Bertolt Brecht
Der gute Mensch von Sezuan
Suhrkamp, 2013
Was ist drin?
Eine Parabel über die Frage, ob man zugleich ein guter Mensch und glücklich sein kann.
- Parabel
- Deutsche Exilliteratur
Worum es geht
Gut und glücklich geht nicht
Der gute Mensch von Sezuan ist Bertolt Brechts meistgespieltes Drama und ein Stück wie aus dem Lehrbuch. Dass es in einer ausbeuterischen Gesellschaft keine Menschen geben kann, die zugleich gut und glücklich sind, wird dem Zuschauer sonnenklar vor Augen geführt – nur die auf ganzer Linie versagenden Götter wollen das weder einsehen noch etwas daran ändern. Um die Gedanken seines Publikums anzukurbeln, fährt Brecht ein ganzes Arsenal von Verfremdungseffekten auf: Lieder, Lachnummern, Komplizenschaft mit den Zuschauern, sogar ein Ende, das keines ist und das sich der Zuschauer gefälligst selbst ausdenken soll. Dergestalt mit didaktischen Pfeilen beworfen zu werden, ist womöglich nicht jedermanns Sache, und man muss einen gewissen Schematismus, eine Eindimensionalität der Handlung in Kauf nehmen. Das allerdings liegt in der Natur der Parabel, und die ist im Übrigen gewitzt, elegant und kurzweilig – und sie stellt die richtigen Fragen.
Take-aways
- Der gute Mensch von Sezuan ist ein Parabelstück von Bertolt Brecht.
- Inhalt: Die Prostituierte Shen Te wird von den Göttern als einzig guter Mensch im verarmten Sezuan ausgemacht. Die Götter schenken ihr Geld, aber Shen Tes Nächstenliebe treibt sie fast in den Ruin. Um sich zu schützen, gibt sie vor, ihr eigener Vetter zu sein, der geschäftstüchtige Shui Ta. Als das Versteckspiel schließlich auffliegt und Shen Te die Götter fragt, wie sie anders hätte handeln können, bleiben sie ihr eine Antwort schuldig.
- Die Doppelrolle der Hauptfigur illustriert den Grundkonflikt zwischen Nächstenliebe und Eigenliebe.
- Stilistisch zieht Brecht mehrere Register: Umgangssprache, lyrische Passagen und parodistische Songtexte wechseln sich ab.
- Das offene Ende des Stücks wurde unterschiedlich gedeutet.
- Brechts sogenanntes episches Theater arbeitet mit Verfremdungseffekten, die nicht auf ein Mitfühlen des Zuschauers zielen, sondern auf ein Selberdenken.
- Brecht schrieb das Stück zwischen 1939 und 1941 im skandinavischen Exil, aber die ersten Einfälle reichen viel weiter zurück.
- Es wurde 1943 in Zürich uraufgeführt. Erst in den 50ern wurde es in der DDR und der BRD gezeigt.
- Die gängige Inszenierungspraxis in der DDR, wo Brecht nach dem Krieg lebte, legte als Lösung eine sozialistische Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft nahe.
- Zitat: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Zusammenfassung
Vorspiel
Der Wasserverkäufer Wang stellt sich dem Publikum vor. Er berichtet erfreut, dass einige der höchsten Götter in die chinesische Provinz Sezuan unterwegs sein sollen. Endlich, denn die Armut in Sezuan sei so groß, dass nur noch Götter helfen könnten. Wang identifiziert schließlich drei Männer, die ihm sagen, sie bräuchten ein Quartier für die Nacht, als Götter. Wang, der selbst in einem Kanalrohr lebt, versucht, eine Unterkunft zu finden, aber mehrere Leute weisen ihn ab. Die Götter sind auf die Erde gekommen, um gute Menschen zu finden, die ein menschwürdiges Dasein leben – wenn sie solche Menschen finden, so meinen sie, kann die Welt so bleiben, wie sie ist. In zwei Provinzen haben sie schon vergeblich gesucht. Auch Wang scheidet leider aus, er ist kein guter Mensch: Die Götter finden heraus, dass sein Wassermessbecher einen doppelten Boden hat. Immer mehr Leute weisen Wang ab. Der sagt schließlich, nun bleibe nur noch die Prostituierte Shen Te übrig, die könne nie Nein sagen. Und tatsächlich: Shen Te heißt die Götter willkommen.
