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Der Baum der Erkenntnis

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Der Baum der Erkenntnis

Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens

Fischer Tb,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Wie wir durch unser Handeln unsere gesamte Welt konstruieren.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Die Biologie der Erkenntnis

Es gibt eine unabhängig von unserem Denken existierende, objektive Welt, die wir durch unsere Sinne wahrnehmen, und Evolution bedeutet, dass alle Lebewesen einem Zwang unterliegen, sich an diese Welt anzupassen – die meisten würden diesen beiden Sätzen wohl zustimmen. Nicht so die chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela. In ihrem 1984 erschienenen Hauptwerk Der Baum der Erkenntnis legen sie Schritt für Schritt anhand der Evolution biologischer Systeme dar, dass diese keineswegs von einer objektiven Außenwelt abhängig sind, sondern dass sie vielmehr sowohl ihre Umwelt als auch sich selbst eigenständig hervorbringen. Diese radikal neue Weltsicht fassen die Autoren im Begriff der „Autopoiesis“ zusammen und stützen sie durch die Ergebnisse ihrer jahrzehntelangen neurobiologischen Forschung. Der Baum der Erkenntnis wirft die uralten Fragen der Philosophie nach dem Wesen von Erkenntnis, Sprache, Bewusstsein und dem Menschen neu auf und beantwortet sie neu, nämlich naturwissenschaftlich. Das Werk weist uns allen die Verantwortung für unsere Welt zu, indem es daran erinnert, dass wir selbst es sind, die durch unser Tun die Welt, in der wir leben, so wie sie ist, hervorbringen.

Take-aways

  • Der Baum der Erkenntnis ist ein Klassiker der Systemtheorie und des Konstruktivismus.
  • Inhalt: Die menschliche Erkenntnis unterliegt einem hochkomplexen Wechselspiel zwischen dem kognitiven System und seiner Umwelt, in dem sich beide wechselseitig hervorbringen und verändern. Das macht die Annahme einer vom Denken unabhängigen Welt überflüssig und ersetzt die Idee einer selektiven Evolution durch das viel offenere Konzept des natürlichen Driftens der Lebewesen.
  • Das Buch ist das Hauptwerk der chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela.
  • Es machte ihre Konzepte erstmals dem breiten Publikum zugänglich.
  • Die Autoren beantworten philosophische Fragen mit biologischen Erkenntnissen.
  • Sie stellen der Darwin’schen Theorie einer natürlichen Selektion ihr Konzept eines natürlichen Driftens gegenüber.
  • Besonders bekannt und viel rezipiert wurde der Begriff der „Autopoiesis“.
  • Mit „Autopoiesis“ bezeichnen die Autoren jenen Prozess, durch den lebendige System sich selbst hervorbringen und reproduzieren.
  • Die Ideen der Autoren wurden in so unterschiedlichen Disziplinen wie in der Psychotherapie, der Soziologie oder der angewandten Mathematik aufgegriffen.
  • Zitat: „Unser Vorschlag ist, dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen.“

Zusammenfassung

Das Erkennen erkennen

Es ist verführerisch einfach, unsere unmittelbare Erfahrung der Welt nicht weiter zu hinterfragen: Die Dinge existieren außerhalb von uns und wir spiegeln sie in unserem Gehirn wider. Mit dieser scheinbaren Gewissheit sollten wir uns jedoch nicht zufriedengeben. Wir sollten stattdessen untersuchen, wie unsere Erkenntnis der Welt tatsächlich funktioniert. Diese Reflexion, durch die wir uns selbst zu erforschen versuchen, ist in der westlichen Kultur verpönt – doch ist das Nichtwissen über uns selbst nicht viel verwerflicher?

