Friedrich Dürrenmatt
Der Besuch der alten Dame
Eine tragische Komödie
Diogenes Verlag, 1998
Was ist drin?
Konjunkturmotor Mord: Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" ist ein bitterböses Drama über Scheinmoral und die Verlockungen des Wohlstands.
- Tragikomödie
- Moderne
Worum es geht
Ein unmoralisches Angebot
Es ist wahrlich keine nette alte Dame, die Friedrich Dürrenmatt in seinem wohl berühmtesten Drama im verlotterten Provinzkaff Güllen aussteigen lässt. Nein, die steinreiche Claire Zachanassian hat es faustdick hinter den Ohren. Den unterwürfigen Speichelleckern des heruntergewirtschafteten Städtchens macht sie ein unmoralisches Angebot: Im Austausch für eine Finanzspritze von einer Milliarde fordert sie den Tod ihres früheren Liebhabers Alfred Ill. Die anfängliche Entrüstung der Bewohner entpuppt sich rasch als überzogen - sie beginnen Gefallen an der heimtückischen Versuchung zu finden, die sich hinter die biedere, frömmelnde, humanistisch angehauchte Bürgerfassade geschlichen hat. Mehr und mehr verwandeln sich die Straßen von Güllen für Alfred Ill in ein heißes Pflaster. Die Konjunktur rauscht durch Ills Heimatstädtchen, und wie der alles fressende Moloch fordert sie ein Menschenopfer: sein Leben. Der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt, der in der "tragischen Komödie" seine ideale Ausdrucksform fand, lieferte mit dem Besuch der alten Dame eine groteske, rabenschwarze und beim Publikum höchst erfolgreiche Abrechnung mit der Scheinmoral des Bürgertums und den Verlockungen des Wirtschaftswunders. Amüsant, tiefgründig, genial.
Take-aways
- Der Besuch der alten Dame ist neben Die Physiker Friedrich Dürrenmatts bekanntestes Drama. Es wurde 1956 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt.
- Nach 45 Jahren kehrt Claire Zachanassian als Multimilliardärin in ihr Heimatstädtchen Güllen zurück, das inzwischen unter einer anhaltenden Konjunkturflaute leidet.
- Die Bürger der Stadt erhoffen sich von ihr eine kräftige Finanzspritze. Ihr einstiger Liebhaber Alfred Ill soll sie dazu überreden.
- Freimütig verspricht Claire der Gemeinde eine Spende von einer Milliarde - sofern die Bürger dafür Alfred umbringen.
- Denn Claire will Rache: Alfred hat sie damals geschwängert und dann sitzen gelassen. Sie musste in Schimpf und Schande abreisen.
- Anfänglich sind die Güllener über Claires Angebot entrüstet, aber nach und nach erliegen sie der Verführung des in Aussicht gestellten Reichtums.
- Für Alfred Ill wird die Lage prekär, weil sich immer mehr Güllener verschulden und somit die ganze Stadt auf die Spende der Claire Zachanassian angewiesen ist.
- Nacheinander verraten Lehrer, Polizist und Pfarrer ihre Ideale und zeigen Alfred mehr oder weniger deutlich, dass er "fällig" ist.
- Weil seine Fluchtversuche scheitern und sich auch seine Familie von ihm abwendet, gibt er schließlich auf: Er liefert sich einem Schauprozess aus und wird von den Güllenern getötet.
- Die groteske Tragikomödie war sofort sehr erfolgreich und trat einen internationalen Siegeszug an.
- Das Stück erhielt sogar den Preis "Bestes ausländisches Schauspiel" der New Yorker Theaterkritik.
- Die Idee zu dem Drama kam Dürrenmatt angeblich während einer Zugfahrt zwischen Neuchâtel und Bern.
