Sören Kierkegaard
Der Begriff Angst
Meiner, 2005
Was ist drin?
Kierkegaards Grundlegung der Existenzphilosophie: Gedanken über die Angst, die Sünde, die Freiheit und die Sexualität.
- Philosophie
- Moderne
Worum es geht
Der Schwindel der Freiheit
In der kurzen, aber äußerst komplizierten Schrift Der Begriff Angst interpretiert Kierkegaard, der Ahnherr des Existenzialismus, die Angst des Menschen als Ursprung seiner Freiheit. Er will die Abhandlung als psychologisches Werk verstanden wissen, taucht aber immer wieder tief in die Dogmatik ein, also in die Auslegung der christlichen Glaubenslehre. Ausgangspunkt ist eine Untersuchung des Sündenfalls. Wie konnte ausgerechnet im Paradies die Sünde in die Welt kommen? Kierkegaards Erklärung: Der erste Mensch erlebte seinen Zustand der Unschuld quasi träumend. Als er aus diesem Traum erwachte, wurde ihm bewusst, dass er vom Nichts umgeben war. Dieses Nichts machte ihm Angst, denn es verdeutlichte ihm seine Freiheit – damit sind schon einige zentrale Begriffe der Existenzphilosophie eingeführt. Kierkegaards Ansichten über den Komplex Angst, Freiheit, Sünde und Sexualität sind mitunter schwierig nachzuvollziehen. Trotzdem war sein Werk sehr einflussreich: Viele seiner Erkenntnisse finden sich in der Theologie, Psychologie und Philosophie des 20. Jahrhunderts wieder.
Take-aways
- In Der Begriff Angst erforscht Sören Kierkegaard die Dimensionen der Angst, der Sünde, der Freiheit und der Sexualität.
- Dabei vermengt er Psychologie mit theologischer Dogmatik.
- Den Ausgangspunkt menschlicher Angst sieht Kierkegaard im Sündenfall.
- Im Zustand der paradiesischen Unschuld wird dem ersten Menschen bewusst, dass er vom Nichts umgeben ist.
- Die Möglichkeiten, dieses Nichts auszufüllen, bereiten ihm Angst, bedeuten aber gleichzeitig seine Freiheit.
- Die Ausübung der Freiheit setzt die Sünde in die Welt.
- Mit der Sünde kommt auch die Geschlechtlichkeit: Sündhaftigkeit und Sexualität sind seitdem eng miteinander verknüpft.
- Wenn die Sinnlichkeit dominiert, wird der Geist suspendiert und die Angst ist am größten.
- Adam symbolisiert zugleich den ersten Menschen und die Menschheit an sich, deshalb pflanzt sich seine Sünde im gesamten Geschlecht fort.
- Das Verhältnis zur Angst ist von Schauder und Lust geprägt. Die Angst erzieht den Menschen zur Freiheit.
- Kierkegaards Werk ist der Grundstein für die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts.
- Es beeinflusste Denker und Dichter wie Heidegger, Sartre, Frisch und Kafka.
Zusammenfassung
Der Begriff der Angst
Nachfolgend soll der Begriff der Angst mit den Mitteln der Psychologie und mithilfe des Dogmas der Erbsünde geklärt werden. Dabei ist es notwendig, den Begriff der Sünde mit zu behandeln. Dieser lässt sich allerdings schwierig in einen Zweig der Wissenschaft einordnen. Normalerweise gehört er in den Bereich der Predigt. Wenn man einen Wissenschaftsbereich für die Auseinandersetzung mit der Sünde wählen muss, dann die Ethik oder die Dogmatik. Zunächst gilt es zu prüfen, ob und inwiefern der erste Sünder, also Adam im Paradies, von der restlichen Menschheit verschieden ist, ob ihm eine Sonderrolle zukommt oder nicht. Wer die Position Adams erklären will, muss auch die Erbsünde erklären und umgekehrt. Der Begriff „erste Sünde“ bezieht sich sowohl auf Adams erste Sünde, mit der die Sünde in die Welt kam, als auch auf die erste Sünde, die jeder Mensch begeht. Adam ist ein Individuum, und zugleich ist er Teil des gesamten Menschengeschlechts. Seine erste Sünde ist darum auch die Erbsünde der gesamten Menschheit.
