Edgar Allan Poe
Der Doppelmord in der Rue Morgue
tredition, 2011
Was ist drin?
Das Gründungswerk einer neuen literarischen Gattung: der Detektivgeschichte.
- Kriminalroman
- American Renaissance
Worum es geht
Die erste Detektivgeschichte
Knapp und bündig klärt der analytisch begabte junge Franzose C. August Dupin einen ebenso spektakulären wie rätselhaften Doppelmord in Paris auf. Dupins spezielles Talent liegt in der genauen und vor allem unvoreingenommenen Beobachtung sämtlicher Details. Nur weil er alle außergewöhnlichen Umstände dieses Falls in Betracht zieht, gelangt er zur Lösung. Dupin ist kein Privatdetektiv und erst recht kein Kommissar, eher ein Amateurdetektiv, auch wenn diese Bezeichnung eigentlich literaturhistorisch verfrüht ist. Mit Dupin schuf Poe das in seiner Brillanz fast unübertroffene Vorbild aller späteren Kriminalermittler einschließlich Sherlock Holmes. Die kleine Erzählung entstand kaum in der Absicht, ein neues literarisches Genre zu begründen, dennoch markiert Der Doppelmord in der Rue Morgue zweifellos die Geburt der Kriminalliteratur.
Take-aways
- Der Doppelmord in der Rue Morgue gilt als die erste Detektivgeschichte der Literatur.
- Inhalt: Der junge Franzose C. August Dupin wird durch einen Zeitungsbericht auf einen rätselhaften Doppelmord in Paris aufmerksam. Gemeinsam mit einem Freund studiert er alle Zeugenaussagen und untersucht selbst den Tatort. Mithilfe exakten analytischen Denkens zieht er die richtigen Schlüsse und löst den Fall.
- Der analytisch und rational vorgehende Dupin ist das Urbild vieler literarischer Detektive und Kommissare.
- Dupins Freund, der Erzähler der Geschichte, ist der Vorläufer vieler späterer Detektiv-Assistenten.
- Die berichthaft gehaltene Erzählung wird von einer theoretischen Betrachtung zum Thema analytisches Denken eingeleitet.
- Die Spannung für den Leser entsteht aus der Monstrosität des Verbrechens und dadurch, dass der Erzähler bis zum Schluss Informationen vorenthält.
- Poe legt seine Hauptfigur Dupin als Typ fest und entfaltet sie nicht als Charakter; auch dies wirkte vorbildhaft auf spätere Krimis.
- Der Doppelmord in der Rue Morgue entstand, während Poe als Redakteur und Literaturkritiker für eine Zeitschrift in Philadelphia arbeitete.
- C. August Dupin tritt in zwei weiteren Erzählungen Poes als Ermittler auf.
- Zitat: „Die Wahrheit liegt nicht in den tiefen Tälern, wo wir sie suchen, sie liegt auf der Höhe der Berge, wo wir sie finden.“
Zusammenfassung
Das analytische Denken
Das analytische Denken selbst ist nur schwer analysierbar. Seine Eigenart und Wirkung ist die Entwirrung komplexer Sachverhalte. Ist die Lösung eines solchen Rätsels gelungen, wirkt sie ganz intuitiv, sie ist aber das Ergebnis eines streng methodischen Denkprozesses. Mathematische Studien schulen das analytische Denken, wenn auch Rechnen und Analysieren nicht dasselbe sind. Ein wesentliches Element einer erfolgreichen Enträtselung, eines erfolgreichen analytischen Denkprozesses ist es, sich in einen anderen Menschen möglichst vollkommen hineinversetzen zu können. Das erfordert eine größere geistige Kraftanstrengung als das Schachspiel. Beim Schachspiel muss man nur konzentriert sein, um keinen möglichen Spielzug zu übersehen. Es ist also keineswegs eine tiefgründige Angelegenheit, sondern nur eine Art komplizierte Berechnung. Eine Denkschule höchsten Ranges bietet dagegen das Whistspiel. Hier hängt der Erfolg vom Erfassen aller Möglichkeiten ab. Doch weil diese oftmals nicht so offensichtlich sind wie beispielsweise die Kombinationen auf einem Schachbrett, bedarf es beim Whist einer besonderen Beobachtungsgabe – vor allem in Bezug auf die Körpersprache des Gegners. Von der Analysefähigkeit ist die Klugheit zu unterscheiden. Ihr Unterschied ist noch größer als der zwischen bloßer Fantasie und wahrer Vorstellungskraft. Kluge Leute verfügen oft über viel Fantasie, tun sich aber häufig schwer mit der Analyse. Andererseits sind die mit wahrer Vorstellungskraft Begabten immer auch gute Analytiker.
