Alexander Solschenizyn
Der Archipel Gulag
Fischer Tb, 2009
Was ist drin?
Das Buch, das den Niedergang der Sowjetunion einläutete.
- Dokumentarliteratur
- Moderne
Worum es geht
Ein Gang über den gigantischen Friedhof des Bolschewismus
„Das Land der abgewürgten Möglichkeiten“ – so spöttisch bezeichnete Solschenizyn einmal seine russische Heimat. In Der Archipel Gulag führt er auf drastische Weise vor, was er damit meint: eine feige, brutale, halb geisteskranke Elite, von ihrer historischen Mission überzeugt und bereit, der Verwirklichung einer Idee die Wirklichkeit selbst zu opfern. Das eigene Volk wird zum Feind erklärt, weil es aus Menschen besteht statt aus klassenbewussten, kraftstrotzenden, unbeugsamen Über-Proletariern. Solschenizyn führt seine Leser über einen gigantischen Friedhof, an den Gräbern derjenigen entlang, die diesem Wahn zum Opfer gefallen sind. Seine Stimme ist die eines Mannes, der nur zufällig nicht unter der Erde liegt, eines Mannes, dem das Bewusstsein dieser Zufälligkeit die Seele beruhigt und die Augen geöffnet hat. Und obwohl sich die Reihen der Gräber scheinbar in die Unendlichkeit erstrecken, wird er nicht müde, bei jedem einzelnen zu fragen: Warum? Dieses Warum ist die Essenz des Buches. Warum hat sich die paranoide Logik der Täter überhaupt Geltung verschafft? Warum ergeben sich die Opfer ihrem Schicksal? Warum bleiben die Mitwisser feige und bequem?
Take-aways
- Der Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn ist eines der wirkmächtigsten Bücher aller Zeiten.
- Inhalt: Nach der Oktoberrevolution von 1917 beginnen die Bolschewiken in Russland mit der Errichtung eines Systems von Straflagern, des GULAG. Neben Millionen anderer Insassen wird auch Alexander Solschenizyn zum GULAG-Häftling, weil er sich in einem Brief abfällig über Stalin geäußert hat. Die Bedingungen in den Lagern sind unmenschlich. Solschenizyn erlebt ein spirituelles Erwachen, zieht sich in die Freiheit seines Innern zurück und entdeckt seine Lebensaufgabe: über den Gulag schreiben.
- Mit seinem Werk verunmöglichte Solschenizyn dem sowjetischen Regime die moralische Rechtfertigung seines Systems.
- Zugleich zerstörte er die Illusionen der europäischen Linksintellektuellen, die den Kommunismus für ein beinahe ideales Konzept mit gewissen Schönheitsfehlern hielten.
- Während er an Der Archipel Gulag schrieb, wurde Solschenizyn Tag und Nacht vom KGB beschattet und musste daher höchste Vorsicht walten lassen.
- Als er aufflog, gab er seinem Züricher Agenten grünes Licht zur Veröffentlichung des Manuskripts, das vorher auf Mikrofilm außer Landes geschmuggelt worden war..
- Schon lange vorher allerdings waren im sowjetischen Untergrund Abschriften des Manuskripts von Hand zu Hand gegangen.
- Das Regime in Moskau reagierte auf die Veröffentlichung, indem es Solschenizyn des Landes verwies.
- Solschenizyn war in seiner Jugend selbst Kommunist und Lenin-Verehrer gewesen.