Die Sünde
Adams erste Sünde war voraussetzungslos, sie kam ohne historische Vorbilder in die Welt. Dies zeigt, dass die Sünde nichts anderes als sich selbst bedingt. Sie setzt nichts voraus außer der Sünde. Diese etwas paradox anmutende Situation ist die einzige Möglichkeit, die erste Sünde nicht als bloßen Zufall abzutun. Wäre der Sündenfall ein Zufall gewesen, könnten wir uns abmühen, eine Erklärung dafür zu finden. Doch die Sünde erschien plötzlich in der Welt, durch einen „qualitativen Sprung“. Wenn Sünde Schuld bedeutet, geht der Mensch durch die Sünde von einem Zustand der Unschuld in einen Zustand der Schuldhaftigkeit über. Doch was war die Unschuld Adams? Sie war vor allem Unwissenheit, wie es in der Bibel folgerichtig erklärt wird. Die Frage, wie die Unschuld verloren ging, lässt sich mit der menschlichen Begehrlichkeit erklären: Allein dadurch, dass Gott ein Verbot aussprach, wurde bereits die Begierde, die Lust, das Verbotene zu tun, geweckt. Dieser menschlichen Veranlagung lässt sich vor allem mithilfe der Psychologie nachspüren.
Das Nichts
Der unschuldige und damit unwissende Mensch ist ganz Seele, ganz Natürlichkeit. Er dämmert vor sich hin, denn sein Geist befindet sich noch im Traum. Auch dies steht schon zutreffend in der Bibel: Der unwissend-unschuldige erste Mensch ist nicht fähig, Gut und Böse zu unterscheiden. Er befindet sich in einem vollkommen friedlichen Zustand, denn es ist niemand da, mit dem er streiten könnte. Dennoch gibt es etwas, mit dem sich dieser Mensch konfrontiert sieht: das Nichts. Der träumende Geist schweift in seiner Wirklichkeit umher, diese aber ist das Nichts. Daraus entsteht Angst.
„Eigentlich gehört die Sünde überhaupt nicht in irgendeine Wissenschaft. Sie ist ein Gegenstand der Predigt, wo der Einzelne als der Einzelne zum Einzelnen spricht.“ (S. 12)
Man muss die Angst deutlich von der Furcht unterscheiden. Furcht bezieht sich immer auf ein Ziel, auf etwas Bestimmtes, vor dem man sich fürchtet. Angst dagegen ist immer die Angst vor dem Nichts oder besser gesagt: vor den Möglichkeiten, dieses Nichts auszuformen und zu füllen, und damit vor der eigenen Freiheit. Das Gefühl, dass im Nichts etwas sein könnte, ist die eigentliche Angst. Das Verhältnis des Menschen zu dieser Angst ist nicht unbedingt negativ, sondern ambivalent: Er liebt und hasst sie zugleich, es ist eine „sympathetische Antipathie“ und gleichzeitig eine „antipathetische Sympathie“.
Die Freiheit
Der Mensch besteht aus zwei Teilen, dem Körper und der Seele. Die Synthese der beiden Elemente ist der Geist. Dieser ist eine „zweideutige Macht“, er kann sich selbst nicht verwerfen, und er kann sich selbst auch nicht ergreifen. Das Resultat: Angst. In Adams Angst hinein fällt Gottes Wort, der unschuldig träumende Geist erhält den Hinweis: „Nur vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen!“ Wie aber kann Adam wissen, dass die Übertretung dieses Verbots böse ist, wenn er es noch nicht übertreten hat? Er kann es nicht, denn die Unterscheidungsfähigkeit stellt sich ja erst mit dem Genuss der verbotenen Frucht ein. Das Verbot erzeugt in Adam jedoch Angst: die Angst, etwas zu können. Es bietet ihm die Möglichkeit der Freiheit. Zudem deutet Gottes Hinweis auf die Strafe für die Übertretung eine weitere Möglichkeit an. Der Tod als Strafe muss Adam allerdings vollkommen abstrakt vorgekommen sein und konnte vielleicht gerade einmal ein unbestimmtes Grauen in ihm hervorrufen.