Ein zufälliger Bekannter in Paris
In einer Buchhandlung in Paris lernt der Erzähler durch Zufall C. August Dupin, einen jungen Herrn aus guter Familie, kennen. Dieser ist allerdings verarmt, seine einzige Leidenschaft sind Bücher, er erweist sich als sehr belesen und geistig äußerst lebendig. Nach etlichen anregenden Gesprächen beziehen die beiden Männer gemeinsam ein kleines Haus im Stadtteil Faubourg Saint-Germain. Der Erzähler übernimmt rasch von Dupin die Marotte, tagsüber die Fensterläden zu schließen und sich bei Kerzenlicht im Haus aufzuhalten. Die beiden gehen nur nachts spazieren und genießen fasziniert das Spiel von künstlichem Licht und Schatten in der Stadt. Sie empfangen keine Besuche, sondern leben bewusst ganz isoliert. Allmählich zeigt sich bei Dupin ein überragendes analytisches Denkvermögen. Er kann viele Menschen ohne Weiteres durchschauen.
„Die eigentümlichen geistigen Eigenschaften, die man analytische zu nennen pflegt, sind ihrer Natur nach der Analyse schwer zugänglich.“ (S. 5)
Bei einem der nächtlichen Spaziergänge, in der Nähe des Palais Royal, überrascht Dupin seinen Freund nach einer Weile des Schweigens mit einer Bemerkung, die genau das trifft, worüber sich sein Freund gerade Gedanken macht. Er dachte nämlich an einen bestimmten Schauspieler, der wegen seines kleinen Wuchses für bestimmte tragische Rollen als ungeeignet gilt. Dupin erklärt, wie er die Gedanken seines Freundes hat erraten können: Beim Einbiegen in die Gasse, die sie gerade entlangschlendern, hat der Erzähler einem mit einer Last beladenen Obsthändler ausweichen müssen und sich dabei an losen Pflastersteinen den Fuß vertreten. Dupin bemerkte, dass sein Freund sich danach in Gedanken immer noch mit Pflastersteinen befasste, weil er den Blick gesenkt hielt und nach einer Weile den Fachbegriff „Stereotomie“ murmelte. Aus früheren Gesprächen der beiden wusste Dupin, dass dieses Wort eine bestimmte Assoziationskette auslösen würde, die über die antike Atomlehre zum Orionnebel führt. Außerdem hatten sich die beiden bereits früher über einen lateinischen Ausspruch unterhalten, der sich auf den Namen Orion bezieht, und dieser Ausspruch ließ sich wiederum auf den etwas hochtrabenden Künstlernamen jenes Schauspielers übertragen, über den kürzlich eine abfällige Kritik in der Zeitung zu lesen gewesen war. Zuletzt hat Dupin noch beobachtet, wie sein Freund sich aus der für jenen Schauspieler typischen gebückten Haltung heraus bewusst aufrichtete – damit war er sich vollends sicher, dass sein Begleiter gerade an den Schauspieler gedacht hatte.