- Zitat: „Der Archipel war, der Archipel ist, der Archipel wird sein! Wen soll man sonst für die Fehler der Fortschrittlichen Lehre büßen lassen – dafür, dass die Menschen nicht so werden, wie sie geplant sind?“
Zusammenfassung
Die Anfänge des Gulag
Schon 1918 begannen die Bolschewiki unter ihrem Führer Lenin mit der systematischen Einrichtung von Konzentrationslagern. Dorthin verschleppten sie zunächst vor allem die Anhänger der Oppositionsparteien. Zum einen waren das „Weißgardisten“, sprich: tatsächliche Konterrevolutionäre, zum anderen „Sozialrevolutionäre“ und Menschewiki, also linksgerichtete, teils sogar kommunistisch gesinnte Gruppen, die dem Machtanspruch der Bolschewiki jedoch im Wege standen. Die bolschewistische Ideologie war rigoros. Man gefiel sich in der Rolle der Soldaten eines welthistorisch unvermeidlichen kommunistischen Fortschritts. Dass die Diktatur des Proletariats nicht ohne Blutvergießen errichtet werden konnte, wussten die Bolschewiki. Im rücksichtslosen Terror sahen Lenin und Genossen die stärkste Waffe gegen die Feinde des Sozialismus. Es galt, die alte bürgerliche Ordnung und ihre Repräsentanten zu vernichten. Tod oder Lager, so hießen die Alternativen. Nach der politischen Opposition kam die Kirche an die Reihe. Die Popen wurden zu Ausbeutern erklärt, die Bolschewiki schoben ihnen die Schuld für die katastrophalen Hungersnöte zu, die infolge des Bürgerkriegs und des kopflosen Wirtschaftens der neuen Machthaber ausgebrochen waren.
Überall Schädlinge
Gleich darauf ging es den Vertretern der kulturellen Elite an den Kragen. Als Angehörige der Bourgeoisie zählten auch sie zu den „Schädlingen“ und standen im Verdacht, den Siegeszug des Sozialismus sabotieren zu wollen. Zu Tausenden wurden Ingenieure, Wissenschaftler, Professoren, Lehrer und Studenten verhaftet. Das Netz der Straflager wuchs mit den Unmengen deportierter Volksfeinde. Vor allem im nördlichen Russland schossen neue Stützpunkte wie Pilze aus dem Boden. Den Anfang machte man auf den Solowezki-Inseln im Weißmeer, knapp unterhalb des Polarkreises. Das dort eingerichtete Lager war die Keimzelle des Gulag-Systems. An diesem Ort wurden auch die Methoden der Folter und Vernichtung der erprobt, die sich später im gesamten Lagersystem durchsetzten.
Die Kulaken
Mit dem Begriff „Kulaken“ belegten die Bolschewiki alle etwas wohlhabenderen Bauern. Diese standen der geplanten Massenkollektivierung der Landwirtschaft im Weg. Der Theorie des Klassenkampfs zufolge waren sie als Angehörige des Kleinbürgertums Volksfeinde. Millionen Bauern samt Familien wurden während der „Kulakensäuberungen“ deportiert, in Eisenbahnwagons und Planwagen verfrachtet oder zu riesigen Karawanen zusammengeschlossen. Die Bestimmungsorte hießen Sibirien oder Jakutien. Heerscharen von Menschen starben auf dem Weg dorthin. Überlebten sie den Marsch, wurden die Bauern kurzerhand in der Wildnis ausgesetzt und mussten, ausgehungert und erschöpft, ohne angemessene Kleidung und Werkzeuge bei arktischen Temperaturen ihre Unterkünfte selber bauen. Massenweise verhungerten sie, erfroren, starben an Krankheiten oder Erschöpfung.
Der Weißmeer-Ostsee-Kanal
Der Gedanke, die mittlerweile riesigen Häftlingskontingente systematisch als Arbeitskräfte für Bauprojekte, Rohstoffabbau und Industrieproduktion zu nutzen, wurde erstmals 1931 beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals in die Tat umgesetzt. Das Vorhaben diente nur der Menschenvernichtung, es war ohne jede praktische Notwendigkeit. Stalin wollte sich ein Denkmal schaffen und dabei die Überreste der Kulakenliquidierung möglichst billig loswerden. Der Kanal wurde mit Spaten und Spitzhacken, mit bloßen Händen gebaut. Schon im ersten Winter sollen 100 000 Arbeiter gestorben sein. Mit riesigem Propagandaaufwand versuchte Stalin, der Bevölkerung und dem Ausland das Projekt als Beweis für die Überlegenheit der Sowjetmacht zu verkaufen.