Zusammenfassung
Erwartungsvolle Heimkehr
Nach 45 Jahren kündigt Claire Zachanassian ihre Rückkehr in die Heimatstadt Güllen an. Ein Empfangskomitee aus Bürgermeister, Lehrer, Pfarrer und anderen Bürgern probt am Bahnhof die Begrüßungszeremonie. Auch Alfred Ill, ein Jugendfreund von Claire, wohnt der Probe bei. Alle erwarten, dass die Heimkehrerin mit einem Zug aus der Nachbarstadt eintrifft, da in Güllen keine Schnellzüge mehr halten. Viel hat sich in der Stadt geändert, seit Kläri Wäscher, wie die Zachanassian bei ihrer Geburt hieß, Güllen verlassen hat. Die Kassen sind leer, Gebäude und Straßen heruntergekommen, die Bürger leiden unter der Armut. Man erwartet allgemein, dass die jetzige Multimilliardärin Claire Zachanassian ihrer Heimatstadt mit einer großzügigen Spende auf die Beine helfen wird.
Ein effektvoller Auftritt
Die Empfangsprobe wird durch die Notbremsung des „Rasenden Roland“, eines Schnellzuges, unterbrochen, der schon seit einigen Jahren nicht mehr in dem Städtchen gehalten hat. Claire Zachanassian hat den unfahrplanmäßigen Halt in Güllen verursacht. Den erbosten Zugführer beruhigt die Heimkehrerin mit einigen Tausendernoten. Da steht sie also, die von allen gespannt erwartete Milliardärin: etwa 60 Jahre alt, rote Haare, übertriebener Goldschmuck, Perlenhalsband, grotesk aufgedonnert. Das überraschte Empfangskomitee versucht, durch schnell improvisierte Darbietungen die Situation zu retten. Claire zeigt sich scheinbar beeindruckt, lässt sich den Würdenträgern des Städtchens vorstellen. Den Arzt fragt sie, ob er Totenscheine ausstelle, und weist ihn lapidar an, in Zukunft einen Herzinfarkt festzustellen, was niemand der Anwesenden einordnen kann. Ill hält das für einen ihrer Scherze, aber keiner lacht. Claire Zachanassian lässt sich mittels einer mitgebrachten Sänfte von ihren seltsamen, ungeschlachten Begleitern – zwei Kaugummi kauende Schwerverbrecher, die sie vom elektrischen Stuhl freigekauft hat – ins Städtchen bringen. Ihr Gepäck, darunter auch ein Sarg sowie ein Panther in einem Käfig, lässt sie in den Gasthof „Goldener Apostel“ bringen. In ihrem Gefolge traben ihr Butler Bobby, zwei blinde Männer und ihr siebter Ehemann Moby, ein Plantagenbesitzer.
Ein unmoralisches Angebot
Während sich die Bürger Güllens über Zachanassians seltsame Begleiter und ihre mysteriösen Mitbringsel wundern, erkundet die Heimkehrerin gemeinsam mit ihrem früheren Liebhaber Alfred Ill die Orte vergangener Zweisamkeit. Im Wirtshaus findet der offizielle Empfang durch den Bürgermeister und Gemeindevertreter statt. Die Güllener Bürger heißen Claire Zachanassian euphorisch willkommen. Diese verspricht der Stadt denn auch eine Milliarde – aufgeteilt auf 500 Millionen für das Stadtsäckel und 500 Millionen für die Brieftaschen der Bürger. Das großzügige Spendenversprechen ist jedoch an eine Bedingung geknüpft: Zachanassian will dafür Gerechtigkeit erkaufen. Vor 45 Jahren leugnete Alfred Ill die Vaterschaft ihres gemeinsamen Kindes. Er bestach zwei Zeugen und entledigte sich so der Vaterschaftsklage. Kläri Wäscher verließ nach Ills damaligem Komplott gedemütigt Güllen. Ihr Kind starb ein Jahr später an Hirnhautentzündung. Zunächst verdiente sich Kläri alias Claire ihren Lebensunterhalt als Prostituierte, bis sie durch wechselnde Ehemänner steinreich wurde. Nun ist die Multimilliardärin nach Güllen zurückgekehrt – und verlangt für ihre Spende den Tod von Alfred Ill. Der Bürgermeister lehnt das milliardenschwere Angebot mit Unterstützung der Bürger entsetzt ab. Claire darauf: „Ich warte.“ Claires Butler hat sich inzwischen als der Richter entpuppt, der die Vaterschaftsklage damals zu entscheiden hatte. Bei den beiden blinden Männern in ihrem Gefolge handelt es sich um Ills falsche Zeugen. Aus Rache wurden sie von Claires Leibwächtern kastriert und geblendet.