„Die Erfahrung von jedem Ding ‚da draußen‘ wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur konfiguriert, welche ‚das Ding‘, das in der Beschreibung entsteht, erst möglich macht. Diese Zirkularität (…) sagt uns, dass jeder Akt des Erkennens eine Welt hervorbringt.“ (S. 31)

Wenn wir uns mit den biologischen Grundlagen unserer Erkenntnis auseinandersetzen, sehen wir, dass die Phänomene, wie wir sie erkennen, nicht wirklich außerhalb von uns existieren, sondern dass wir sie durch unsere spezifische Art des Erkennens erst zu dem machen, als was sie uns erscheinen. Die Welt zu erkennen, bedeutet also vor allem, die Welt hervorzubringen, zu konstruieren. Man könnte sagen: „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist ein Tun.“ Auch ein Buch, das helfen will, das Erkennen zu erkennen, ist ein solches Tun. Es findet, wie alle Reflexion, in der Sprache statt. Die Sprache macht unser spezifisches menschliches Sein aus, deshalb gilt ein zweiter Satz: „Alles Gesagte ist von jemandem gesagt.“

Die Organisation des Lebendigen

Wie kommt es dazu, dass Erkennen ein konstruierendes Tun ist? Evolutionsbiologisch gesehen muss sich dieses Phänomen aus der Organisation des Lebendigen selbst erklären lassen: Als sich lange nach dem Urknall unsere Urerde gebildet hatte, entstand in den riesigen Meeren eine Vielzahl molekularer Strukturen. An einem bestimmten Punkt bildeten sich aus Kohlestoffatomen die ersten organischen Moleküle. Sie wiesen eine schier unendliche Formenvielfalt auf. Eine Folge dieser Entwicklung war die Entstehung molekularer Netzwerke, die sich einerseits gegenüber ihrer Umwelt abgrenzten (etwa durch eine Membran) und die andererseits die Moleküle, aus denen sie bestanden, selbst reproduzieren konnten. Es handelte sich um die ersten Lebewesen: Bakterien und Algen. Lebewesen sind also Einheiten, die sich selbst hervorbringen. Ihre Organisation ist also autopoietisch. Durch ihre eigene Arbeit konstruieren sie sich selbst als ein bestimmtes Etwas. Dadurch unterscheiden sich diese biologischen Phänomene von physikalischen. Die Lebewesen wurden autonom, denn nun regelte ihre interne Organisation ihre Interaktion mit der Umwelt – und nicht mehr eine Kette von chemischen Reaktionen.

„Alles Gesagte ist von jemandem gesagt. Denn jede Reflexion bringt eine Welt hervor und ist als solche menschliches Tun eines Einzelnen an einem besonderen Ort.“ (S. 32)

Lebewesen sind ihrem Wesen nach geschichtlich, sie entstehen nur durch Fortpflanzung. Ihre Organisation ist also stets durch die ihrer Vorfahren beeinflusst. Die spezifische Form der biologischen Fortpflanzung ist die Reproduktion, also die Teilung einer Einheit in zwei neue Einheiten, die derselben Klasse angehören wie die Ausgangseinheit. Es gibt also (anders als bei der Kopie oder Replikation) keine Differenz zwischen dem, der reproduziert, und dem, was reproduziert wird. Erzeuger und Erzeugnis stehen im Zusammenhang der Vererbung. Im Fall der Fortpflanzung durch Zellteilung sorgen die Gene dafür, dass einige Aspekte der Struktur des Kindes identisch mit jener seiner Eltern sind, während sich andere Aspekte davon unterscheiden und reproduktive Variationen darstellen.

„Unser Vorschlag ist, dass Lebewesen sich dadurch charakterisieren, dass sie sich – buchstäblich – andauernd selbst erzeugen. Darauf beziehen wir uns, wenn wir die sie definierende Organisation autopoietische Organisation nennen (…)“ (S. 50)

Die kontinuierliche Autopoiesis von Zellen macht erst die Zusammenballung vieler Zellen zu metazellulären Einheiten möglich. Diese, biologisch nicht notwendige, Organisationsform zweiter Ordnung unterscheidet sich drastisch von jener der Zellen, auf deren Teilung die Reproduktion aller Arten von Metazellern weiterhin basiert. Ob Metazeller, also Organismen, ebenfalls als autopoietische Systeme zu betrachten sind, ist bisher nicht geklärt.