Doppelmord in der Rue Morgue
Einige Tage später erfahren die beiden aus der Zeitung von einem grausigen Verbrechen in der Rue Morgue im Zentrum von Paris. Dessen Entdeckung wird minutiös beschrieben: Durch Schreie des Entsetzens gegen drei Uhr morgens geweckt, brachen mehrere Anwohner und zwei Gendarmen das Tor eines Hauses auf, dessen vierter Stock von Mme. L’Espanaye und ihrer Tochter Camille bewohnt wurde. Noch im Treppenhaus hörten die Leute laut streitende Stimmen, die dann verstummten. Das Hinterzimmer der Wohnung, das auch aufgebrochen werden musste, war vollkommen verwüstet. Am Boden verstreut fand man verschiedene Wertsachen, darunter 4000 Francs in Gold, außerdem ein Rasiermesser sowie blutbesudeltes Menschenhaar an Fetzen von Kopfhaut. Der Leichnam der Tochter steckte kopfüber im engen Schornstein des Kamins, ihr Gesicht war verkratzt, dunkle Quetschspuren am Hals deuteten auf Erdrosselung. Der Leichnam der Mutter lag im Hof. Der Kopf war vom Rumpf fast komplett abgetrennt, das Gesicht beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Die Zeugenaussagen
Am folgenden Tag berichtet die Zeitung über die Vernehmung von Zeugen aus dem Umfeld der Opfer und aus der Nachbarschaft. Die Wäscherin Pauline Dubourg bestätigt, dass nur der vierte Stock des Hauses bewohnt gewesen sei, dass die Damen wohlhabend und freundlich gewesen seien und dass sie zurückgezogen und ohne Dienstboten gelebt hätten. Der Tabakhändler Peter Moreau bekräftigt insbesondere die Aussage über das zurückgezogene Leben. Der Gendarm Isidor Muset berichtet über das Aufbrechen der Türen und über die Schreie, die man im Treppenhaus gehört hatte. Ein Mensch habe französisch gesprochen, der andere habe spanisch geklungen. Der Silberschmied Henri Duval, der auch im Treppenhaus war, schreibt der fremden Stimme dagegen einen italienischen Klang zu. Der zufällige Passant Odenheimer bezeichnet die französisch sprechende Stimme als angst- und zornerfüllt zugleich. Er und andere Zeugen haben die Worte „sacré“, „diable“ und „mon Dieu“ vernommen. Der Bankier Jules Mignaud bestätigt, dass Mme. L’Espanaye vermögend gewesen sei und sich drei Tage zuvor 4000 Goldfrancs habe ausbezahlen lassen. Sein Gehilfe Adolphe Lebon sagt aus, er habe das Geld ordnungsgemäß abgeliefert. Es sei ihm dabei niemand gefolgt. Der Schneider William Bird, ein in der Nachbarschaft wohnender Engländer und einer der ersten im Treppenhaus, hält die Laute der fremdartigen Stimme für deutsch und sagt, er habe Kampf- und Schlurfgeräusche von innen vernommen. Die meisten Zeugen bestätigen, dass die Tür des Hinterzimmers von innen verriegelt gewesen sei.
„Man kann beinahe mit Sicherheit behaupten, dass die klugen Menschen stets fantasiereich und die mit wirklicher Einbildungskraft begabten stets Analytiker sind.“ (S. 8)
Der Leichenbestatter Alfonzo Garcio, ein Spanier, der ebenfalls in der Rue Morgue wohnt, hält die schrille Stimme für englisch sprechend, er kann aber selbst kein Englisch. Der im Treppenhaus anwesende italienische Konditor Montani meint, es sei Russisch gewesen, er hat allerdings noch nie mit einem Russen gesprochen. Der herbeigerufene Arzt Paul Dumas nahm noch in der Mordnacht eine Leichenbeschau vor. Der Kehlkopf von Camille war völlig zusammengepresst, auf der Magengrube befand sich eine große Quetschung wie von einem Knie. Camille wurde also erwürgt. Ihre Mutter hat zahlreiche Knochenbrüche erlitten, ihr ganzer Körper war entstellt und misshandelt, wohl durch Schläge mit einem schweren Prügel, der Hals ist mit dem Rasiermesser durchtrennt worden. Am Tag nach den Morden wurde der Tatort noch einmal gründlich durchsucht, ohne neue Erkenntnisse. Spuren, die über das Eindringen oder die Flucht des Täters Aufschluss geben könnten, wurden nicht gefunden.