Alltagsleben in Güllen
Die Güllener sind nach der Ablehnung des Milliardenangebotes wieder zum alltäglichen Leben übergegangen. Während im Gasthof „Goldener Apostel“ ein von Claire geschickt inszeniertes Schauspiel abläuft, in dem sie Kränze an den noch leeren Sarg bringen lässt und gleichzeitig die Verlobung mit ihrem künftigen Ehemann Nummer acht feiert, macht Alfred Ill in seinem Laden erste sonderbare Veränderungen im Verhalten seiner Mitbürger aus. Fast jeder seiner Kunden verlangt hochwertigere und vor allem auch teurere Waren als zuvor. Zahlen können die Bürger nicht, sie wollen Kredit, den ihnen Ill auch gewährt. Kredit genießen die Güllener scheinbar auch in anderen Geschäften der Stadt, denn sie lassen sich neu einkleiden. Die Kunden in Alfred Ills Laden tragen alle neue, gelbe Schuhe. Claires ehemaliger Liebhaber stellt sich die bange Frage, womit sie das alles bezahlen wollen?
Ill sucht Verbündete
Ill will sich gegen Claire zur Wehr setzen. Er wendet sich nacheinander an den Polizisten und den Bürgermeister mit der Bitte, Claire Zachanassian festzunehmen und ihr zu verbieten, ihn weiter zu bedrohen. Der Polizist verweigert die Verhaftung mit der Begründung, ihre Anstiftung zum Mord an Ill sei schon wegen der völlig überhöhten Spendensumme nicht ernst zu nehmen. Auch er trägt gelbe Schuhe und hat einen kostbaren Goldzahn im Mund. Der Bürgermeister, der neuerdings teure Zigarren raucht und eine neue Schreibmaschine gekauft hat, kann Ills Forderung ebenfalls nicht nachkommen. Er spricht dem Händler zudem jegliches moralische Recht ab, die Zachanassian zu verurteilen. Schließlich habe Ill sich vor 45 Jahren schändlich verhalten. Auch der Posten als Nachfolger des Bürgermeisters käme nun nicht mehr für ihn infrage. Beim Pfarrer, den der verzweifelte Ill letztlich konsultiert, erhält er nur den Ratschlag, Güllen schnell zu verlassen: „Flieh, führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibst.“
Die Lage spitzt sich zu
Claire Zachanassians schwarzer Panther flieht aus seinem Käfig und wird von den Güllenern gejagt. Aus diesem Grund laufen die Bürger bewaffnet durch die Stadt. Eine Situation, die Alfred Ill zusätzlich belastet, da er in den Pantherjägern seine eigenen Häscher vermutet. Als der Panther schließlich durch einen gezielten Schuss erlegt wird, ist Ill mit den Nerven völlig am Ende. Er greift nun selbst zum Gewehr und bedroht Claire damit, doch die alte Freundin zeigt sich völlig unbeeindruckt: Sie muss den Milliardentransfer vorbereiten. Ill packt seine Koffer und marschiert zum Bahnhof, um die Stadt Güllen zu verlassen. Mehr und mehr Bürger begleiten ihn. Sie halten seinen Plan, „nach Australien oder so“ auszuwandern, für unsinnig. Schließlich sei er doch in Güllen am sichersten. Als der Zug schließlich einrollt, wagt Ill es nicht, einzusteigen. Sein Versuch zu fliehen, scheitert kläglich.