Die Sexualität
Die Figur der Schlange als Auslöser der Versuchung kann nicht logisch erklärt werden. Denn die Versuchung Adams und Evas durch die Schlange war auch eine Versuchung Gottes, eine Einmischung in das Verhältnis von Gott und Mensch. Dies ist jedoch gemäß der Bibel nicht möglich: Gott versucht niemanden und wird von niemandem versucht. Der Sündenfall ist der qualitative Sprung, mit dem die Sünde in die Welt kam. Er ist psychologisch nicht zu erklären. Gleichzeitig mit der Sünde kam auch das Sexuelle in die Welt. Der noch unschuldige, träumende Geist wird erst im Moment der Sünde wahrhaft zum Geist, also zur Synthese von Körper und Seele, und da das Sexuelle die reinste Form der körperlich-sinnlichen Erfahrung ist, sind Sünde und Sexualität untrennbar miteinander verbunden: keine Sünde ohne Geschlechtlichkeit und keine Geschlechtlichkeit ohne Sünde. Geschlechtlichkeit wiederum ist notwendig, damit sich ein Geschlecht, eine Familie, eine Sippe, mit anderen Worten, damit sich Geschichte herausbilden kann.
Subjektive und objektive Angst
Es lässt sich zwischen objektiver und subjektiver Angst unterscheiden. Bei der objektiven Angst handelt es sich um die Reflexion der Sündhaftigkeit. Sie bezieht sich also nicht auf das menschliche Individuum, sondern auf die Natur und die ganze Welt. Die subjektive Angst herrscht dagegen im einzelnen Menschen. Man kann sie mit dem Schwindel vergleichen, der einen überkommt, wenn man in einen klaffenden Abgrund sieht. Die Angst ist der Schwindel der Freiheit: Man erblickt die eigenen Möglichkeiten und ist dabei ganz benommen. In diesem Angst-Schwindel sinkt die Freiheit nieder, und wenn sie sich wieder erhebt, befindet sie sich für schuldig. Zwischen dem Herabsinken und dem Wiederauftauchen der Freiheit liegt der Sprung, den man wissenschaftlich nicht erklären kann.
Weibliche Sinnlichkeit, männlicher Geist
Die biblische Eva ist ein abgeleiteter Mensch, denn sie wird aus Adams Rippe geformt. Das macht sie dem Mann nicht unterlegen, sie ist aber der sinnlichere Teil von beiden. Das beweisen ihr Körperbau und vor allem ihre Fähigkeit, Kinder zu gebären. Ein Mehr an Sinnlichkeit bedeutet aber auch, dass sie eine höhere Anfälligkeit für Angst und somit mehr Freiheit besitzt. Wo weibliche Schönheit und Sinnlichkeit herrschen, wird der Geist suspendiert.
„Adam ist der erste Mensch; er ist zugleich er selbst und das Geschlecht.“ (S. 27)
Betrachtet man beispielsweise die Bildnisse schöner Griechen und Griechinnen, so wird sofort deutlich, dass ihre Schönheit und Sinnlichkeit nicht geistiger Natur ist. Sie sind unbekümmert und sorglos, ihre Unbeschwertheit schließt den Geist aus, die Angst jedoch ein, auch wenn sie davon nichts bemerken. Der Geist zeigt sich beim Menschen vor allem im Gesicht. Männer wirken durch ihren Geist, Frauen durch ihre Sinnlichkeit. Sind die Augen geschlossen, ist der Geist abwesend, und deswegen sind schlafende Männer nicht gerade als schön zu bezeichnen – und werden in der griechischen Kunst auch selten dargestellt. Frauen dagegen sind im Schlaf genauso schön wie im Wachzustand: Ihre Sinnlichkeit dominiert die Abwesenheit von Geist.
Zeugung und Geburt in Angst
In der Sexualität wird der Geist sich dessen bewusst, dass auch er geschlechtlich unterschieden wird. In der äußersten sexuellen Erregung wird er, der doch eigentlich zwischen Körper und Seele vermittelt, sogar abgesetzt. Hieraus erwächst die Scham. Witze über das Erotische funktionieren genau umgekehrt: Der Geist macht sie dann, wenn er Dominanz über das Geschlechtliche erlangt, sich also davon entfernen kann. Jeder erotische Genuss bedingt auch Angst, nicht unbedingt als etwas Störendes, sondern als etwas, was dazugehört. Es gibt zwei Momente, in denen die Angst am größten und der Geist am entferntesten ist: den Augenblick der Empfängnis und den Moment der Geburt. Der Einzelne wird demzufolge im Moment größter Angst gezeugt und geboren.
