nirgendwo zeigt er sich deutlicher als in der deutschen Philosophie, die er gründlich korrumpiert hat. Kant, der von den deutschen Gelehrten wie kein anderer verehrt wird, ist hierfür das offensichtlichste Beispiel. Als es philosophisch kaum noch möglich schien, ist es Kant noch einmal gelungen, die Moral zur Essenz der Welt zu erklären. „Tugend“, „Pflicht“ und das „Gute an sich“ – die alten Ideale der Theologie – wurden dank seiner Abstraktionen zu unumstößlichen Kategorien. Dafür war ihm die Bewunderung der Philosophen und Gelehrten sicher. Kein Wunder – denn ein Großteil von ihnen stammt von Priestern und Lehrern ab. Ihr einziges Wahrheitskriterium ist, ob etwas ihnen angenehme Gefühle bereitet.

„Unter Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist.“ (S. 18)

Gott als Inbegriff des Guten

Ein starkes Volk braucht einen Gott, dem es opfern kann, dem es dankbar sein kann für die eigene Existenz. Ein solches Volk projiziert die eigene Machtfülle, die Lust am Dasein in seinen Gott hinein und verherrlicht so sich selbst in dem Gott. Wie aber könnte ein Gott, durch den das eigene Dasein in allem Guten und Schlechten verherrlicht wird, ausschließlich gut sein? Gar nicht. Der Gott eines starken und gesunden Volks muss auch bösartig, zornig und rachsüchtig sein können. Er muss die Lust am Siegen kennen, denn gerade seinen Siegen verdankt ein Volk ja seine Stärke. Ansonsten ist er kein Volksgott mehr, sondern einfach nur ein guter Gott. 

„Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte?“ (S. 29)

Nur ein unterworfenes Volk erschafft sich einen Gott, der ausschließlich gut ist. Ein Gott, der ausschließlich das Gute verkörpert, ist also Zeichen eines Niedergangs. Er lehrt Tugenden, die nur Besiegten nützlich sind: Nachsicht, Liebe gegen Freund und Feind, Bescheidenheit, Furchtsamkeit. Ihm fehlen alle Elemente des aufstrebenden Lebens wie Stolz, Machthunger, Aggressivität – stattdessen moralisiert er fortwährend.

Buddhismus und Christentum

Auch der Buddhismus ist im Kern eine nihilistische Religion wie das Christentum, jedoch realitätsnäher. In beiden Religionen wird das Dasein wesentlich als Leiden empfunden und verneint. Das Christentum hat aber die Sünde erfunden, um das Leiden moralisch zu begründen. Der Kampf des Christentums gilt folglich einem Hirngespinst – der Sünde – und nicht dem Leiden. Der Buddhismus hat das Leiden nicht zu einer Frage der Moral umgedeutet. Er versteht das Leiden als ein physiologisches Problem, nämlich als Folge einer gesteigerten Sensibilität und Schmerzempfindlichkeit des Menschen. Aus dieser Empfindlichkeit entsteht eine Depression, gegen die der Buddhismus Mittel bereithält – und zwar umsetzbare und wirksame Mittel. Im Gegensatz zum Christentum gibt es im Buddhismus keine leeren Versprechungen. Denn der Buddhismus ist auf keinen Gott, keine Gnade und kein Jenseitshoffnung angewiesen, um seine diesseitigen Ziele – Sorglosigkeit und Stille – zu erreichen.

„Der Buddhismus, nochmals gesagt, ist hundert Mal kälter, wahrhafter, objektiver. Er hat nicht mehr nötig, sich sein Leiden, seine Schmerzfähigkeit anständig zu machen durch die Interpretation der Sünde, – er sagt bloß, was er denkt ‚ich leide‘.“ (S. 40)

Die Botschaft von Jesus Christus

Lebensverneinung, Sünde, Entartung natürlicher Instinkte, Priesterherrschaft – alle wesentlichen Elemente des Christentums sind bereits im Judentum, in dem es wurzelt, enthalten. Das Christentum geht in der Verfälschung der Realität einen entscheidenden Schritt weiter, indem es auch noch die Verbindung zwischen Gott und seinem „auserwählten Volk“ auflöst. Der Gott des Judentums – der Gott, den das jüdische Volk sich erschaffen hat – wird im Christentum zum Gott aller Menschen.