Ein Rettungsversuch
Der Arzt und der Lehrer suchen Claire Zachanassian auf, in der Absicht, die ausweglose Situation zu retten. Nicht eine Milliarde verschleudern, sondern 100 Millionen gut anlegen solle Claire. Damit könne sie Güllen sanieren. Sie erziele ganz sicher eine gute Rendite, wenn sie nur die Güllener Industrie wieder aufpäppeln wolle. Claire zeigt sich von diesem Ansinnen wenig bewegt. Erstens besitze sie neben der einen Milliarde noch zwei weitere, zweitens gehöre ihr bereits ganz Güllen. Vor Jahren habe sie nämlich mehrere einheimische Unternehmen über Strohmänner erworben und systematisch in den Bankrott gewirtschaftet, damit sie den Güllenern jetzt ihr unmoralisches Angebot machen könne. Angesichts solch perfider Planung sind Lehrer und Arzt ratlos und sehen ein, dass der Besuch der alten Dame kein gutes Ende nehmen wird.
Güllen im Wohlstand
In Güllen, so scheint es, ist der Wohlstand endgültig ausgebrochen: Die Bürger haben nicht nur neue Kleider und neue Autos, sondern tragen auch ein ganz neues Selbstbewusstsein zur Schau. Die Kunden, die Ills Geschäft betreten, nehmen kein Blatt mehr vor den Mund. Manche kritisieren Alfred Ills verwerfliches Verhalten vor 45 Jahren öffentlich. Der Geschäftsinhaber selbst hält sich zunächst völlig versteckt, während sich sogar seine Familie mehr und mehr vom grassierenden neuen Wohlstand anstecken lässt. In der Stadt sind mittlerweile auch Pressevertreter eingetroffen, die von der sonderbaren Spende Claire Zachanassians an die Stadt Güllen erfahren haben. Sie recherchieren in der Angelegenheit und stellen viele Fragen. Sie machen auch vor Ills Familie nicht Halt und befragen Frau und Kinder zum früheren Verhältnis des Ehemannes und Vaters zur „edlen Spenderin“. Den betrunkenen Lehrer plagt ob dieser ausweglosen Situation sein „humanistisches“ Gewissen und er schwingt sich zu einer Rede auf. Doch kann er sein Vorhaben nicht wirklich in die Tat umsetzen, da sich die Güllener auf ihn stürzen. Von weiteren Maßnahmen gegen den Pädagogen werden die Leute abgehalten, weil Alfred Ill im Laden erscheint.
Ill gibt auf
Bereitwillig stellt sich Alfred Ill den Pressevertretern für Fotos zu Verfügung, bevor die Nachricht von Claires neuem Mann die Journalisten an einen anderen Ort der Stadt lockt. Im Gespräch zwischen Ill und dem Lehrer wird mehr als deutlich, dass sich Claires Jugendfreund mit seinem bevorstehenden Schicksal abgefunden hat. Er sieht für sich in Güllen keinen Ausweg mehr. Ill scheint sogar überzeugt davon zu sein, durch sein verwerfliches Verhalten vor 45 Jahren diese Situation heraufbeschworen zu haben. Als der Bürgermeister auftaucht und Ill ein geladenes Gewehr anbietet, um sich selbst zu richten, lehnt dieser aber ab. Stattdessen will er mit seiner Familie noch einen Ausflug im neuen Wagen des Sohns machen. Am Abend, so verspricht Ill es dem Bürgermeister, werde er zu einer Gemeindeversammlung in den Theatersaal des „Goldenen Apostel“ kommen. Dort soll noch einmal in Anwesenheit der Presse über sein Schicksal beraten werden. Wie immer das Urteil auch ausfalle, Alfred Ill verspricht es schweigend anzunehmen.