Der Allzweck-Paragraph
Da Industrialisierung und Kollektivierung des Landes hinter den bolschewistischen Utopien zurückblieben, da im Gegenteil überall Hunger und Not herrschten, brauchte das Regime einen Sündenbock, noch besser: jede Menge Sündenböcke. Mit der Einführung des § 58 des Strafgesetzbuches wurde Jagd auf die „wahren“ Schuldigen eröffnet. Dieser Paragraph diente der Abwehr „konterrevolutionärer“ Bestrebungen (als konterrevolutionär galt jede Handlung, die auf den Sturz, die Unterhöhlung oder die Schwächung der Sowjetunion zielte). Er war so allgemein formuliert, dass praktisch jedermann in Angst leben musste, nach einer oder mehreren seiner Definitionen zum Feind der Sowjetmacht erklärt zu werden. Schon wer von der Arbeit auf dem Kolchoseacker ein paar liegen gebliebene Getreideähren aufsammelte, machte sich schuldig und konnte mit zehn Jahren Lager bestraft werden. Die Bevölkerung wurde zudem aufgerufen, „Schädlinge“ zu denunzieren – später wurde sogar das Nicht-Denunzieren zum strafbaren Tatbestand nach § 58. Kein Wunder, dass die so genannten „58er“, also die nach § 58 Verurteilten, bald die Mehrheit der Gulag-Häftlinge stellten.
Der Große Terror
Das weitverzweigte System der Lager glich mittlerweile einem Archipel: zahllose Inseln, über das ganze Land verstreut. Eine gut ausgebaute Kanalisation sorgte dafür, dass der Zustrom von Gefangenen niemals abriss. Ganze Völkerschaften, wie Turkmenen, Tartaren, Kalmücken usw. flossen durch die Kanäle. Die mächtigste Flut erlebte der Archipel in den Jahren des „Großen Terrors“, 1937/38. Stalins witterte inzwischen überall Verschwörungen, seine Geheimpolizei bemühte sich nach Kräften, entsprechende Geständnisse aus wahllos Verhafteten herauszupressen. Unter der Folter denunzierten die Opfer ihre Bekannten, ihre Freunde und ihre Familie. So geriet bald das gesamte Führungskader der Armee ins Fadenkreuz der Bolschewiki, wurde verhaftet, abgeurteilt, dann entweder erschossen oder deportiert. Auch in der Partei selbst wimmelte es angeblich von Umstürzlern und Spionen; auch mit ihnen machte man kurzen Prozess. Stalin und seine Bundesgenossen steigerten sich in einen wahren Blutrausch hinein, es wurden Quoten ausgegeben, soundso viele Tausend Verschwörer mussten fristgerecht entdeckt und vernichtet werden. Selbst unter seinen engsten Vertrauten machte Stalin Spione des kapitalistischen Auslands aus. Millionen Menschen kostete die „Säuberung“ die Freiheit oder das Leben.
Der Krieg
Als die Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfiel, stieß sie nur auf geringen Widerstand. Das Regime in Moskau hatte die Kriegsgefahr nicht ernst genommen, und die Rote Armee war nach den Säuberungen der vergangenen Jahre quasi führungslos und schlecht organisiert. Mühelos machten Hitlers Armeen riesige Geländegewinne. Und wieder ließ Stalin andere für sein Versagen büßen: Wer vor den Deutschen floh, wer nicht vor den Deutschen floh, gar kooperierte, wer überhaupt Kontakt mit den Deutschen gehabt hatte – allen blühten Erschießung oder Lagerhaft. Nachdem schließlich das Kriegsglück sich zugunsten der Roten Armee gewendet hatte, wurde zudem all jener Landsleute gedacht, die sich, den nahen Sturz der Bolschewiki erhoffend, zu Partisanengruppen zusammengetan hatten. Auch Rotarmisten, die man aus deutscher Kriegsgefangenschaft befreit hatte, wurden verhaftet. Ihnen hing der Verdacht an, vom Feind „umgedreht“ worden zu sein.