Dupins Ermittlungen
Dupin und der Erzähler verfolgen die Nachrichten mit großem Interesse. Dupin äußert sich aber erst, als die Zeitung meldet, Lebon, der Überbringer der 4000 Goldfrancs, sei verhaftet worden. Dupin hegt den starken Verdacht, das sei voreilig gewesen, und räsoniert über die methodischen Denkansätze der vermeintlich schlauen Pariser Polizei. Er kritisiert, dass man allzu leicht Gefahr laufe, sich in Kleinigkeiten zu verheddern, wodurch man dann den Überblick verliere. Dupin besorgt sich eine Erlaubnis vom Polizeipräfekten und beginnt mit eigenen Ermittlungen am Tatort in der Rue Morgue. Das Haus wird immer noch von Gaffern umlagert. Als Erstes betrachtet Dupin, begleitet vom Erzähler, mit großer Aufmerksamkeit von einer rückwärtigen Gasse aus die Rückseite des Hauses und die nähere Umgebung. Anschließend nimmt er das unverändert belassene, verwüstete Zimmer in Augenschein. Für Dupins Freund ergibt sich kein neuer Anhaltspunkt. Auf dem Rückweg macht Dupin kurz halt, um dem Büro der Pariser Tageszeitung Le Monde einen Besuch abzustatten.
Dupins Überlegungen
Erst am folgenden Mittag äußert sich Dupin wieder über die Tat. Er weist zunächst darauf hin, dass die Zeitungsberichte nicht auf das besondere Grauen des Verbrechens eingegangen sind. Auch wundere sich niemand darüber, dass alle zum fraglichen Zeitpunkt im Treppenhaus anwesenden Zeugen aus dem Zimmer Wortwechsel gehört hätten. Es habe sich aber niemand im Zimmer selbst befunden und wegen der Leute habe auch niemand unbemerkt durchs Treppenhaus fliehen können. Dupin meint, gerade das Ungewöhnliche an dem Fall müsse die entscheidenden Hinweise zu dessen Lösung liefern, statt – wie bei der Polizei – das Denken zu lähmen. Außerdem sei von dieser noch nicht beachtet worden, dass sich alle Zeugen dahingehend einig sind, dass eine der beiden Stimmen von einem Franzosen gewesen sei.
„Es war eine Marotte meines Freundes – denn wie anders sollte ich es nennen? –, dass er in die Nacht um ihrer selbst willen verliebt war (...)“ (über Dupin, S. 10)
Besonderes Augenmerk richtet Dupin auf die möglichen Fluchtwege des Täters. Bei seiner eigenen Ortsbegehung hat er festgestellt, dass es weder geheime Ausgänge gibt noch ein Entweichen durch die engen Schornsteine möglich war. Es bleiben also nur die beiden Fenster. Zwar waren sie verschlossen und von innen verriegelt. Aber geleitet von seinen Vorüberlegungen hat Dupin sie genau untersucht und bei einem den Riegel zerbrochen gefunden, ohne dass dies auf den ersten Blick sichtbar war. Außerdem hat Dupin an der Rückseite des Hauses bemerkt, dass man dieses den Blitzableiter entlang erklettern könnte, um über einen Schwung mit dem Fensterladen direkt vor das Fenster zu kommen.