„Claire Zachanassian: Bin ich in Güllen? - Zugführer: Sie zogen die Notbremse, Madame. - Claire: Ich ziehe immer die Notbremse. - Zugführer: Ich protestiere. Energisch. Die Notbremse zieht man nie in diesem Lande, auch wenn man in Not ist. Die Pünktlichkeit des Fahrplans ist oberstes Prinzip.“ (S. 22)
Ill unternimmt gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern den geplanten Ausflug. Der Sohn kutschiert die Familie durch verschiedene Gegenden und Landschaften rund um Güllen, die in Ill Erinnerungen an alte Zeiten wecken. Mitten im Wald lässt er den Wagen anhalten und nimmt beinahe beiläufig von seiner Frau und den Kindern Abschied. Er wolle jetzt noch ein wenig durch den Wald laufen, um dann anschließend zur Gemeindeversammlung zu kommen. Auf dem Weg dorthin begegnet er Claire Zachanassian, die sich auf ihrer Sänfte durch „ihren“ Wald tragen lässt. Die ehemals Jungverliebten kommen sich noch einmal sehr nahe und erinnern sich an die alten Zeiten. Sie führen ein sehr offenes Gespräch, bei dem auch das nahe Ende Alfred Ills thematisiert wird. Claire teilt Ill mit, dass sie seine Leiche im Sarg mit sich nehmen werde und ihm bereits im Park ihres Palazzos in Capri ein Mausoleum errichtet habe. Sie nehmen voneinander Abschied, und Ill begibt sich zur Gemeindeversammlung.
Alfred Ills Tod
In Anwesenheit der Presse wird über die Stiftung der Claire Zachanassian in der Gemeindeversammlung abgestimmt. Doch die Journalisten haben keine Ahnung, welche Bedingung mit der Annahme der Stiftung von einer Milliarde verknüpft ist. Bürgermeister und Lehrer betonen in ihren Reden noch einmal, dass es ausschließlich um Gerechtigkeit gehe – und nicht um das Geld. Einstimmig wird die Stiftung angenommen. Der Mord ist beschlossene Sache. Die Pressevertreter und die Frauen werden zu einem Imbiss außerhalb des Theatersaals gebeten. Die Männer bleiben mit Alfred Ill zurück. Nachdem der Pfarrer noch letzte Worte an den Verurteilten gerichtet hat, werden die Lichter im Saal gelöscht. Nur noch die Strahlen des Vollmonds, die durch die Fenster der Galerie scheinen, lassen erahnen, was passiert. Die Männer stellen sich zu einer Gasse auf, die Alfred Ill durchschreiten muss. Ein Turner versperrt ihm den Weg hinaus. Die Gasse schließt sich zu einem Menschenknäuel, das sich über Ill zusammendrückt. Als die Presseleute zurückkehren, lockert sich das Knäuel wieder auf. Der Arzt kniet vor dem Leichnam Ills und diagnostiziert: Herzinfarkt. Claire Zachanassian erscheint im Saal und betrachtet lange die Leiche ihrer Jugendliebe. Dann lässt sie Ill einsargen und übergibt dem Bürgermeister den versprochenen Scheck über eine Milliarde. Die Abfahrt der Zachanassian mit dem D-Zug nach Rom wird am Güllener Bahnhof mit einer großen Zeremonie begleitet: Der Chor der Bürger preist den neuen Wohlstand.