Tauwetter
Stalins Säuberungspolitik ging auch nach dem Krieg weiter. Ununterbrochen flossen die Ströme der „Schädlinge“, „Klassenfeinde“ und „Spione“ durch die Kanalisation des Archipels. Und das, obwohl der Triumph des Sozialismus bereits seit fast drei Jahrzehnten stets unmittelbar bevorstand. Aller Propaganda zum Trotz war man jedoch von einer freien, klassenlosen Gesellschaft weiter entfernt denn je. Umso unerbittlicher tobte daher die Vernichtungsmaschinerie der frustrierten Bolschewiki. Erst 1953, mit dem Tod Stalins, keimte Hoffnung auf. Doch auch sein Nachfolger Chruschtschow, der zunächst versprach, den Terror zu beenden, brachte Besserung nur auf dem Papier. Zwar wurde der § 58 abgeschafft, die 58er wurden entlassen, sonst aber blieb aber alles beim Alten. Wen die Geheimpolizei holen wollte, den holte sie auch ohne Paragraphen.
Die Seki
Die Bedingungen, unter denen die Lagerhäftlinge ihr Leben zu fristen hatten, variierten je nach Art ihres „Verbrechens“, nach Art und Ort des Lagers und nach der allgemeinen politischen Entwicklung. Viele Aspekte des Lagerlebens jedoch waren über die Jahrzehnte konstant, sodass man die „Seki“ (mit dieser Abkürzung benannte der Volksmund die Inhaftierten) durchaus als eigene Nation bezeichnen konnte, mit allen Merkmalen, die eine solche ausmachen: eigenes Territorium, eigene Sitten, eigene Sprache, eigene Werte. Mit dem Eintritt ins Lager verwandelte sich ein Mensch in einen solchen Seki, eine Art Tier, und ließ seine alte Menschenhaut für immer zurück. „Misstraue jedem!“ bestimmte als oberster Leitsatz das Leben der Seki. „Um keinen Preis zu den ,Allgemeinen‘!“ hieß außerdem die Devise, wollte man seine 10 oder 25-jährige Frist überleben – zu den „allgemeinen“ Arbeiten abgestellt zu werden, kam einem Todesurteil gleich. Die gnadenlose, bis zu 14-stündige Schwerstarbeit im Bergbau, im Steinbruch, beim Holzfällen, bei kaum vier Stunden Schlaf, winzigen Essensrationen und ständiger Schikane durch die Wachen, bei fehlender medizinischer Versorgung, unter extremen klimatischen Bedingungen, richtete selbst robuste Naturen innerhalb weniger Wochen zugrunde.