„Durch die erste Sünde kam die Sünde in die Welt. Ganz und gar in demselben Sinne gilt es von der ersten Sünde jedes späteren Menschen, dass durch sie die Sünde in die Welt kommt.“ (S. 29)
Warum wird vom Christentum oft gesagt, dass es dem Eros feindlich gesinnt sei? Es ist durchaus nicht so, dass das Erotische als sündhaft gebrandmarkt wird, vielmehr geht es darum, den Geist über das Sexuelle siegen zu lassen. Nur durch die Verdrängung und Leugnung des Erotischen kann der Geist die Kontrolle behalten. Insofern versucht das Christentum auch, Mann und Frau gleich erscheinen zu lassen, als Geist, ohne ihre sinnlichen Attribute. Je mehr Sinnlichkeit existiert, desto mehr breitet sich die Angst aus. Wenn sich der Mensch fortpflanzt, vermehrt sich demzufolge auch die Angst. Das Generationenverhältnis führt dazu, dass seit Adam jede Generation ein höheres Maß an Angst und Sinnlichkeit besitzt als die vorherige. Die Angst verjagen kann man im Grunde nur, wenn man eine Liebe entwickelt, die das Sinnliche vergessen lässt, die Sinnlichkeit geistig verklärt. Man verliert zwar erotische Leichtigkeit, gewinnt jedoch die wahre Bestimmung des Geistes.
Zeitlichkeit und Ewigkeit
Der Mensch existiert nicht nur zwischen den Polen des Leiblichen und des Seelischen, sondern auch zwischen denen des Ewigen und des Zeitlichen. Zeitlichkeit und Ewigkeit berühren sich im Augenblick. Hier durchdringt das Ewige das Zeitliche, und das Zeitliche hemmt das Ewige. Im Augenblick werden Möglichkeiten zur Wirklichkeit. Die Zukunft ist die Projektionsfläche unserer Möglichkeiten. Diese gewähren uns die Freiheit, mit ihnen ist aber wiederum Angst verbunden. Die Angst bezieht sich immer auf die Zukunft. Zwar sind Fälle bekannt, in denen sich Menschen vor ihrer Vergangenheit fürchten, etwa vor einem vergangenen Unglück. Diese Angst richtet sich aber dennoch auf die Zukunft, etwa darauf, dass einem dieses Unglück erneut zustoßen könnte. Etwas, was ein für alle Mal vergangen ist, kann höchstens Reue auslösen, aber keine Angst.
„Welche Wirkung aber hat Nichts? Es gebiert Angst. Das ist das tiefe Geheimnis der Unschuld, dass sie zu gleicher Zeit Angst ist.“ (S. 42)
Bei Geistlosen ist die Angst abwesend, aber sie liegt immer auf der Lauer. Bei den Heiden kulminiert sie zumeist im Schicksalsbegriff. Das Schicksal ist die Einheit von Zufall und Notwendigkeit: Es ist blind (das ist das Zufällige), schreitet aber dennoch planmäßig voran (das ist das Notwendige). Die Angst der Juden zeigt sich zumeist in der Schuld, die vor allem über den Weg des Opfers bekämpft wird – so wie die Heiden gelegentlich ein Orakel bemühen, um ihrer Angst Herr zu werden.
Die Angst vor dem Guten
Angst hat man gewöhnlich vor dem Bösen; es ist aber auch möglich, Angst vor dem Guten zu haben, dann nämlich, wenn das Dämonische die Kontrolle über einen erlangt hat. In der Bibel ist von mehreren dämonischen Menschen die Rede, die nach der Ansprache durch Jesus zeigen, dass sie Angst vor dem Guten haben. Das Dämonische schließt sich selbst ein, es ist verschlossen und doch auch „unfreiwillig offenbar“. Es äußert sich z. B. in Menschen, die nicht mit der Sprache herausrücken, sich zurückziehen und einigeln. Ein Verbrecher, der seine Tat nicht bereut, ist dämonisch und hat Angst vor dem Guten. Es gibt auch Menschen, die einmal von einer Geisteskrankheit befallen waren oder einen Rausch erlebten. Im Nachhinein möchten sie sich dazu zu bekennen, aber es gelingt ihnen einfach nicht. Sie haben zwei Willen: einen machtlosen, der sich offenbaren will, und einen dämonischen, der alles unter Verschluss hält. Das Dämonische ist vom Wesen her plötzlich. Man denke sich einen Schauspieler, der den Mephistopheles verkörpert: Wenn er geht, wirkt er nicht halb so bedrohlich, wie wenn er wie ein Greifvogel im Sturz herabgeschossen kommt. Plötzliche, heftige Bewegungen markieren das Dämonische.