Zum Text
Aufbau und Stil
Dürrenmatts „tragische Komödie“ – eine Mischung aus den Elementen beider Varianten des Dramas – besteht aus drei Akten, ganz nach klassischem Muster. Der erste Akt ist die Exposition: Der Zuschauer lernt den Ort und die Personen kennen und wird mit Claires unmoralischem Angebot vertraut gemacht. Der zweite Akt dient der Spannungssteigerung. Das heldenhafte Bekennen der Güllener zu Ill und gegen Claires Milliarde bekommt Risse, und sein Tod wird durch den Tod des Panthers symbolisch vorweggenommen. Am Ende des Aktes erfolgt die Peripetie, der Umschlag der Handlung: Ill muss erkennen, dass er nicht fliehen kann und sein Schicksal besiegelt ist. Der dritte Akt steuert auf die Katastrophe zu. Ills letzte Begegnung mit Claire im Wald fungiert dabei als retardierendes Moment, als Verzögerung des Unausweichlichen. Insbesondere im zweiten Akt spielt sich eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse ab: Während Claire hoch über dem Geschehen, einer Rachegöttin gleich, auf dem Balkon des Gasthauses residiert und mit ihrem Gefolge allerlei Kleinigkeiten beredet, entfaltet sich parallel dazu weiter unten, in Ills Krämerladen, das bedrohliche Güllener Wirtschaftswunder, die Prosperität auf Pump. Wichtigstes stilistisches Element ist Dürrenmatts Hang zur Groteske: Überall in dem Schauspiel wird vermeintlich Unvereinbares kombiniert. Es wimmelt geradezu von Ereignissen, die gleichzeitig komisch und grausig sind. Dazu gehören z. B. Claire selbst, die wie ein Prothesenmensch wirkt (fast alles an ihr ist künstlich), oder der Umstand, dass die Abstimmung über Ills Tod im Bürgerhaus wiederholt werden muss, weil eine Lampe der Filmkamera ausgefallen ist.
Interpretationsansätze
- Schon im Titel führt Dürrenmatt den Leser (bzw. das Publikum) an der Nase herum: Der Besuch der alten Dame klingt so harmlos, dass sich erst auf den zweiten Blick der Abgrund des Stückes auftut. Genau das ist Dürrenmatts Absicht: Nach seiner Auffassung vom grotesken Theater soll das Lachen dem Zuschauer im Hals stecken bleiben.
- Der Name der alten Dame ist ein Konglomerat des Reichtums: Zacha-nass-ian wurde aus einer Verschränkung der Namen Zacharoff, Onassis und Gulbenkian gebildet – allesamt Milliardäre.
- Dass Ill nicht frei von Schuld ist, kommt erst nach und nach heraus. Das Stück ist insofern ein analytisches Drama nach antikem Vorbild, bei dem die Ursachen der Handlung erst allmählich durch die Rekonstruktion der Vergangenheit ans Licht kommen.
- Der Ort der Handlung ist im literarischen Nirgendwo angesiedelt, irgendwo in der Provinz. Den Namen Güllen bezog Dürrenmatt auf die Gülle, einen aus Tierexkrementen bestehenden Dünger. Der Autor umschreibt damit treffend den materiellen und moralischen Zustand der Gemeinde.
- Dürrenmatt fährt bei der Gestaltung des Bühnenraumes eine Strategie der Desillusionierung, wie sie ganz ähnlich bei Brecht vorkommt: Nicht Realismus, sondern Verfremdung (z. B. wird der Wald durch Figuren markiert, die wie Bäume dastehen), nicht Einfühlung, sondern Distanz sollen erzeugt werden.
- Was im Theatersaal der Gemeinde vor den Pressevertretern abläuft, erinnert an einen Schauprozess: Unter dem Vorwand, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, hüllen sich die Vertreter der Stadt in schöne Worthülsen, um den geplanten Wohlstandsmord vor der Welt zu rechtfertigen. Auf groteske Art führt Dürrenmatt hier den Ausverkauf demokratischer Tradition und humanistischer Ideale vor Augen.