Ein Geschenk der Götter
Die Götter haben vernommen, dass Shen Te ihre Miete kaum bezahlen kann, also hinterlassen sie ihr 1000 Silberdollar, bevor sie weiterziehen. Shen Te kauft sich von dem Geld einen Tabakladen. Sie hofft, nun viel Gutes tun zu können – zum Beispiel gibt sie Frau Shin, der Vorbesitzerin des Ladens, Reis für deren Kinder. Frau Shin allerdings verhält sich eher fordernd als dankbar, sie verlangt Geld und bezeichnet Shen Te als Halsabschneiderin. Kurz darauf kommen Shen Tes ehemalige Wirtsleute, die sie einst auf die Straße setzten, als ihr das Geld ausging, und bitten um Obdach. Shen Te heißt sie willkommen. Auch der nächste Eintretende ist kein Kunde, sondern ein Arbeitsloser, der nach einer kostenlosen Zigarette fragt. Shen Te gibt ihm eine. Die Frauen schimpfen sie geschäftsuntüchtig und neiden einander, was sie von ihr bekommen haben. Frau Shin verlässt hastig den Laden, als ein Mann hereinkommt, der sich als Schreiner vorstellt. Er hat die Regale gebaut und wurde von Frau Shin nicht bezahlt; nun verlangt er 100 Silberdollar von Shen Te, die sie allerdings nicht hat. Die einstigen Wirtsleute erfinden rasch einen Vetter für Shen Te, der alles bezahlen werde. Shen Te nimmt das auf: Ihr Vetter heiße Shui Ta und er werde bezahlen. Als die Hausbesitzerin Frau Mi Tzü mit dem Mietvertrag erscheint, schiebt man abermals den Vetter vor: Er werde für Shen Te bürgen. Unterdessen sind immer weitere Familienmitglieder der einstigen Wirtsleute gekommen; alle drängen sich in Shen Tes Laden.
Der Vetter räumt auf
Früh am nächsten Tag betritt ein junger Mann den Laden, in dem überall Nachtgäste herumliegen, und stellt sich als Vetter Shui Ta vor. Er sagt, Shen Te sei verhindert und er übernehme in ihrer Abwesenheit ihre Geschäfte. Er bittet die Leute freundlich, aber unmissverständlich, zu gehen. Als sie es nicht tun, lässt er sie von einem Polizisten abführen, weil sie eines der Kinder Frühstück haben stehlen lassen. Die Regale des Schreiners handelt Shui Ta von 100 auf 20 Silberdollar herunter. Schwieriger ist der Umgang mit der Hausbesitzerin: Sie hat herausgefunden, das Shen Te eine Prostituierte war, und verlangt 200 Silberdollar, die Miete eines halben Jahres, im Voraus. Da ist selbst Shui Ta mit seiner Weisheit am Ende. Der Polizist schlägt eine Heirat Shen Tes mit einem reichen Mann vor.
Shen Te verliebt sich
Shen Te ist auf dem Weg zu einem Treffen mit einem reichen Witwer, als sie im Park auf Sun trifft, einen arbeitslosen Flieger, der seit zwei Tagen nichts gegessen hat. Er hat einen Strick dabei und will sich aufhängen. Shen Te hält ihn davon ab und verliebt sich in ihn. Sie verbringt die Nacht mit ihm und geht früh am Morgen zu Fuß zurück in ihr Viertel. Beschwingt kauft sie sich einen hübschen Schal bei der Frau des Teppichhändlers. Diese freut sich für Shen Te und fragt, ob ihr neuer Geliebter vermögend sei. Als Shen Te verneint, folgt die Frage, wie sie denn dann die Halbjahresmiete für ihren Laden bezahlen könne. Dieses Problem hatte Shen Te schon ganz vergessen. Das Teppichhändlerehepaar leiht ihr die 200 Silberdollar, ihre Tabakvorräte sollen als Pfand dienen; Schriftliches sei aber nicht nötig. Shen Te nimmt dankend an.
„Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können.“ (der dritte Gott, S. 12)
Frau Yang, Suns Mutter, sucht Shen Te auf und sagt ihr, ihr Sohn habe eine Postfliegerstelle in Peking in Aussicht – sie koste allerdings 500 Silberdollar. Sie bittet Shen Te, ihrem Sohn zu helfen. Shen Te gibt Suns Mutter die 200 Silberdollar, die sie eben für die Miete bekommen hat. Sie beschließt, für die restlichen 300 erneut ihren Vetter Shui Ta zu rufen – was sie eigentlich nicht mehr tun wollte, weil er zu hart ist.
Geld oder Liebe?
Shen Te verwandelt sich vor den Augen des Publikums in Shui Ta. Als Sun Shen Te sucht, findet er Shui Ta im Tabakladen vor. Dieser fühlt Sun auf den Zahn, unterstützt aber prinzipiell Shen Te darin, ihrem Herzen zu folgen, und die Fliegerstelle in Peking scheint auch seriös zu sein. Als Frau Mi Tzü kommt, um die Miete einzutreiben, sagt Shui Ta, er wolle den Laden verkaufen. Sie bietet ihm 300 Silberdollar – die Summe, die Sun noch fehlt. Sun überzeugt Shui Ta, das Angebot trotz der hohen Verluste und der Tatsache, dass der Tabakvorrat verpfändet ist, anzunehmen. Als Shui Ta zu bedenken gibt, dass kein Geld für eine Unterkunft für zwei Personen in Peking da sei, antwortet Sun, dass er Shen Te nicht gleich mitnehmen werde: Sie wäre ihm nur ein Klotz am Bein. Shui Ta will zurückrudern und auch die 200 Silberdollar wiederhaben, doch Sun erwidert, das werde er mit Shen Te besprechen; sie sei ihm völlig ergeben.
„Jetzt bleibt nur noch die Prostituierte Shen Te, die kann nicht nein sagen.“ (Wang, S. 14)
Als Sun den Laden verlassen hat, glaubt sich Shen Te verloren. Frau Shin meint, sie solle den Barbier Shu Fu heiraten, der Interesse an ihr bekundet habe. Als Shui Ta sucht Shen Te den Barbier umgehend auf und erzählt ihm von seiner Cousine. Shu Fu gibt zu, schon lange von Shen Te und ihrer Güte begeistert zu sein, er sagt, man nenne sie im Viertel den „Engel der Vorstädte“. Er möchte ihr die Gelegenheit geben, ihre Güte im großen Stil einzusetzen, und bietet zum Beispiel leer stehende Baracken an, in denen sie Obdachlose unterbringen könnte. Shen Te, erklärt Shui Ta, werde zwar noch über ihre unglückliche Liebe hinwegkommen müssen und dazu für eine Weile aufs Land fahren, aber zuvor sicher mit Shu Fu bei einem Abendessen über soziale Projekte sprechen wollen. Nachdem Shui Ta ins Nebenzimmer gegangen ist, kommt Sun herein. Shen Te, die sich rasch wieder in sich selbst verwandelt hat, kommt aus dem Nebenzimmer und lässt sich nur zu gern von Sun davon abhalten, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt.