„Angst ist sympathetische Antipathie und antipathetische Sympathie.“ (S. 42)
Es gibt ein Märchen, in dem ein junger Bursche auszieht, um zu lernen, wie man sich ängstigt. Dieses Abenteuer muss jeder Mensch bestehen, denn nur, wenn wir uns ängstigen, können wir unsere Möglichkeiten kennen lernen. Durch die Angst begegnen wir der Freiheit. Um jedoch durch die Möglichkeiten der Freiheit uns selbst zu bilden, benötigen wir den Glauben an Gott. Hier aber endet die Psychologie, und die Dogmatik beginnt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der Begriff Angst ist eines der kompliziertesten Werke Kierkegaards. Selbst Experten halten es an einigen Stellen für „nahezu unleserlich“ und für „schlechterdings eines der Werke, die am wenigsten geeignet sind, um mit der Lektüre Kierkegaards zu beginnen“, so der Kierkegaard-Biograf Joakim Garff. Kierkegaard veröffentlichte die Abhandlung – wie für ihn typisch – unter einem Pseudonym: hier Vigilius Haufniensis. Anders als viele seiner übrigen Werke ist die Abhandlung nach einer strengen Ordnung aufgebaut: fünf Kapitel, die wiederum in durchnummerierte Paragrafen unterteilt sind. Einige Interpreten vermuten darin einen ironischen Kommentar zu ähnlich strukturierten Werken von G. W. F. Hegel, mit dem sich Kierkegaard kritisch auseinandersetzt. Kierkegaards Stil ist allerdings kaum weniger schwierig als der Hegels. Man tut gut daran, jeden Abschnitt ein zweites und vielleicht auch gleich noch ein drittes Mal zu lesen. Zuweilen erklärt der Autor, dass er einen Gegenstand systematisch bearbeiten wolle, ergeht sich dann aber in für den Leser zusammenhanglos erscheinenden Ausführungen. Eigentümlich sind auch die vielen eingestreuten Rechtfertigungen seines Vorgehens und die Ablehnung anderer Methoden, die er als unwissenschaftlich oder unpassend abkanzelt. An einigen Stellen schweift er zudem vom Thema ab oder beginnt mit einer moralisierenden Predigt.
Interpretationsansätze
- Der Begriff Angst ist eine Mischung aus Psychologie und Theologie. Kierkegaard kommt zu erstaunlichen psychologischen Erkenntnissen zu einer Zeit, in der die Psychologie noch in den Kinderschuhen steckte. So liefert er z. B. Erläuterungen über den Zusammenhang von Sexualität und Hysterie bzw. Aggression, die ihn fast wie einen Freudianer erscheinen lassen, und dies einige Jahrzehnte vor Sigmund Freud.
- Die Differenz der Geschlechter ist nach Kierkegaard nirgends so stark wie im Erotischen. Die Verschiedenheit steigert die Spannung, gleichzeitig aber auch die Angst. Folglich lässt sich der wahre Eros nur in der größtmöglichen Unterschiedlichkeit der Partner finden. Salopp formuliert: Das Risiko, sich mit jemandem einzulassen, der sich von einem selbst unterscheidet, macht den besonderen „Kick“ aus.
- Probleme des wirklichen Lebens können laut Kierkegaard keinesfalls durch eine logische und nüchterne Analyse gelöst werden. Nur Versuche oder Annäherungen seien möglich. Deswegen kann man Kierkegaards Abhandlung auch als Polemik gegen Hegel auffassen, dessen wissenschaftliches System Kierkegaard praktisch in jedem Kapitel aufs Neue kritisiert.
- Ironischerweise verwendet Kierkegaard aber als zentrales Element seiner Abhandlung die dialektische Methode, die durch Hegel bekannt wurde: der Geist als Synthese von Körper und Seele.