Das natürliche Driften der Lebewesen

Auf jeder Stufe der Fortpflanzung zeigen sich gleichzeitig Unterschiede und Ähnlichkeiten zur vorherigen Stufe: Die Organisation eines Organismus wird erhalten, die Struktur aber variiert. Im Fall des Individuums spricht man von seiner Ontogenese. Jedes Lebewesen lebt in einer bestimmten Umwelt, an die es strukturell gekoppelt, aber von der es operational geschieden ist. Während der gesamten Entwicklung eines Lebewesens führen Umwelteinflüsse fortwährend zu Veränderungen in seiner Struktur – wobei diese Einflüsse aber nicht als direkte Instruktionen der Umwelt aufgefasst werden dürfen. Die Art und Weise, wie ein spezifisches Lebewesen auf einen Einfluss reagiert, wird nur durch seine eigene Struktur determiniert. Umgekehrt beeinflusst und verändert jedes Lebewesen auch ständig seine Umwelt.

„Wenn (…) eine Zelle mit einem Molekül X interagiert und es in ihre Prozesse einbezieht, ist die Konsequenz dieser Interaktion nicht durch die Eigenschaften des Moleküls X bestimmt, sondern durch die Art, wie dieses Molekül von der Zelle (…) ‚gesehen‘ (…) wird.“ (S. 60)

Dieses Schema lässt sich auch auf die Phylogenese, also die geschichtliche Abfolge von durch Reproduktion verwandten organischen Einheiten, anwenden: Jede Art durchläuft einen permanenten Prozess der Anpassung, also einer an die Umwelt gekoppelten Strukturveränderung, während ihre innere Organisation gleich und damit ihre Identität erhalten bleibt. Evolution erscheint somit nicht mehr als ein zielgerichteter, gelenkter Ablauf, sondern eher als ein „natürliches Driften“, in dessen Verlauf sich Lebewesen und Umwelt fortwährend und letztlich zufällig variieren – mit dem einzigen Ziel, ihre gegenseitige strukturelle Kopplung aufrechtzuerhalten. Jede Variation ist erlaubt, solange sie einerseits Fortpflanzung ermöglicht und andererseits die strukturelle Kopplung mit der Umwelt nicht auflöst. Diese beiden Extremfälle setzen dem natürlichen Driften Grenzen und bedeuten den Tod des entsprechenden Stammes.

Verhalten und Nervensystem

Wenn wir Lebewesen und ihr Verhalten erklären wollen, müssen wir sie als strukturdeterminierte Systeme begreifen: Alles, was sie tun, ist bestimmt durch ihre Struktur, die wiederum auf ihre spezifische Kopplung mit ihrer Umwelt zurückgeht. Wenn uns als Beobachter dennoch manchmal der Eindruck beschleicht, dass das Verhalten von Lebewesen unvorhersehbar, sogar frei sei, dann deshalb, weil wir nicht alle für eine Prognose relevanten Informationen haben. Ebenso falsch ist es, wenn wir annehmen, dass die Struktur der Lebewesen jene der Welt lediglich repräsentiert. Sowohl die Unterscheidung zwischen Lebewesen und Umwelt als auch die Bewertung ihrer Interaktion findet ausschließlich im Beobachter statt. Wir müssen lernen, sowohl Repräsentationismus als auch Solipsismus zu vermeiden: Weder spiegeln kognitive Systeme eine objektive Welt wider (denn es gibt keinen Mechanismus der Informationsübertragung zwischen Welt und Gehirn), noch ist die systeminterne Beschreibung der Welt völlig willkürlich (dann könnte das Lebewesen in seiner Umweltnische nicht überleben).

„Jede Ontogenese als die individuelle Geschichte strukturellen Wandels ist ein Driften von Strukturveränderung unter Konstanthaltung der Organisation und daher unter Erhaltung der Anpassung.“ (S. 113)

Verhalten lässt sich folglich nur aus der Beobachterposition bestimmen: als Bewegungen, die einem Lebewesen in Bezug auf seine Umwelt zugeschrieben werden. Die Möglichkeiten des Verhaltens nehmen schlagartig zu, sobald ein Lebewesen ein Nervensystem ausbildet. Dessen evolutionäre Entwicklung hängt eng mit der Entwicklung von Bewegung zusammen. Bereits Einzeller koordinieren ihre sensorischen und motorischen Bestandteile miteinander – und eine solche Verknüpfung ist der Kern jedes Nervensystems. Mit der Entwicklung spezifischer Nervenzellen nehmen die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Zellgruppen sowohl in ihrer Ausdehnung als auch ihrer Komplexität stark zu. Dies führt in größeren Systemen wie jenen der Säugetiere zu einer praktisch unendlichen Zahl möglicher Systemzustände und damit Verhaltensweisen. Das neuronale Netzwerk ist operational geschlossen, jedoch plastisch, das heißt, es nimmt an den ständigen Strukturveränderungen des natürlichen Driftens der Ontogenese teil – was ein Beobachter als Lernfortschritt, Anpassung oder Erkenntnis beschreibt.