Überleben im Lager
Glücklich schätzte sich, wer einen privilegierten Posten im Lager ergattern konnte: Ärzte, Friseure, Bäcker, Buchhalter, Vorarbeiter usw. führten ein relativ erträgliches Dasein als „Pridurki“. Auch Solschenizyn, der aufgrund seines militärischen Rangs als Aufpasser einer Arbeitsbrigade eingesetzt wurde, entkam auf diese Weise zunächst den „Allgemeinen“. Da ihm jedoch die wichtigsten Charaktereigenschaften eines Pridurok fehlten, nämlich Kaltschnäuzigkeit, Opportunismus und Brutalität, ergab er sich schließlich doch in sein Schicksal als Arbeitssklave. Die Pridurki waren zum einem Teil fanatische Bolschewiki, eisern in ihrer Loyalität zu Väterchen Stalin, die sich selbst für Zufallsopfer und die „58er“ für gefährliches und auszurottendes Ungeziefer hielten. Zum anderen Teil rissen sich die „Urkas“ die Pridurki-Posten unter den Nagel. Die Urkas waren die nicht-politischen Häftlinge, also gewöhnliche Verbrecher: Mörder, Diebe, Räuber. Sie hatten zumindest in den ersten Jahrzehnten des Gulag die tatsächliche Macht im Lager. Die bolschewistische Klassentheorie sah sie als „sozial-nahe Elemente“, sprich: als eigentliche Proletarier, von einer falschen, kapitalistischen Gesellschaftsordnung verdorben, jedoch, im Gegensatz zu den 58ern, nicht unrettbar verdorben. Die Urkas herrschten mit brutaler Gewalt, bespitzelten, bestahlen und meuchelten die 58er, wie es ihnen gefiel. Oft arbeiteten sie der Lagerobrigkeit in die Hände, tauschten ihr Raubgut gegen Essensrationen oder Tabak.
Widerstand
In den ersten zwei Jahrzehnten des Gulag gab es kaum nennenswerten Widerstand. Die Seki, verängstigt und niedergeschlagen wegen der scheinbaren Ausweglosigkeit ihres Schicksals, waren froh, überhaupt den nächsten Tag zu erleben. Vereinzelte Hungerstreiks scheiterten daran, dass es in der Sowjetunion schlicht keine freie Öffentlichkeit gab, an die man mit derartigen Aktionen appellieren konnte. Auch die Flucht aus dem Lager blieb ein seltenes Phänomen, wenn auch jeder neue bekannt gewordene Versuch den Seki etwas Kampfgeist zurückgab. Verbreitet war die Selbstverstümmelung, sie wurde jedoch mit drakonischen Strafen geahndet. Unter diesen Bedingungen flüchteten sich viele Seki in die einzig verbliebene Freiheit: die Freiheit ihrer Seele. Solschenizyn erlebte selbst, wie er sich unter dem grausamen Schicksal verwandelte. Er wurde zweiflerisch und pessimistisch, hörte auf zu hoffen – und rang sich eben so zu einer tief humanistischen Weltsicht durch. Im Lager wurde er auch zum Schriftsteller. Statt seine Texte aufzuschreiben und so das Risiko der Entdeckung einzugehen, verfasste er sie im Kopf und in Versform, als Hilfestellung für sein Gedächtnis.
Folgen
Was haben Lenin, Stalin und ihre Gefolgsleute letztlich mit ihrer Terrorpolitik erreicht? Das Volk hatten sie vom Joch der Zarenherrschaft, von Leibeigenschaft und ländlichem Elend befreien wollen –jetzt verreckten Millionen in den Lagern, die Bevölkerung lebte in Angst, die rechtlosen Kolchosbauern waren noch ärmer als vorher. Einen neuen, besseren Menschen hatten die Bolschewiki schaffen wollen, eine Gesellschaft ohne Klassenunterschiede – doch stattdessen hatten sie die übelsten Instinkte im Volk gezüchtet, das Allerschlechteste im Menschen hervorgekehrt; die Gesellschaft war in Täter und Opfer zerfallen. Quasi über Nacht hatte man die Sowjetunion industrialisieren, zu wissenschaftlicher und kultureller Blüte treiben wollen – stattdessen war das Land seiner Elite beraubt, waren seine besten Köpfe massenweise hingemeuchelt worden.