Historischer Hintergrund
Das Wirtschaftswunder
Friedrich Dürrenmatt hatte für sein Stück ursprünglich einen Untertitel vorgesehen, der ziemlich genau den historischen Hintergrund des Dramas widerspiegelt: „Komödie der Hochkonjunktur.“ Diese Hochkonjunktur war das Wirtschaftswunder, das nach dem Zweiten Weltkrieg die zerstörte deutsche Wirtschaft zum neuen Blühen brachte. Nach der Währungsreform 1948 zog in Deutschland die Konjunktur wieder spürbar an: Bereits 1952 hatte die Wirtschaft ein Produktionsniveau erlangt, das mit der Vorkriegssituation vergleichbar war. Bis 1960 stieg das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland um über 60 %. Der Aufschwung entstand einerseits durch das Europäische Wiederaufbauprogramm der Amerikaner (den so genannten Marshallplan), andererseits durch die Einführung der sozialen Marktwirtschaft als wirtschaftspolitisches Programm. Ludwig Erhard, der erste deutsche Nachkriegswirtschaftsminister, setzte dieses von der so genannten „Freiburger Schule“ der Ökonomie entwickelte Konzept gegen die Opposition der SPD und ihren Entwurf einer Zentralverwaltungswirtschaft durch.
Damit einher gingen eine massive Liberalisierung und Modernisierung. Konsumgüter, wie sie in Der Besuch der alten Dame als Errungenschaften des Aufschwungs genannt werden (z. B. Schokolade, teure Zigaretten, Steinhäger-Schnaps oder der Opel Olympia) wurden in Deutschland wieder erhältlich. Auch auf die Schweiz, Dürrenmatts Heimat, färbte die Nachkriegskonjunktur ab: Bauboom, Modernisierungs- und Motorisierungswelle schwappten über das Land und forderten ihre Opfer, beispielsweise in der Natur. Vom Standpunkt des Schweizers, der dem Wirtschaftswunder kritisch begegnete, lenkte Dürrenmatt seinen Blick auf die düsteren Seiten der Konjunktur – die mitunter auf Unrecht und Zerstörung baut.
Entstehung
Der Besuch der alten Dame entstand 1955 in Dürrenmatts damaligem Wohnort Neuchâtel. Die Idee für das Drama kam ihm während einer Zugfahrt von Neuchâtel nach Bern. Auf der Strecke liegen zwei kleine Orte namens Kerzers und Ins, in denen der Schnellzug Station machte. Beim Blick aus dem Fenster malte sich Dürrenmatt aus, welch eine Katastrophe es für diese beiden Orte wäre, wenn der Zug nicht mehr stoppen, sondern einfach weiterfahren würde: abgeschieden von der Restschweiz, ohne Reisende, ohne potenzielle Käufer. Daraus entwickelte sich die Eröffnungsszene des Dramas, in der die Güllener den Schnellzügen hinterhertrauern, die zu Zeiten der Hochkonjunktur in dem Städtchen noch Station gemacht haben. Der Rest des Dramas ist aus der Umarbeitung eines Novellenfragmentes mit dem Titel Mondfinsternis entstanden, das Dürrenmatt erst 1978 im Rahmen einer Stoffsammlung rekonstruierte. Die Literaturwissenschaft hat mehrere literarische Vorbilder für das Drama gefunden. Am deutlichsten scheint der Einfluss von Mark Twains 1899 veröffentlichter Geschichte The Man That Corrupted Hadleyburg, in der sich ein Mann von den Bürgern einer amerikanischen Kleinstadt schlecht behandelt fühlt und sie daraufhin in Versuchung führt, um ihre Heuchelei zu entlarven.
Wirkungsgeschichte
Der Besuch der alten Dame wurde am 29. Januar 1956 im Schauspielhaus Zürich unter der Regie von Oskar Wälterlin uraufgeführt. Die Hauptrollen waren mit den bekannten Schauspielern Gustav Knuth als Alfred Ill und Therese Giehse als Claire Zachanassian besetzt. Im selben Jahr erschien die Tragikomödie auch in Buchform und avancierte zum meistgespielten Stück der Theatersaison 1956/57. Für Friedrich Dürrenmatt bedeutete dies den ersten wirklich großen Theatererfolg – und finanzielle Unabhängigkeit. Ein Jahr später erlebte das Stück seine deutsche Erstaufführung an den Münchner Kammerspielen. Kritiker und Publikum waren sich einig: Dies war Dürrenmatts bis dahin bestes Werk, dem später allenfalls noch Die Physiker das Wasser reichen konnte.