Soziale Phänomene

Viele Organismen interagieren nicht nur mit ihrer Umwelt, sondern auch mit anderen Organismen. Solche Interaktionen können besonders eng und dauerhaft werden, sodass die beteiligten Organismen sich schließlich strukturell aneinanderkoppeln. Sie treten in eine gemeinsam gestaltete Ko-Ontogenese ein, ein gemeinsames strukturelles Driften. Solche Phänomene unterliegen einer strukturellen Kopplung dritter Ordnung: sozialen Systemen. Wir finden sie bei allen Organismen, die sich durch sexuelle Reproduktion vermehren, denn bei ihnen muss das Verhalten der Individuen zum Zweck der Zeugung und oft auch der Aufzucht koordiniert werden. Das kann auf äußerst vielfältige Weise umgesetzt werden. Im Kern ist diese Kopplung jedoch ein universelles Kennzeichen alles Lebendigen.

„Da in einem Lebewesen nur innere Zustandsveränderungen auftreten, ist Verhalten nicht etwas, das das Lebewesen an sich tut, sondern etwas, worauf wir hinweisen.“ (S. 151)

Soziale Systeme umfassen aber nicht nur Eltern und Kinder, sondern weitaus mehr Individuen. Ein einfaches Beispiel sind soziale Insekten wie Bienen oder Ameisen. Deren individuelle Ontogenesen werden durch chemische Botenstoffe miteinander koordiniert. Bei den Säugetieren ist die Kommunikation zwischen den Individuen um hörbare und sichtbare Signale erweitert. Bei Wirbeltieren kommt schließlich zur hoch entwickelten Kommunikation noch ein ausgeprägter Sinn für Nachahmung hinzu. Dieser macht nachhaltiges Lernen möglich, wodurch erworbenes Wissen über Generationen hinweg erhalten werden kann. Solche Koordination von Verhalten, wie sie innerhalb der kommunikativen Prozesse eines sozialen Systems hervorgebracht und über Generationen hinweg beibehalten wird, nennen wir Kultur.

Sprache und Bewusstsein

Im Gegensatz zur chemischen Kopplung sozialer Insekten kann die kommunikative Verhaltenskoordination, die ein Organismus im Lauf seiner Ontogenese erlernt, „sprachlicher Bereich“ genannt werden. Sprache im eigentlichen Sinn hat der Mensch entwickelt. Sie lässt sich definieren als Koordination von Handlungen im sprachlichen Bereich, die sich auf Handlungen dieses Bereichs selbst beziehen. Anders gesagt: Sie ermöglicht Reflexion und Bewusstsein oder Geist, denn nur in der Sprache kann ein Sprecher über sich selbst sprechen und sich selbst beschreiben. In den letzten Jahrzehnten legt die Forschung verstärkt nahe, dass auch manche Tiere wie Affen oder Delfine sprechen können.

„Dies ist der Schlüsselmechanismus, durch den das Nervensystem den Interaktionsbereich eines Organismus erweitert: Es verkoppelt die sensorischen und motorischen Flächen mittels eines Neuronennetzes, dessen Konfiguration sehr vielfältig sein kann.“ (S. 174)

Wie Sprache entstand, ist schwer an archäologischen Daten feststellbar. Doch die Lebensweise der frühen Hominiden legt nahe, dass die Wurzel von Sprache in der Liebe liegt. Denn diese Vorformen des Jetzt-Menschen lebten in kleinen Gruppen, deren Mitglieder affektiv stark aneinander gebunden waren, die sich aber auch immer wieder über längere Zeiträume nicht sahen, etwa weil sie auf die Jagd gingen. Männchen und Weibchen waren durch eine nicht länger an eine bestimmte Saison gebundene, sondern das ganze Jahr über andauernde Sexualität stark aneinander gekoppelt. Die Herausbildung von Sprache könnte eine besonders effektive Art der Aufrechterhaltung einer solchen Lebensweise gewesen sein.