Die Ironie des Christentums besteht darin, dass sein Heiland, Jesus Christus, angetreten war, die Herrschaft der jüdischen Priester zu überwinden. Seine Botschaft wurde jedoch von den Priestern so umgedeutet und verfälscht, dass die Priesterherrschaft sich in seinem Namen voll entfaltete und zum Verhängnis der Menschheit wurde. Jesus hob das Distanzverhältnis zwischen Mensch und Gott auf: Das Himmelreich sei bereits vorhanden als ein Zustand des Herzens – kein Versprechen auf etwas Künftiges. Eben darum bedeuteten ihm auch die Begriffe Sünde, Strafe und Lohn nichts – die Seligkeit ist Realität und an keine Bedingungen geknüpft.

Das Beispielhafte an seinem Leben waren nicht neue Gesetze und Dogmen, sondern eine neue Art des Handelns: keinen Unterschied zwischen Menschen machen, bedingungslos vergeben, niemandem Widerstand leisten, kein weltliches Recht beanspruchen. Er wollte zeigen, wie man zu leben hat, um sich als Kind Gottes zu fühlen – diesen beanspruchte er keineswegs für sich allein.

„Das Wort schon ‚Christentum‘ ist ein Missverständnis –, im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz.“ (S. 74)

Verkehrung und Verfälschung der Botschaft

Unmittelbar nachdem Jesus am Kreuz gestorben war, begann die Verfälschung seiner Botschaft. Statt seinen Richtern und Henkern zu verzeihen, wie es Jesus gelehrt hatte, wollten seine Jünger Rache. Diesem Rachebedürfnis entspringt die Vorstellung vom „Reich Gottes“, dem himmlischen Gericht, das am jüngsten Tag die Feinde richten wird – doch sie widerspricht Jesus’ Botschaft vollkommen. Auf die Frage, wie Gott das zulassen konnte, fand die durch Jesus’ schrecklichen Tod verstörte christliche Gemeinschaft eine Antwort, die an Absurdität kaum zu überbieten ist: Gott habe seinen Sohn geopfert, um so die Menschen von ihrer Schuld zu befreien. Damit war die frohe Botschaft endgültig pervertiert: In dem, was Jesus vorgelebt hatte, hatte der Begriff der Schuld keinen Platz, er hatte das Distanzverhältnis zwischen Gott und Mensch aufheben wollen. Er hatte die Einheit von Mensch und Gott vorgelebt – das war seine frohe Botschaft.

„Paulus verlegte einfach das Schwergewicht jenes ganzen Daseins hinter dies Dasein, – in die Lüge vom ‚wiederauferstandenen‘ Jesus.“ (S. 81)

Sie wurde weiter in ihr Gegenteil verkehrt. Daran wirkte zu Beginn niemand so entschieden mit wie der Apostel Paulus. Mit Jesus’ wirklichem Leben konnte Paulus im Grunde nichts anfangen. Stattdessen rückte er dessen Tod am Kreuz und die Auferstehung ins Zentrum. Paulus erfand Begriffe und Vorstellungen, die einzig und allein dem Zweck dienten, Massen zu unterwerfen: Mittel zur Tyrannei des Priestertums. Nicht auf das Leben, sondern auf das „Jenseits“ komme es an, auf die „unsterbliche Seele“ und deren „Lohn“. Der Sinn des Lebens wurde ins Jenseits verlegt – ins Nichts. Aus dem Ressentiment der missionierten Massen gegen alles Vornehme in der Welt erwuchs die Lüge von der Gleichheit der menschlichen Seelen. So hat das Christentum auch die widernatürliche Idee „gleiche Rechte für alle“ in die Welt gesetzt, die ihr Unwesen noch heute in der Politik treibt.

„Das Gift der Lehre ‚gleiche Rechte für alle‘ – das Christentum hat es am grundsätzlichsten ausgesät; (…)“ (S. 84)

Die Wissenschaft als Feind

Aus der Feindlichkeit des Christentums gegenüber der Wirklichkeit folgt auch seine tiefe Feindlichkeit gegenüber der Wissenschaft. Durch die Wissenschaft nämlich kommt die Wirklichkeit zu ihrem Recht und genau dagegen richtet sich der Imperativ des Glaubens. Man soll glauben, um nicht zu sehen und zu erkennen, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. Dass die größte Angst Gottes – also die der Priester, die den Begriff in ihrem Interesse angewandt haben – der erkennende Mensch ist, legt die Bibel gleich zu Anfang offen. Nur so ist die Geschichte von Eva und dem Baum der Erkenntnis zu verstehen: Die erste und schwerste Sünde des Menschen ist die Erkenntnis. Für diese Sünde wird er mit der Vertreibung aus dem Paradies bestraft. Damit er nicht mehr zum Denken kommt, soll sein Leben fortan durch Arbeit, Mühsal und Leiden beschwerlich werden. So lautet auch die unerbittliche Logik der Priester: Der Mensch muss unglücklich, krank und leidend sein, damit er vom Nachdenken abgehalten wird. Und das wirksamste Mittel, um ihn unglücklich zu machen, ist der Begriff der Sünde.

„Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral.“ (S. 98)

Das Christentum und die Wahrheit

Die Erfindung der Sünde und einer angeblichen „sittlichen Weltordnung“ sind Angriffe des Christentums gegen die Wissenschaft und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Die erste Voraussetzung aller Erkenntnis ist der richtige Begriff von Ursache und Wirkung. Wo dieser Begriff zerstört ist, verschwindet die Fähigkeit, selbst einfache Wahrheiten zu erkennen.

Für den Gläubigen etwa beweist sich die Wahrheit seines Glaubens darin, dass dieser ihn selig macht. Diese Seligkeit gilt es anzuzweifeln. Vollkommene Seligkeit erwartet den Gläubigen schließlich erst im Jenseits – sie ist diesseitig gar nicht überprüfbar. Man soll den Priestern also glauben, dass der Glauben selig macht. Doch auch angenommen, der Glaube mache selig, einfacher gesagt: bereite Lust – wäre Lust jemals ein Beweis für Wahrheit? Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Wahrheiten findet nur, wer streng gegen sich selbst sein kann und bereit ist, sich unter Schmerzen von allem, was ihm lieb und teuer ist, zu trennen. Sich der Wahrheit verpflichten, heißt vor allem: allen „schönen Gefühlen“ entsagen. Macht Glaube also selig, ist das ein Beweis für seine Verknüpfung mit Unwahrheit. 

Auch Märtyrer beweisen nicht die Wahrheit einer Sache. Im Grunde widerlegen sie sich durch ihren Größenwahn selbst: Zu glauben, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein, zeugt von intellektueller Stumpfheit. Zum Unglück der Menschheit sind die Märtyrer geworden, indem sie durch ihren Tod andere von ihrem Glauben überzeugten. Schließlich muss – meinen Idioten – an einer Sache, für die jemand sein Leben lässt, auch etwas Wahres sein.

„Das Weib liegt heute noch auf den Knien vor einem Irrtum, weil man ihm gesagt hat, dass jemand dafür am Kreuze starb.“ (S. 111)

Es verhält sich umgekehrt: Skepsis, nicht Überzeugung, zeichnet große Geister aus. Überzeugungen sind ein Zeichen geistiger Schwäche. Auch Glaube ist nur eine Form von Überzeugung: Der Gläubige verlangt aus Schwäche nach einem Glauben bzw. nach Überzeugung, ist abhängig von ihr, ein Sklave. Zudem steht der Gläubige oder Überzeugte der Wahrheit befangen gegenüber: Er kann die Dinge nie so sehen, wie sie sind, denn seine Überzeugungen verblenden ihn. Bei Fanatikern ist diese Verblendung vollständig geworden: Luther, Rousseau, Robespierre – sie sind Paradebeispiele solch verblendeter, kleingeistiger Fanatiker.

Der Schandfleck der Menschheit

Der Siegeszug des Christentums war für die Menschheit eine Katastrophe, deren Ausmaß noch nirgendwo begriffen wird. Um sie zu begreifen, muss man sich die Größe, den Stolz und die ungeheure Überlegenheit der antiken Kultur vergegenwärtigen, die vom Christentum auf perfide Weise zerstört wurde. Eine so vornehme, wohlgeratene Kultur wie die des römischen Reichs hat es nie zuvor und auch nachher nicht mehr gegeben. Sie baute auf jahrtausendelanger kultureller Vorarbeit durch die Griechen und hatte die denkbar besten Voraussetzungen, um weitere Jahrtausende lang zu blühen. Alle wesentlichen wissenschaftlichen Methoden waren gefunden, die politische Organisation und die Verwaltung waren genial eingerichtet, und alle vornehmen, gesunden Instinkte waren in vollkommener Form vorhanden. Doch bevor diese Kultur voll erblühen konnte, setzte das Gift des Christentums ein. Das Christentum ist der größte Schandfleck der Menschheit.