Zum Text
Aufbau und Stil
Solschenizyns Monumentalwerk umfasst in der vorliegenden Ausgabe drei Bände und ist in sieben Abschnitte gegliedert: „Die Gefängnisindustrie“, „Ewige Bewegung“, „Arbeit und Ausrottung“, „Seele und Stacheldraht“, „Die Katorga kommt wieder“, „In der Verbannung“ und „Nach Stalin“. Diese Einteilung vermag die ungeheure Menge und Unterschiedlichkeit des Materials jedoch nur unzureichend zu fassen. Fast immer mischen sich geschichtliche Untersuchungen mit Schilderungen aus dem eigenen Erleben des Autors, Sammlungen von Zeugenberichten mit Aufzählungen der unzähligen Erscheinungsformen des bolschewistischen Terrors. Der Stil ist dabei ähnlich uneinheitlich wie die Gesamtform: Während sich Solschenizyn bei den Zeugnissen fremder Schicksale bemüht, die Opfer möglichst unverfälscht zu Wort kommen zu lassen, hört man in den historischen Passagen die Stimme des Gelehrten. Wo er Eigenes berichtet, versucht er, mit seinem individuellen Schicksal hinter dem unermesslichen fremden Leid zurückzutreten. Die Qualen seiner Mitmenschen schildert er mit buchhalterischer Genauigkeit, akribisch nennt er die Namen der Opfer, die Namen ihrer Peiniger, der Profiteure, die Namen derjenigen, die dem Wüten der Schergen seinen theoretischen Überbau lieferten. Es fällt nicht leicht, aus solchem Durcheinander der Stimmen einen Grundton herauszuhören. Vielleicht ist es der Humor, ein entsetzlich trockener, bissiger, kompromisslos ironischer Humor, bei völliger Abwesenheit von Pathos und Sentimentalität.
Interpretationsansätze
- Solschenizyns Der Archipel Gulag lässt sich einerseits als Anklage lesen, als Katalog der bolschewistischen Schreckensherrschaft, mit endlosen Aufzählungen der Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen antun.
- Andererseits schildert Solschenizyn anhand vieler Beispiele (u. a. seines eigenen) auch die allgemeine Möglichkeit der inneren Flucht, die Chance, an einem grausamen Schicksal zu wachsen. Neben persönlichem Mut und stoischer Unbeirrbarkeit kann das Individuum durch solches Leiden einen klaren, von keinerlei Illusion getrübten Blick auf die Wirklichkeit gewinnen. Tatsächlich ruft Solschenizyn an einer Stelle aus: „Sei gesegnet, mein Gefängnis!“
- Solschenizyn scheut sich nicht, sich der Schwächen der menschlichen Natur – auch der eigenen – anzunehmen und dem Leser die Frage zu stellen: Was hättest du getan, wenn dich der Zufall in die Reihen der Täter gestellt hätte? Wärst auch du zum Täter geworden? Sind es wirklich zwei grundverschiedene Sorten Mensch: die einen, die antun, die anderen, die erleiden? Für sich findet Solschenizyn die Antwort, dass in seinem Wesen beide Möglichkeiten schlummern.
- Über die genaue Opferzahl des Gulag-Systems herrscht bis heute Uneinigkeit. Solschenizyn schätzt, dass zwischen 1918 und 1953 etwa 40–50 Millionen Häftlinge in Lagern interniert waren oder dort starben. Heute stehen der Wissenschaft Teile der offiziellen Archive zur Verfügung, aus denen eine Zahl von nur etwa 2 Millionen hervorgeht. Allerdings wird ein unbestimmter Teil der Archive noch immer unter Verschluss gehalten. Schätzungen gehen heutzutage von bis zu 70 Millionen Opfern aus. Die genaue Zahl wird wohl für immer unbestimmbar bleiben.