Der Baum der Erkenntnis

All unser Wahrnehmen, Denken und Sprechen trägt dazu bei, unsere Welt hervorzubringen. Diese Welt besteht nicht als fixer Bezugspunkt außerhalb von uns, sie ist keine objektive und unabhängige Vorgabe, die wir lediglich in unserem Nervensystem abbilden. Doch das bedeutet nicht, dass alles möglich und relativ ist. Es gibt sehr wohl Gesetzmäßigkeiten in der Welt. Sie sind jedoch historisch gewachsene Ergebnisse einer strukturellen Kopplung zwischen dem menschlichen Beobachter und seiner Umwelt. Das führt uns zu einer radikal neuen Idee von Erkenntnis, nämlich nicht mehr als eine Erkenntnis von Objekten, sondern als eine Art effektiven Handelns. Dieses Handeln schafft nicht nur unsere Welt, sondern auch uns selbst. Indem wir das Erkennen selbst erkennen, bringen wir uns selbst hervor. Auf diese Tatsache macht der Titel des Buches aufmerksam. Er spielt auf den biblischen Sündenfall an, als der Mensch die Frucht vom Baum der Erkenntnis aß und sich seiner selbst bewusst wurde. Das Leben in der unmittelbaren Gewissheit zerbrach, der Mensch entdeckte, dass er erkennt.

„(…) dass die Sprache dem, der damit operiert, die Beschreibung seiner selbst und der Umstände seiner Existenz erlaubt – und zwar mithilfe sprachlicher Unterscheidungen von sprachlichen Unterscheidungen.“ (S. 227)

Aus all dem folgt eine klare Ethik: Wir sollten uns stets daran erinnern, dass wir unsere eigene Welt – gemeinsam mit unseren Mitmenschen – in allen unseren Aktionen und Interaktionen hervorbringen. Die Erkenntnis der Erkenntnis verpflichtet uns, denn wir sind verantwortlich dafür, welche Art von Welt wir gemeinsam erschaffen. Und sie befreit uns, denn wir haben es selbst in der Hand, wie wir leben wollen. Die Untersuchung der biologischen Grundlagen des Menschseins hat gezeigt, dass die menschliche Existenz in der Liebe wurzelt. Soziale Phänomene sind nur möglich, wenn wir den anderen annehmen und in unser Leben integrieren.

Zum Text

Aufbau und Stil

Obwohl Maturana und Varela Naturwissenschaftler sind, ist Der Baum der Erkenntnis alles andere als eine trockene akademische Facharbeit. Das Buch war von den Autoren als allgemeine Einführung in ihre zentralen Konzepte und Ideen geplant und sollte einem möglichst breiten Publikum verständlich sein. Es kann daher als populärwissenschaftliches Werk bezeichnet werden. Gleichwohl kommt es nicht ohne zahlreiche Fachbegriffe aus, von denen viele in einem Glossar erklärt werden.

Das Buch ist reich bebildert mit Diagrammen und Graphen, aber auch künstlerischen Abbildungen, unter anderem mit den berühmten Vexierbildern M. C. Eschers. Sie zeichnen sich durch Zirkularität aus, die Vorder- und Hintergrund, Innen und Außen, Subjekt und Objekt ständig ineinander übergehen lässt. Damit veranschaulichen sie die zentralen Konzepte des Buches. Eingefärbte Infoboxen am Seitenrand fassen regelmäßig besonders wichtige Themen zusammen. Anekdoten, anschauliche Fallstudien und Geschichten lockern den Text auf.