Auch auf internationalen Bühnen machte Der Besuch der alten Dame eine gute Figur: 1956 in Japan, 1957 in Paris und Stratford-upon-Avon, 1960 in Mailand. Am Broadway feierte das Stück 1958 einen besonderen Erfolg: Es wurde als „Best Foreign Play“ mit dem Preis der amerikanischen Theaterkritiker ausgezeichnet. Die New York Times schrieb begeistert: „Eines der anregendsten und fesselndsten aller Stücke, die seit dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden sind.“ 1958 verfasste Dürrenmatt ein Drehbuch für eine Verfilmung der ARD, die eine Traumeinschaltquote von 81 % erreichte. Auch der amerikanische Film adaptierte die Geschichte 1964 unter dem Titel The Visit. In den Hauptrollen: Ingrid Bergman und Anthony Quinn. Allerdings wurde daraus eine typische Hollywoodproduktion – inklusive Happy End. Schließlich wurde das Drama sogar in Form einer Oper umgesetzt, die 1971 an der Wiener Staatsoper uraufgeführt wurde. Dürrenmatt selbst erstellte das Libretto, der Komponist Gottfried von Einem die Musik. Weitere Fernsehfassungen folgten 1982 (mit Maria Schell und Günter Lamprecht) und 1992 (eine etwas exotisch anmutende Adaption: die alte Dame in einem senegalesischen Dorf).
Über den Autor
Friedrich Dürrenmatt wird am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Schweizer Kanton Bern geboren. Sein Vater ist protestantischer Pfarrer. In Bern besucht Dürrenmatt das Freie Gymnasium und das Humboldtianum, 1941 legt er die Matura ab. Er ist bestenfalls ein mittelmäßiger Schüler und bezeichnet die Schulzeit später als die übelste Phase seines Lebens. In Bern und Zürich studiert er Philosophie, Literatur- und Naturwissenschaften. Seinen eigenen biografischen Schriften zufolge führt er das Leben eines verkrachten Studenten. 1946 zieht er nach Basel, ein Jahr später heiratet er die Schauspielerin Lotti Geissler, mit der er insgesamt drei Kinder hat. 1947 wird sein erstes Theaterstück Es steht geschrieben uraufgeführt. Aus Geldnot verfasst Dürrenmatt Anfang der 50er Jahre seinen wohl bis heute bekanntesten Kriminalroman Der Richter und sein Henker (1950/51), es folgen Der Verdacht (1951/52) und Das Versprechen (1958). Die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi (1952) und Ein Engel kommt nach Babylon (1953) machen ihn einem breiten Publikum bekannt, die Dramen Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1962) begründen seinen Weltruhm. Ab 1952 lebt der Schriftsteller in einem eigenen Haus bei Neuchâtel. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet Dürrenmatt 1984 die Schauspielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr. Wechselvoll ist sein Verhältnis zur zweiten großen Figur der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts, Max Frisch. Die anfängliche Freundschaft schlägt in gegenseitiges Ressentiment um, das auf persönlicher Antipathie und literarischen Differenzen beruht. Dürrenmatt erhält im Lauf seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Georg-Büchner-Preis. Sein literarisches Werk ist äußerst vielfältig: Neben Theaterstücken und Romanen umfasst es Hörspiele, Essays, Erzählungen, Vorträge sowie autobiografische, literatur- und theatertheoretische Schriften. Daneben arbeitet Dürrenmatt zeitweise als Regisseur und ständig als Maler und Zeichner. Er stirbt am 14. Dezember 1990 in Neuchâtel an einem Herzinfarkt.
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