Historischer Hintergrund
Der Siegeszug des Bolschewismus
Während Europa zum Ende des 19. Jahrhunderts unaufhaltsam modernisiert wurde, lebte die überwältigende Mehrheit der Russen weiterhin als rechtlose Bauern unter feudalen Verhältnissen. Bereits 1905, angesichts der Niederlage der Zarenarmee im Russisch-Japanischen Krieg, wurde die hoffnungslose Rückständigkeit des Landes sichtbar. Arbeiter und Bauern erhoben sich gegen die Machthaber – ohne Erfolg. Erst mit der Februarrevolution von 1917 gelang der Umsturz. Der Zar musste abdanken, es wurden Arbeiter- und Soldatenräte, so genannte „Sowjets“ gebildet. Die Revolutionäre waren jedoch in verfeindete Lager zerfallen: Während Menschewiki und Sozialrevolutionäre einen demokratischen Sozialismus wollten, waren die Bolschewiki unter Wladimir I. Lenin radikaler gesinnt. Im Oktober 1917 putschten sie gegen die provisorische Regierung. Es folgte ein erbitterter Bürgerkrieg, der 1920 mit dem Sieg der Bolschewiki und der Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ endete. Die ersten Jahre der neu gegründeten Sowjetunion verliefen chaotisch. Um die Armee mit Nahrung zu versorgen, plünderten die Machthaber die Landbevölkerung aus. Hungersnöte mit Millionen von Toten waren die Folge. Landflucht setzte ein, die Städte wurden von Unmengen besitzloser Bauern überschwemmt. Den Bolschewiki drohte die Kontrolle über das Land zu entgleiten. Sie antworteten mit Terror, den Josef Stalin nach Lenins Tod 1924 zu beispielloser Brutalität steigerte. Seine Politik der „Industrialisierung um jeden Preis“, die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft, die Ausrichtung der Produktion auf utopische Planvorgaben, mit denen die Überlegenheit des Sozialismus bewiesen werden sollte, gerieten zum Krieg gegen die eigene Bevölkerung.
Entstehung
Der Archipel Gulag entstand unter abenteuerlichen Umständen zwischen 1958 und 1967. Solschenizyn, der ehemalige Lagerhäftling, hatte unter der relativ milden Regierung Nikita Chruschtschows weitgehende schriftstellerische Freiheit genossen. Damit war es jedoch nach Chruschtschows Sturz 1964 vorbei. Die folgende Regierung unter Leonid Breschnew erkannte und fürchtete Solschenizyns subversive Schriften. Der Autor wurde unter ständige Überwachung durch den KGB gestellt. Um seine Mission nicht zu gefährden, musste er äußerste Vorsicht walten lassen. So versteckte er das Manuskript zu Der Archipel Gulag sicherheitshalber bei Freunden, aufgeteilt in kleine Portionen. Unter dem Vorwand, diese zu besuchen, arbeitete er dann an den Einzelteilen seines Werks. Ein Netzwerk heimlicher Unterstützer sorgte für die maschinelle Abschrift des Manuskripts, es gelang sogar, eine Mikrofilmkopie ins Ausland zu schmuggeln. Doch 1973 schlug der KGB zu: Unter Folter hatte eine von Solschenizyns Helferinnen die Verstecke preisgegeben, ein Teil des Manuskripts wurde beschlagnahmt. Solschenizyns ursprüngliche Pläne, das Buch vorerst zurückzuhalten, bis sein Romanzyklus Das rote Rad, eine Geschichte Russlands bis zur Revolution, vollendet sei, wurden so durchkreuzt. Um sich selbst, vor allem aber die über 200 Augenzeugen, deren Berichte das Material für Der Archipel Gulag abgegeben hatte, vor dem Zugriff des KGB zu schützen, entschloss sich Solschenizyn, mit dem Werk an die Öffentlichkeit zu gehen. Über seinen Züricher Agenten gab er die Zustimmung zur Publikation. Am 28. Dezember 1973 platzte die Bombe: Der Pariser Emigrantenverlag YMCA-Press brachte eine russische Version des Buches heraus; deutsche, englische und französische Übersetzungen waren unter strenger Geheimhaltung vorbereitet worden und erschienen wenig später.