Interpretationsansätze

  • Das Buch leistet einen Brückenschlag zwischen Philosophie und Naturwissenschaft. Es beantwortet die klassischen philosophischen Fragen nach dem Wesen von Erkenntnis, Bewusstsein und Sprache mit evolutions- und neurobiologischen Modellen.
  • Damit erweitern Maturana und Varela die Biologie um eine anthropologische Dimension. Biologische Erkenntnisse werden für alle Lebensbereiche des Menschen relevant, etwa für die Ethik oder das Verständnis von Liebe.
  • Aufgrund ihrer These, dass wir nicht eine objektiv gegebene Welt erkennen, sondern die Welt durch unsere Erkenntnis erst hervorbringen, kann man Maturana und Varela zum radikalen Konstruktivismus zählen. Diese Bezeichnung haben die beiden Autoren allerdings stets zurückgewiesen.
  • Das Werk weist starke Bezüge zur kritischen Philosophie Immanuel Kants auf. Auch Kant behauptete, dass wir die Welt nur durch die Filter unseres spezifisch menschlichen Wahrnehmens und Denkens erkennen und eine Welt „an sich“ nicht erkennen können.
  • Der Titel des Buches verweist auf die biblische Geschichte des Sündenfalls. Anders als in der Bibel wird bei Maturana und Varela das Erlangen der Erkenntnis jedoch nicht als negatives Ereignis verstanden, das die Vertreibung aus dem Paradies bedeutet, sondern positiv, als Beginn einer selbstbewussten Gestaltungsfähigkeit des Menschen.
  • Maturana und Varela legen eine alternative Evolutionstheorie vor, die von derjenigen Charles Darwins abweicht. Der These vom Überlebenskampf, der nur durch erfolgreiche Anpassung überstanden werden kann, setzen sie mit dem „natürlichen Driften“ eine eher spielerische Vorstellung von Evolution entgegen, die ergebnisoffen und wechselseitig ist.

Historischer Hintergrund

Die allgemeine Systemtheorie

Obwohl der Begriff des Systems historisch weiter zurückreicht, entstand die allgemeine Systemtheorie im engeren Sinn erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA. 1949 veröffentlichte der Biologe Ludwig von Bertalanffy Texte zur allgemeinen Systemtheorie, in deren Rahmen er gesellschaftliche und biologische Einheiten als Systeme beschrieb, die je nach denselben Prinzipien, wie Rückkopplung oder Selbstorganisation, funktionieren. Etwa zur selben Zeit begründete Norbert Wiener die Wissenschaft der Kybernetik, die die Steuerung von Systemen untersucht. Ebenfalls Ende der 1940er-Jahre etablierten Claude Shannon und Warren Weaver die Informationstheorie, die Systeme der Kodierung und Übertragung von Daten oder Informationen untersucht. Diese Ansätze sind nur die bekanntesten aus einer Vielzahl von Forschungstätigkeiten, die sich zu jener Zeit unabhängig voneinander entwickelten und die Grundlage legten für die spätere Forschung zur künstlichen Intelligenz, Bionik oder Robotik. Vernetzt wurden sie vor allem durch zehn interdisziplinäre Konferenzen zwischen 1946 und 1953, die von der Macy-Stiftung finanziert und vom Neurophysiologen Warren McCulloch organisiert wurden: die sogenannten Macy-Konferenzen. Zu einer einheitlichen und geschlossenen Disziplin ist die Systemtheorie allerdings bis heute nicht geworden.

Entstehung

Ab 1960 begann Humberto Maturana, seine Vorstellungen von der Biologie der Kognition auszuarbeiten. 1968 lernte er Heinz von Foerster kennen, der damals Professor für Biophysik und Leiter des Biological Computer Laboratory an der Universität von Illinois war. Dessen Forschung zur Computerisierung autonomer biologischer Systeme war derjenigen Maturanas sehr ähnlich. Rückblickend gestand Maturana den Gesprächen mit von Foerster große Wichtigkeit zu, sah aber letztlich keinen direkten Einfluss auf seine Arbeiten, dafür vielmehr auf diejenigen von Foersters. Ab der Mitte der 1960er-Jahre war Francisco Varela ein Schüler Maturanas und arbeitete an dessen erster wichtiger Publikation Biology of Cognition mit. Sie forschten gemeinsam weiter und publizierten 1973 das Buch De maquinas y seres vivos, in dem sie erstmals das Konzept der Autopoiesis und ihre Theorie der Organisation des Lebendigen vorstellten. Doch im selben Jahr setzte der Staatsstreich des General Pinochet ihrer Zusammenarbeit zunächst ein Ende. Beide mussten das Land verlassen und ihre Forschungen unabhängig voneinander fortsetzen.