- Im Zentrum des Existenzialismus, als dessen Begründer Kierkegaard gilt, steht die Existenz des Menschen, sein Geworfensein in die Welt. Anders als viele Philosophen vor ihm interessierte sich Kierkegaard weniger für das Sein der Welt, das Allgemeine und Systematische, sondern vielmehr für den Einzelfall, das individuelle menschliche Leben und die Frage: „Wie soll/kann/möchte ich leben?“
- Kierkegaards Beschäftigung mit dem Phänomen der Angst mutet aus heutiger Sicht höchst unwissenschaftlich an. Er geht von seiner eigenen Befindlichkeit aus und verallgemeinert seine Erfahrungen. Durch die Verbindung mit dem Mythos von Adam und Eva werden seine Thesen auch nicht gerade stärker. Die heutige Psychologie versteht die Angst als Aktivität in der Amygdala, einem Teil unseres Stammhirns.
Historischer Hintergrund
Dänemark im 19. Jahrhundert
Anfang des 19. Jahrhunderts erlebte Dänemark eine Blütezeit. Die seit den Napoleonischen Kriegen zerrütteten Staatsfinanzen erholten sich ab den 1830er Jahren zusehends, und das lange im kulturellen Schlummer liegende Kopenhagen wurde zu einem wichtigen Kulturzentrum Europas, das die unterschiedlichsten geistigen und künstlerischen Strömungen gierig aufsaugte. Der berühmteste Bildhauer Dänemarks, Bertel Thorvaldsen, kehrte aus Rom in die Heimat zurück, und der Dichter Hans Christian Andersen erlangte bereits zu Lebzeiten Weltruhm. Die beginnende Industrialisierung Europas, der Durchbruch liberaler politischer Orientierungen, der wachsende Wohlstand, eine lange Friedensphase und das weitgehend sorglose Leben vieler Bürger: All dies trug dazu bei, dass die Frage, wie der Einzelne sein Leben führen und welchen Sinn er diesem geben soll, neu gestellt wurde. Eine Antwort darauf lieferte die Existenzphilosophie, zu deren Begründern Sören Kierkegaard zählt.
Entstehung
In einer Skizze des Vorworts zu Der Begriff Angst schrieb Kierkegaard über sich selbst als Autor: „Anstatt der ungeheuerlichen Aufgabe, alle Menschen zu verstehen, hat er erwählt, was man vielleicht beschränkt und armselig nennt: sich selbst zu verstehen.“ Die Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis machte Kierkegaard also schon sehr früh im Entstehungsprozess zu seiner Leitaufgabe. Im Oktober 1843 begann der 30-Jährige mit der Arbeit an der Abhandlung, die er in neun kleinen Heften niederschrieb. Kierkegaard-Biograf Joakim Garff bemerkt schmunzelnd, dass die Schreibhefte kunterbunte Umschläge aus Glanzpapier hatten und damit „einen wunderbaren Kontrast zu dem ernsten Inhalt“ bildeten.
Im Dezember 1843 geriet Kierkegaards Arbeit ins Stocken: Er bekam Probleme mit dem vierten Kapitel, das sich nicht so entwickelte, wie er es gerne gehabt hätte. Kurzerhand legte er das Manuskript beiseite und widmete sich zunächst anderen Werken (Zwei erbauliche Reden, Philosophische Brocken). Erst vier Monate später, im April 1844, nahm er sich erneut der Abhandlung an. Beim Redigieren änderte er viel und schwächte auch manche Kühnheit ab, die er sich im Zusammenhang mit der Erläuterung des Erotischen erlaubt hatte. Offensichtlich hatte Kierkegaard ursprünglich vor, das Werk unter seinem richtigen Namen zu veröffentlichen. In letzter Sekunde schrieb er das Werk seinem Pseudonym Vigilius Haufniensis zu, vergaß aber neben dem Deckblatt auch einige Fußnoten anzugleichen, die auf den wahren Autor hindeuten.