„Ich heiße das Christentum den Einen großen Fluch (…) ich heiße es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit …“ (S. 139)

Zum Text

Aufbau und Stil

Nietzsches Antichrist ist eine polemische Abhandlung, die aus einem Vorwort und 62 kurzen Abschnitten besteht und mit einem „Gesetz wider das Christentum“ endet. Darin versucht Nietzsche in mehreren gedanklichen Anläufen nachzuweisen, dass das Christentum eine aus Ressentiment entstandene, lebensfeindliche Religion sei. Diese Entlarvung erfolgt in zwei wesentlichen Schritten: Während er in der ersten Hälfte zentrale Begriffe und Ideen des Christentums einer radikalen Kritik unterzieht, beleuchtet er in der zweiten Hälfte Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des christlichen Glaubens. Das aus sieben Sätzen bestehende „Gesetz wider das Christentum“ am Schluss ruft in beispielloser Schärfe zur Bekämpfung des Christentums auf. Den Untertitel des Buches – Versuch einer Kritik des Christentums – hat Nietzsche später in Fluch auf das Christentum geändert (heute kursieren beide Varianten). Dieser Änderung entspricht der kompromisslose, unerbittliche Ton, den Nietzsche in weiten Teilen anschlägt. Nietzsches Spätwerk ist geprägt von seinem immer radikaler werdenden Denken und einem enorm gewachsenen Sendungsbewusstseins. Beides schlägt sich stilistisch im Antichrist nieder: Hier wird nicht gelehrtenhaft doziert, sondern unter Einsatz aller geistigen Kräfte ein Kampf ausgetragen, voll Angriffslust und Pathos. Diese Leidenschaft geht bisweilen auf Kosten der Schlüssigkeit.

Interpretationsansätze

  • Nietzsches Antichrist ist ein polemischer Angriff auf das Christentum. Dabei hinterfragt Nietzsche kritisch die Basis, auf die sich die Moral und Kultur seiner Zeit stützt. Schon in Die fröhliche Wissenschaft von 1882 verkündet Nietzsche einen „Tod Gottes“. Seine Ausführungen in diesem Werk lassen sich als Konsequenzen verstehen, die aus diesem Tod folgen. 
  • Der Antichrist bündelt frühere Argumente Nietzsches, der sich hier als leibhaftiger „Antichrist“ inszeniert. Seine Kritik am Christentum verteilt sich auf etliche seiner Werke wie Genealogie der Moral oder Jenseits von Gut und Böse, ist aber nirgends so pointiert wie im Antichrist. 
  • Nietzsche maß dem Buch weltgeschichtliche Bedeutung bei. Darauf ist auch der scharfe bis schrille Ton im Antichrist zurückzuführen. Nietzsche meinte tatsächlich, mit seiner Schrift die Geschichte der Menschheit in eine neue Richtung lenken zu können.
  • Nietzsches eigener messianischer Anspruch steht im Gegensatz zum radikalen Individualismus, den er im Antichrist predigt: Einerseits will er die Menschheit zu selbstständigem Denken erziehen, andererseits geht es ihm offenkundig darum, sie als Anhänger seiner eigenen Lehre zu gewinnen.
  • Nietzsches Kritik fußte auf gründlicher Kenntnis des Christentums: Als Sohn eines protestantischen Pfarrers wuchs Nietzsche in einem religiösen Elternhaus auf und soll in jungen Jahren sogar durch besondere Bibelfestigkeit hervorgestochen sein.

Historischer Hintergrund

Die Begründung des Sozialstaats durch Reichskanzler Otto von Bismarck

Kein anderer Politiker beeinflusste die Politik des 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreichs so maßgeblich wie der erste Reichskanzler Otto von Bismarck​​​​. Bismarcks Amt als Reichskanzler war der Verfassung nach einzig und allein vom Deutschen Kaiser und nicht vom Reichstag abhängig. Von schlechten Wahlergebnissen ging also keine unmittelbare Gefahr für seine politische Karriere aus. Solange er die Gunst des Kaisers genoss, konnte Bismarck mit quasi diktatorischen Befugnissen und großem Handlungsspielraum regieren.

Die Sozialgesetzgebung der 1880er-Jahre gehört zu den folgenreichsten politischen Unternehmungen Bismarcks: 1883 führte er die erste staatliche Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Alters- und Invalidenversicherung ein. Dabei wurde er nicht von humanistischen Idealen angetrieben, sondern verfolgte machtpolitische Ziele. Seit August Bebel, der „Arbeiterkaiser“, 1871 im Reichstag eine Rede zugunsten der sozialistischen Pariser Kommune gehalten hatte, war die Sozialdemokratie für Bismarck eine staatsgefährdende Bewegung. Von der Sozialgesetzgebung erhoffte sich Bismarck, die Arbeiter stärker an den Staat zu binden und sie so von den sozialistischen Parteien zu entfremden. Letztlich erreichte er seine machtpolitischen Ziele zwar nicht, sein Modell eines Sozialstaates gewann dennoch Vorbildcharakter und wurde von vielen Ländern weltweit übernommen. Heute wird die Sozialgesetzgebung – neben der Einigung des Reichs – als Bismarcks wichtigste innenpolitische Leistung angesehen.