Ab der Mitte der 1970er-Jahre entwickelte sich in den USA der radikale Konstruktivismus. Dabei waren Ernst von Glasersfeld, Paul Watzlawick und Heinz von Foerster federführend, doch auch Varela nahm an einigen der frühesten Konferenzen dieser neuen Strömung teil. Erst 1980 konnten Maturana und Varela nach Santiago de Chile zurückkehren und ihre gemeinsame Forschung fortsetzen. In diesem Jahr behandelte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) das Problem der Kommunikation und Wissensvermittlung. Ein Mitarbeiter der chilenischen Regierung, Rolf Behncke, machte die OAS auf die Arbeiten Maturanas und Varelas aufmerksam, die das Phänomen der Sprache aus den biologischen Grundlagen des Menschen heraus erklärten. Im September 1980 begann eine Zusammenarbeit zwischen der OAS und Maturana und Varela. Letztere hielten eine Reihe von Vorträgen, die 1984 überarbeitet und als Handreichung für Mitglieder der OAS in Buchform herausgegeben wurde. Diese Publikation war der Kern des Buches Der Baum der Erkenntnis, das Maturana und Varela für die erste öffentliche Publikation 1987 noch einmal überarbeiteten.

Wirkungsgeschichte

Auf Bitte der beiden Autoren übersetzte der mit ihnen befreundete deutsch-chilenische Psychotherapeut Kurt Ludewig das Buch ins Deutsche. Damit wurde die völlig neue Konzeption der Biologie der Kognition 1987 erstmals einer breiten deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft hatten die Autoren damals bereits hohe Anerkennung erlangt. Sie waren Stammgäste bei so gut wie allen namhaften Konferenzen zu Systemtheorie oder Kybernetik. Maturana und Varela wurden zu Vordenkern der Disziplin, und ihre Ideen wurden in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Gebieten aufgenommen und weiterentwickelt, etwa in der Psychotherapie, der angewandten Mathematik, der Linguistik oder der Theaterwissenschaft. Besonders bekannt wurde die Rezeption des Begriffs der Autopoiesis in der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann. Auch in der Literatur wurden die Ideen der beiden Neurobiologen aufgenommen, etwa im 2012 erschienenen Roman Replay von Benjamin Stein, in dem Humberto Maturana sogar die Vorlage für einen der Protagonisten abgibt. Der Baum der Erkenntnis gilt heute als Hauptwerk Maturanas und Varelas, das alle ihre wichtigen Forschungsergebnisse und Theorien enthält.

Über die Autoren

Humberto Maturana wird am 14. September 1928 in Santiago de Chile geboren. Er studiert Medizin an der Universidad de Chile und Biologie und Anatomie in London am University College. 1958 erwirbt er sein Doktorat der Biologie an der amerikanischen Harvard University. Danach arbeitet er am MIT in Cambridge, Massachusetts, bis er 1960 einen Lehrstuhl für Biologie an der medizinischen Fakultät seiner Heimatuniversität in Santiago de Chile erhält. Hier führt er seine bereits in den USA begonnenen Forschungen zur visuellen Wahrnehmung fort und beschäftigt sich intensiv mit der neurophysiologischen Erforschung der biologischen Grundlagen menschlicher Erkenntnis. Dabei entwickelt Maturana einen interdisziplinären Ansatz, der Natur- und Geisteswissenschaften verbindet und den er am gemeinsam mit Ximena Dávila Yañez gegründeten Instituto Matriztico in Santiago de Chile umsetzt. 2009 erhält er das Ehrendoktorat der Universidad de Santiago de Chile.Francisco Varela wird am 7. September 1946 ebenfalls in Santiago de Chile geboren. Er studiert Biologie an der Universidad de Santiago de Chile und schließt sein Doktorat 1970 an der Harvard University ab. Varela arbeitet eng mit seinem früheren Universitätslehrer Humberto Maturana zusammen. Die beiden setzen sich intensiv mit der biologischen Systemtheorie auseinander und entwickeln das berühmt gewordene Konzept der Autopoiesis. Ihre bahnbrechenden Theorien stellen sie in ihrem gemeinsamen Buch Der Baum der Erkenntnis (El árbol del conocimiento, 1984) vor. Varela erhält diverse internationale Lehr- und Forschungsaufträge, etwa in Paris, New York, Zürich oder Santiago de Chile. Von 1988 bis 2001 arbeitet er als Forschungsdirektor für Neurodynamik am Centre national de la recherche scientifique in Paris, einem der größten Forschungszentren Europas. Varela stirbt am 28. Mai 2001 an Krebs.

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