„Mit leisem Kichern rühmte er sich zuweilen, dass für ihn die meisten Menschen ein Fensterchen auf der Brust hätten, und er unterstützte derartige Behauptungen auf der Stelle durch geradezu verblüffende Beweise von seiner genauen Kenntnis meines eigenen Seelenlebens.“ (über Dupin, S. 10)
Auch zum Zustand des Zimmers gibt Dupin manches zu bedenken. Das Zimmer war zwar verwüstet und sah aus wie ausgeraubt, doch es war nichts gestohlen worden, jedenfalls nicht die wertvollsten Gegenstände. Somit entfallen also jegliche Motive, von deren Vorliegen die Polizei routinemäßig ausging. Dupin meint sogar, es gebe überhaupt kein Motiv. Die Misshandlungen und die Todesarten der beiden Opfer – das Erwürgen Camilles, ihr Verstecken im Kaminschacht, die ausgerissenen Haare und der Zustand der Leiche von Mme. L’Espanaye – lassen auf eine schier übermenschliche Kraft und tierische Rohheit schließen. Dupin fand bei Mme. L’Espanayes Leiche ein Büschel Haare, die keine Menschenhaare sind. Von den Quetschungen an Camilles Hals hat er einen Abdruck gezeichnet, der zeigt, dass hier keine Menschenhand zugedrückt hat. Durch den Vergleich mit Abbildungen in einem Lexikon schließt er, die Tat müsse das Werk eines Orang-Utans gewesen sein.
„Ihrem Vorgehen liegt keine andere Methode zugrunde als die, die ihr der Augenblick eingibt.“ (Dupin über die Polizei, S. 23)
Während Dupin seinem Freund all dies darlegt, erwartet er einen Besucher, von dem er sich weitere Aufschlüsse erhofft. Dupin hat nämlich bei der Zeitung Le Monde eine Anzeige aufgegeben, in der er anbietet, einen angeblich eingefangenen Orang-Utan seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.
Der Matrose und der Orang-Utan
Wie von Dupin vermutet, handelt es sich bei dem kurz darauf eintreffenden Besucher um einen Matrosen. Dupin gaukelt ihm vor, im Besitz des Tieres zu sein. Als der Matrose einen kleinen Finderlohn anbietet, verlangt Dupin ein Geständnis bezüglich der Vorgänge der Mordnacht. Nach anfänglicher Verblüffung erzählt der Matrose, was es mit dem Affen auf sich hat:
„Die Wahrheit liegt nicht in den tiefen Tälern, wo wir sie suchen, sie liegt auf der Höhe der Berge, wo wir sie finden.“ (Dupin, S. 24)
Das Tier sei von einem Kameraden auf Borneo gefangen worden. Nachdem der Kamerad überraschend gestorben war, übernahm der Matrose den Orang-Utan. Er schaffte es, den Affen nach Paris zu bringen, und wollte ihn an den Jardin des Plantes verkaufen. Eines Tages überraschte der Matrose den Affen dabei, wie er sich in Nachahmung seines Herrn zu rasieren versuchte. In dieser beiderseitigen Schrecksekunde floh das Tier mit dem Messer in der Hand. Der Matrose verfolgte es. Spät in der Nacht brannte in der Rue Morgue bei den L’Espanayes zufällig noch Licht. Der Orang-Utan kletterte dort hinauf – über den Blitzableiter und mithilfe des Fensterladens direkt in das Zimmer der beiden Frauen. Der Matrose konnte zwar den Blitzableiter erklimmen, von dort aber nur durchs Fenster das Geschehen beobachten. Er wurde so entsetzter Zeuge der Metzelei, die das Tier anrichtete. Erst als dieses seinen Herrn im Fenster erblickte, bekam es sozusagen Schuldgefühle, verwüstete das Zimmer und beseitigte die Leichen via Schornstein und Fenster. Der Matrose floh nun vom Schauplatz und stieß dabei die Worte aus, die die Leute auf der Treppe gehört hatten, zusammen mit dem Gekreische der ebenfalls fliehenden Bestie.