Wirkungsgeschichte
Die Veröffentlichung von Der Archipel Gulag war die literarische Sensation des späten 20. Jahrhunderts. Solschenizyns so monumentale wie detaillierte Abrechnung mit dem Sowjetsystem versetzte die intellektuelle Szene des Westens in den Ausnahmezustand – ganz zu schweigen von der Schockwirkung, die das Buch hinter dem Eisernen Vorhang entfaltete. Das Regime in Moskau wusste sich nicht anders zu helfen, als den jetzt weltberühmten Dissidenten auszuweisen. Schon vor der eigentlichen Veröffentlichung hatten Abschriften des Manuskripts im russischen Untergrund kursiert. Jetzt war die Katze endgültig aus dem Sack, all die Lügen des Regimes, das jahrzehntelang Verdrängte und Beschönigte war ein für alle Mal entlarvt. Die Materialfülle des Buches trotzte allen Versuchen der Widerlegung, mochte sich das Regime auch noch so sehr bemühen, den Autor als geisteskrank zu diskreditieren oder der Spionage für die CIA zu beschuldigen. Auch im Westen fehlte es nicht an Anfeindungen: Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatten vor allem in Europa sozialistische Ideen Hochkonjunktur. Die europäische Linke gefiel sich darin, Unterdrückung und Gewaltexzesse in der Sowjetunion als bedauerliche Begleiterscheinung eines ansonsten idealen politischen Systems abzutun. Lenin habe die Weichen der Geschichte richtig gestellt, argumentierten sie, erst der Machtmissbrauch unter Stalin habe die Wahrheit des Kommunismus entstellt. Diese Illusion mussten sie nun aufgeben: Allzu eindeutig belegte Der Archipel Gulag, dass die Geschichte des Roten Terrors schon mit Lenin begonnen hatte, dass Willkür und Zwang keine Entartung, sondern vielmehr das Wesen des Kommunismus waren. Obwohl bis zum Fall des Eisernen Vorhangs noch 15 Jahre vergehen sollten, hatte das Buch, einem Virus gleich, den Zerfall des Sowjetsystems eingeleitet.
Über den Autor
Alexander Solschenizyn wird am 11. Dezember 1918 in Kislowodsk geboren, einem Kurort im nördlichen Kaukasus. Von den russischen Klassikern angeregt, fühlt er sich früh zum Beruf des Schriftstellers hingezogen. Dennoch studiert er Mathematik und Philosophie in Rostow. Nach seinem Examen meldet er sich, als überzeugter Kommunist, zur Front im Zweiten Weltkrieg. Im Rang eines Hauptmanns nimmt er an der Invasion Deutschlands teil. Kurz vor Kriegsende äußert er sich in einem Brief an einen Freund kritisch über Stalin, wird prompt verhaftet und zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt, mit anschließender lebenslänglicher Verbannung. Zunächst steckt man ihn in ein Sonderlager für Wissenschaftler, später in das Arbeitslager Ekibastus in Kasachstan. Zur Verbannung wird er dann nach Kok-Terek geschickt, ein kleines Nest in der kasachischen Steppe, wo er als Lehrer arbeitet. 1957, im Rahmen der Chruschtschow’schen Entstalinisierung, wird er rehabilitiert. Schon im Lager hat Solschenizyn mit dem Schreiben begonnen. 1962 erscheint seine Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch; sie macht ihn auf einen Schlag berühmt. Doch nur wenig später, 1964, dreht der Wind: Chruschtschow wird gestürzt, Solschenizyn zum Staatsfeind erklärt. 1970 erhält er den Nobelpreis für Literatur, kann ihn aber nicht persönlich entgegennehmen, da er fürchtet, dann nicht mehr nach Russland einreisen zu dürfen. 1974, nach der Veröffentlichung von Der Archipel Gulag, weist ihn die Regierung aus. Über Deutschland und die Schweiz emigriert Solschenizyn in die USA. Erst 20 Jahre später kehrt er in seine Heimat zurück. Inzwischen ist der einst glühende Leninist zum orthodoxen Christen geworden. Am 3. August 2008 stirbt Alexander Solschenizyn in Moskau.
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