Wirkungsgeschichte
Zwar machte seine Philosophie ihn zum Stammvater des Existenzialismus, doch erlebte Kierkegaard diesen Erfolg selbst nicht mehr. Der Begriff Angst blieb, wie die meisten Schriften des Philosophen, in seiner Wirkung auf Dänemark beschränkt. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Kierkegaards Werke ins Deutsche und in andere europäische Sprachen übersetzt wurden, nahm das Interesse an ihnen zu. Angst, Sünde, Verzweiflung und Schuld wurden im 20. Jahrhundert mehr denn je zu wichtigen Themen der Gesellschaft. Die neuartige Angst davor, dass sich die Menschheit selbst vernichten könnte, stellte die Menschen vor die Frage, wie sie ihre Möglichkeiten und ihre Freiheit sinnvoll einsetzen sollten. Autoren wie Franz Kafka, Henrik Ibsen, Rainer Maria Rilke und Max Frisch nutzten das Kierkegaard-Studium sowohl für ihr eigenes Leben als auch für ihre Schriftstellerei.
Der Begriff Angst gehört zusammen mit Entweder – Oder und Die Krankheit zum Tode zu den wichtigsten Werken Kierkegaards, die der Existenzphilosophie die Themen – Angst, Freiheit, Wahl – vorgaben. Andere Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Karl Jaspers und Martin Heidegger knüpften, wenn auch unterschiedlich stark, an Kierkegaard an. Sartre, der anders als Kierkegaard einen atheistischen Existenzialismus vertrat, rechtfertigte den späten Ruhm des Dänen damit, dass die Menschen in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht reif genug für existenzialistische Themen gewesen seien. Die Verbindungen, die Kierkegaard zwischen den Komplexen Angst und Sünde herstellt, klingen zuweilen wie Vorläufer der knapp 50 Jahre später entwickelten psychologischen Methode Sigmund Freuds. Freud stellte die Angst mit verdrängter und unterdrückter Sexualität in Zusammenhang, die einen inneren Konflikt sowie Neurosen und Psychosen auslösen könne. Auch behavioristische und kognitivistische Theoretiker nahmen sich des Themas Angst an.
Über den Autor
Sören Kierkegaard wird am 5. Mai 1813 als jüngstes von sieben Kindern eines wohlhabenden Kopenhagener Kaufmanns geboren. Schon früh setzt er sich, inspiriert von seinen religiösen Eltern, mit der Bedeutung der christlichen Lehre im alltäglichen Leben auseinander. 1830 immatrikuliert er sich an der Universität Kopenhagen, um Philosophie und Theologie zu studieren. Zeitlebens fühlt sich Kierkegaard geprägt von der Melancholie eines christlichen Schuldbewusstseins, das er über seinen Vater kennen gelernt hat, der den Tod seiner Frau und fünf seiner Kinder als Strafe Gottes ansah. 1841 bittet Sören Kierkegaard seine Verlobte Regine Olsen, das ein Jahr zuvor eingegangene Eheversprechen wieder zu lösen. Er hat Angst, wegen seiner Tendenz zur Schwermut nicht der richtige Mann für sie zu sein. Er bleibt ihr aber bis zu seinem Tod treu. In einem an Ereignissen armen Leben ist dies ein Vorgang, der auch in seinen Schriften Niederschlag findet. Wenige Wochen nach dem Bruch mit Regine fährt Kierkegaard nach Berlin, um dort Schellings Vorlesungen zu hören und sich mit dem Werk Hegels vertraut zu machen. Später kritisiert er den Hegelianismus in seinem ersten großen Buch Entweder – Oder. 1845 lässt er Stadien auf dem Lebensweg folgen. Zwischen 1843 und 1855 erscheinen unter diversen Pseudonymen alle weiteren Bücher Kierkegaards, deren Publikation er aus dem Vermögen seines 1838 verstorbenen Vaters finanziert, darunter Furcht und Zittern (1843), Die Wiederholung (1843), Philosophische Bissen und Der Begriff Angst (beide 1844). 1848 werden die Christlichen Reden veröffentlicht, die Kierkegaards Auseinandersetzung mit der dänischen Kirche einläuten. Er wirft ihr vor, dass das Christsein nicht mehr das Ergebnis einer bewussten Entscheidung sei, sondern ein von der Kirche unterstützter, geradezu mechanischer und mit keiner Mühe verbundener Vorgang. 1855 hat Kierkegaard, der nie einem Broterwerb nachgegangen ist, das Erbe des Vaters nahezu aufgebraucht und bereitet sich auf ein Leben in Armut vor. Am 2. Oktober des gleichen Jahres erleidet er einen Schlaganfall, an dessen Folgen er am 11. November stirbt.
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