„Was nun diese Mordtat betrifft, so wollen wir lieber zuerst die Sache selbst näher untersuchen, ehe wir uns ein Urteil darüber bilden. Ich verspreche mir viel Spaß davon.“ (Dupin, S. 24)
Der Matrose fängt das Tier später selbst wieder ein und verkauft es wie geplant. Der Geldbote Lebon wird nach dem Vortrag Dupins beim Polizeipräfekten unverzüglich freigelassen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der Doppelmord in der Rue Morgue ist eine Kurzgeschichte. Eingeleitet wird der Text von theoretischen Überlegungen des Autors zu verschiedenen Formen des analytischen Denkvermögens. Die Handlung wird dann in einer chronologischen Abfolge einzelner klar strukturierter Szenen, ähnlich denen in einem Theaterstück, erzählt. Spannung wird dadurch erzeugt, dass dem Leser wichtige Informationen zunächst vorenthalten werden. Nach der Entdeckung des Verbrechens ist die Erzählung ganz auf die Indizien und deren Deutung fokussiert. Der Icherzähler wirkt völlig unpersönlich, wie ein Berichterstatter. Die Beschreibung des Tatorts und die Wiedergabe der Zeugenaussagen in indirekter Rede tragen zum bewusst sachlichen, fast distanziert wirkenden Stil entscheidend bei.
Interpretationsansätze
- Poes Versuch einer Analyse der Analyse kreist um Begriffe wie „Aufmerksamkeit“, „Beobachtungsgabe“, „Berechnungsvermögen“, „Kombinationsgabe“ oder „Einbildungskraft“, die er gegeneinander abzugrenzen versucht. Die nachfolgende Erzählung soll verdeutlichen, was er damit meint. Dupins ausführliche, auf Indizien beruhende Deduktion der Gedanken seines Freundes während des Spaziergangs am Palais Royal ist ein Paradebeispiel für Poes Theorie des analytischen Denkens.
- Dupin wird als vollkommene Verkörperung der analytischen Fähigkeiten dargestellt. Sein Intellekt steht ganz im Vordergrund, sonstige persönliche Eigenschaften werden kaum erwähnt, Emotionales spielt keine Rolle. Er bleibt also ein Typ, der Typ des Detektivs, und wird nicht als Charakter entfaltet. Das wird kennzeichnend für spätere Ermittler und Kommissare und für das ganze Genre der Kriminalliteratur.
- Umso auffälliger ist Dupins einzige Marotte: sein Leben im Dunkeln. Er lebt hinter geschlossenen Fensterläden, geht nur nachts aus, meidet jeden gesellschaftlichen Kontakt, verstärkt das Träumerische durch Duftkerzen. Dupin und der Erzähler befinden sich dadurch in einer anderen Welt. Diese Abschottung fördert die absolute Konzentration auf den Fall, die Poe wichtig ist. Vielleicht kann sie auch als Hinweis auf die Kräfte des Unbewussten gesehen werden.
- Trotz ihrem scheinbaren Realitätsbezug spielt die Erzählung in einer hochfiktiven, geradezu künstlichen Welt mit in sich abgeschlossenen Räumen, sowohl in der Rue Morgue als auch im Stadtteil Faubourg Saint-Germain, einer Welt, in der dann selbst die völlig unwahrscheinliche Orang-Utan-Geschichte noch glaubwürdig wirkt. In einer mit der wirklichen Welt besser verbundenen Erzählung wäre diese Geschichte kaum plausibel.
- Dupins Freund, der Icherzähler, bleibt vollkommen blass und zurückgenommen. Er fungiert lediglich als Übermittler des Geschehens und der Gedanken Dupins. Durch seine eigene geistige Durchschnittlichkeit wird Dupins Brillanz umso deutlicher. Die für den Krimi typische Konstellation von Ermittler und Assistent ist hier schon vorgeprägt.
- Die ganze Erzählung ist auch ein Versuch über das Entschlüsseln mehrdeutiger oder unvollständiger Information und somit ein Versuch über Hermeneutik.