Entstehung

Ende der 1870er-Jahre wurde Nietzsche aufgrund einer rasanten Verschlechterung seines Gesundheitszustands vorzeitig pensioniert. Von da an lebte der ehemalige Professor für klassische Philologie an der Universität Basel als freier Philosoph – ständig auf der Suche nach gesundheitsförderlichen klimatischen Bedingungen in der Schweiz, Italien und Frankreich. Seine Werke, die größtenteils in dieser Zeit entstanden, bekamen nur wenig Aufmerksamkeit und noch weniger Anerkennung. Besonders schmerzlich traf Nietzsche die ausbleibende Resonanz auf das in symbolisch-dichterischer Sprache verfasste Also sprach Zarathustra von 1885. Dass selbst engste Freunde mit Unverständnis auf dieses Buch reagierten, trieb ihn immer weiter in die Einsamkeit.

Der Antichrist entstand 1888 – dem letzten Jahr, in dem Nietzsche noch schrieb und in dem er sowohl eine enorme Produktivität als auch zunehmenden Größenwahn an den Tag legte. Im Sommer dieses Jahres gab Nietzsche die lang gehegten Pläne zu seinem Hauptwerk – Der Wille zur Macht – auf. Die bereits gesammelten Materialien baute er in die ersten 23 Kapitel des Antichrist ein. Dieser sollte zunächst der erste von vier Teilen eines Werkes mit dem Titel „Umwertung aller Werte“ werden. Nietzsche beendete die Niederschrift am 30. September 1888 in Turin – einem Tag, der nach Nietzsches Vorstellung eine neue Zeitrechnung einleiten sollte. Einige Wochen später betrachtete Nietzsche die Schrift nicht mehr als erste von vier Teilen, sondern bereits als die vollständige „Umwertung aller Werte“. An seinen langjährigen Freund Paul Deussen schrieb er im November: „Meine Umwerthung aller Werthe, mit dem Haupttitel ‚der Antichrist‘ ist fertig. In den nächsten Jahren habe ich die Schritte zu thun, um das Werk in 7 Sprachen übersetzen zu lassen; die erste Auflage in jeder Sprache c. eine Million Exemplare.“

Wirkungsgeschichte

Die Publikation des Antichrist erlebte Nietzsche nicht mehr bewusst mit. Im Januar 1889 erlitt er in Turin einen geistigen Zusammenbruch, von dem er sich nicht mehr erholte. Daher wurde die Publikation zunächst zurückgestellt. Sie erfolgte erst 1894 im Rahmen einer frühen Werkausgabe, die unter den Augen von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche entstand. Mehrere Stellen der Schrift, die Jesus und den amtierenden Kaiser Wilhelm II. zu beleidigen schienen, ließ Elisabeth Förster-Nietzsche streichen.

Der Antichrist stieß bei seinem Erscheinen großteils auf Abwehr. Bereits hier zeichnete sich die spätere Tendenz ab, Nietzsches Spätwerk im Licht seiner Krankheit zu interpretieren und philosophisch nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Der Philosoph Arthur Drews meinte etwa 1904, Der Antichrist sei „keine Kritik mehr, sondern ein wüstes Geschimpfe, wobei sich Nietzsche in eine Wut hineinredet, wie ein Tobsüchtiger, der die Herrschaft über sich selbst verloren hat.“

Manche Theologen versuchten, den Antichrist auf eine kosmetische Kritik zu reduzieren. Sie meinten, Nietzsche habe nur gewisse Fehlentwicklungen des Christentums aufzeigen wollen. Dagegen richtete sich der Theologe und Nietzsche-Experte Peter Köster mit folgender Diagnose: „Eine Vorstellung scheint theologischen Autoren ohnehin ernstliche Schwierigkeiten zu bereiten: (…) die nämlich, dass Nietzsche das Christentum in einigen wesentlichen Zügen sehr scharf gesehen — und es dennoch negiert haben könnte“.

Über den Autor

Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protestantismus des Elternhauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem unkonventionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkollegen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopenhauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Freundschaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, unter anderem wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopenhauer ab. 1879 gibt er wegen einer dramatischen Verschlechterung seines Gesundheitszustands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Augenschmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesundheitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusammenbruch: Aus Mitleid mit einem geschlagenen Droschkengaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicherweise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine unabgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen durch die Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaffensphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigenwillige Autobiografie, die 1908 erscheint.

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