Historischer Hintergrund
Die USA um 1840
Um 1840 waren die USA noch eine junge Nation. Großbritannien hatte die Unabhängigkeitserklärung von 1776 erst nach dem Unabhängigkeitskrieg 1783 anerkannt. Die Bundesverfassung war 1787 in Kraft getreten, und 1789 war mit George Washington der erste US-Präsident gewählt worden. Bis 1840 hatten sich die zunächst nur aus den vergleichsweise kleinen englischen Ostküstenkolonien entstandenen Vereinigten Staaten durch verschiedene bedeutende Territorialerweiterungen über den Mississippi hinaus vergrößert. Der ganze Südwesten von Texas bis Kalifornien gehörte 1840 noch zu Mexiko als Erbe des spanischen Kolonialreichs. Erst nach 1820 begannen der Ausbau einer Verkehrsinfrastruktur und die Ansiedlung von Farmern westlich der Appalachen. Der Bau eines Kanals zwischen Erie-See und Hudson River erschloss das nordwestliche Hinterland in Richtung der Großen Seen und ermöglichte den Aufstieg New Yorks. 1826 begann der Eisenbahnbau und beförderte die industrielle Revolution in den USA. Bis 1850 war ein Schienennetz zwischen Mississippi und Ostküste entstanden.
1837 wurden die USA von einer Wirtschaftskrise erschüttert. Vorausgegangen waren Boomjahre mit massiven Investitionen von Staat und privaten Siedlern in Land (auf Kosten der Indianer) und in Verkehrsinfrastruktur, vor allem in die Eisenbahn. Dieser Boom führte zu einer Spekulationsblase, die 1837 platzte, als die Banken kein Papiergeld mehr gegen Edelmetall eintauschten. Die Immobilienpreise verfielen, und es kam zu Bankzusammenbrüchen und zu einer drastischen Verschuldung der Einzelstaaten. Die Kreditkrise zog die gesamte Wirtschaft jahrelang in Mitleidenschaft. Erst nach 1842 verbesserte sich die Situation.
Zwischen 1823 und 1841 erschienen die fünf Lederstrumpf-Romane von James Fenimore Cooper. Cooper und Washington Irving zählten zu den ersten amerikanischen Autoren, die auch in Europa bekannt wurden. Poe kritisierte die zeitgenössische amerikanische Literatur noch als provinziell. Doch schrieben damals bereits Nathaniel Hawthorne und Herman Melville an ihren bahnbrechenden Werken. Um 1840 wirkte der Naturspiritualist Ralph Waldo Emerson, 1845 bezog sein Adept, der Erznonkonformist Henry David Thoreau, mit von Emerson geliehenem Geld eine Blockhütte am Walden Pond. Später hielt er diesen Lebensabschnitt in seinem Werk Walden fest.
Entstehung
Edgar Allan Poe wurde durch einen Zeitungsbericht über einen ungelösten Mordfall zu seiner Erzählung angeregt. Sie erschien 1841 im Graham’s Magazine in Philadelphia. Zeitschriften wie das Graham’s Magazine waren weniger Literaturmagazine als vielmehr Vorläufer der heutigen Illustrierten. Sie enthielten allerlei Gesellschaftsnachrichten, aktuelle Ereignisse, viel über Modetrends und die Kulturszene, Kritiken und auch erzählerische Texte. Das Graham’s Magazine war angesehen, seine Illustrationen wurden gelobt, die Auflage war hoch. Zu den Beiträgern gehörten zeitweise Nathaniel Hawthorne und James Fenimore Cooper.
Poe war zu jener Zeit selbst Redakteur beim Graham’s Magazine, wo er vor allem bissige Kritiken veröffentlichte. Da er einen Assistenten hatte, der große Teile der Korrespondenz für ihn erledigte, hatte er genug Zeit, eigene Texte zu verfassen. Dem erhaltenen Manuskript zu Doppelmord in der Rue Morgue kann man entnehmen, dass er im ursprünglichen Titel „The Murders in the Rue Trianon Basse“ die Worte „Trianon Basse“ durchgestrichen und durch „Morgue“ ersetzt hat. „Morgue“ bedeutet Leichenschauhaus. So erhielt der Titel im englischen Original durch die Alliteration von „Murders“ und „Morgue“ einen schaurig-schönen Klang.
Wirkungsgeschichte
Der Doppelmord in der Rue Morgue beeinflusste die Literaturgeschichte stark. Zunächst trat August Dupin in zwei weiteren Erzählungen von Poe auf: in Das Geheimnis der Marie Roget (1842) und Der entwendete Brief (1844). Der bekannteste literarische Nachfolger Dupins ist zweifellos die Figur Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle. Auch ihm steht ein – deutlich weniger brillanter – Assistent zur Seite. Die nächstberühmten Amateurdetektive mit einem Dupin-haften Scharfsinn sind Miss Marple und Hercule Poirot von Agatha Christie. Diese Detektive haben auch ihre Marotten, die leicht wiedererkennbar sind und durch die sie als Typen festgelegt sind. Auf diesen drei bekanntesten Detektivfiguren beruhen viele moderne Detektive und Kommissare. Der Doppelmord in der Rue Morgue wurde mehrfach verfilmt oder als Hörspiel dramatisiert.
Über den Autor
Edgar Allan Poe wird am 19. Januar 1809 in Boston geboren. Als er zwei Jahre alt ist, stirbt seine Mutter, der Vater hat sich schon vorher davongemacht. Als Vollwaise kommt Poe in die Familie des schottischen Tabakhändlers John Allan nach Richmond in Virginia. Auch wenn es oftmals Krach zwischen Poe und seinem Pflegevater gibt, nimmt er aus Dankbarkeit Allans Namen als seinen zweiten Vornamen an. Nach der Schulausbildung in Schottland, England und Richmond immatrikuliert sich Poe 1826 an der Universität von Virginia. Doch noch im gleichen Jahr bricht er das Studium ab. Ein Streit mit seinem Ziehvater führt dazu, dass Poe mittellos das Haus von Allan verlassen muss und nach Boston übersiedelt. Hier unternimmt er erste literarische Gehversuche. Er lebt in Baltimore bei seiner Tante Maria Clemm. Die wieder einsetzenden Zuwendungen Allans ermöglichen Poe den Besuch der Militärakademie von Westpoint. Im März 1831 wird er wegen dienstlicher Verfehlungen entlassen. Poe schreibt Gedichte und versucht sich an kurzen Prosageschichten, die er vor allem in Zeitungen veröffentlicht. Von 1835 bis 1837 ist er Herausgeber des Southern Literary Messenger und macht sich einen Namen als strenger Kritiker. Poe wird bekannt für seine meist mysteriösen Geschichten, kann aber kaum von seiner Schriftstellerei leben und schlägt sich in verschiedenen Städten bei unterschiedlichen Zeitungen durch. Er gilt als Erfinder der Detektivgeschichte und als wichtiger Autor der fantastischen Literatur. Zu seinen bekanntesten Erzählungen zählen Der Untergang des Hauses Usher (The Fall of the House of Usher, 1839), Der Doppelmord in der Rue Morgue (The Murders in the Rue Morgue, 1841) und Die Grube und das Pendel (The Pit and the Pendulum, 1842). Ein Überraschungserfolg wird 1845 das Gedicht Der Rabe (The Raven). Danach wird Poe zu vielen Lesungen und Vorträgen eingeladen. Als seine junge Frau Virginia Clemm, die er 1836 geheiratet hat, 1847 stirbt, verschlechtert sich auch Poes eigene Gesundheit. Sein Alkohol- und Drogenkonsum tut ein Übriges. Poe stirbt am 7. Oktober 1849 in Baltimore, nachdem er mehrere Tage in verwirrtem Zustand im Krankenhaus gelegen hat. Die Todesursache ist bis heute ungeklärt: Alkoholvergiftung, Tollwut oder ein Verbrechen sind die verbreitetsten Vermutungen.
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