Die Hochzeit platzt
Shen Te erzählt dem Publikum auf dem Weg zu ihrer Hochzeit mit Sun, dass die Teppichhändler ihr Geld zurückwollen – für sie bedeutet das, dass Sun auf seine Fliegerstelle verzichten muss. Das sagt sie ihm, bevor die Hochzeitszeremonie beginnt. Sun hofft auf das Eintreffen des Vetters Shui Ta und darauf, mit ihm verhandeln zu können. Als Shen Te erkennt, dass Sun des Geldes wegen auf ihren Vetter wartet, kommt es zum Streit: Shen Te verlangt von Sun, dass er auf die Fliegerstelle verzichtet, weil sie nur auf Kosten des alten Teppichhändlerehepaars zu haben ist. Sun will ohne den Vetter nicht mit der Hochzeitszeremonie beginnen – und so kommt es nicht zur Eheschließung.
Die Tabakfabrik
Shen Te ist nun ohne Mann und wohl auch bald ohne Laden. Da stürzt der Barbier Shu Fu herbei, zeigt sich beeindruckt, wie Shen Te ihr Liebesglück geopfert hat, um die Teppichhändler nicht zu ruinieren, und gibt ihr einen Blankoscheck, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Shen Te will den Scheck eigentlich nicht annehmen, aber dann merkt sie, dass sie schwanger ist – und das ändert für sie alles. Für ihr Kind will sie von nun an alles tun, und sei es um den Preis, dass sie zu anderen Menschen schlecht sein muss. Sie verwandelt sich wieder in Shui Ta und macht aus den Baracken des Barbiers, in denen Shen Te inzwischen Obdachlose untergebracht hat, eine Tabakfabrik: Alle ehemaligen Obdachlosen können dort arbeiten. Auf den Blankoscheck trägt Shui Ta 10 000 Silberdollar ein. Die Tabakfabrik ist schnell erfolgreich, aber die Zustände für die Arbeiter sind kaum menschenwürdig. Sie sind eng zusammengepfercht, schlafen an ihrem Arbeitsplatz, auch die Kinder müssen arbeiten.
„Ich bin nicht gut. Aber ich habe es auch nicht leicht.“ (Wang, S. 15)
Frau Yang kommt mit ihrem Sohn Sun vorbei, um bei Shui Ta ein gutes Wort für ihn einzulegen. Sun hat, als der Plan mit der Fliegerstelle scheiterte, innerhalb von zwei Tagen die 200 Silberdollar durchgebracht. Shui Ta bietet ihm an, in der Fabrik zu arbeiten. Dort arbeitet sich Sun zum Aufseher hoch und wird ein gnadenloser Antreiber. Seine Mutter ist Shui Ta sehr dankbar: Er habe aus ihrem verkommenen Sohn das Beste herausgeholt.
Shen Te entführt?
Shen Te ist im siebten Monat schwanger. Frau Shin hat ihr Geheimnis herausbekommen und steht ihr zur Seite. Im Viertel gehen allerdings Gerüchte über die verschwundene Shen Te um: dass ihr etwas zugestoßen sein könnte, dass sie vielleicht überhaupt nicht weg sei, da wieder Reis für die Bedürftigen vor der Tür stehe, auch dass sie schwanger sei. Sun ist dabei, als Wang von diesen Gerüchten erzählt. Er glaubt an eine Schwangerschaft und vermutet, dass der Vetter Shen Te versteckt habe. Bestätigung bekommt er, als er ein eindeutig weibliches Schluchzen aus einer Kammer hört, in die Shui Ta hineingegangen ist. Er sagt Shui Ta auf den Kopf zu, dass er das Mädchen gefangen halte. Sun will Shui Ta erpressen und verlangt eine hohe Stellung in der Firma, andernfalls hole er die Polizei.
„In unserem Lande / braucht der Nützliche Glück.“ (Shui Ta, S. 61)
Auch die Fabrik ist in Schwierigkeiten: Mittlerweile arbeiten dort doppelt so viele Menschen, wie auf diesem Raum zulässig wären. Bei einer Besprechung mit Herrn Shu Fu über die Baracken zeigt dieser sich nicht mehr bereit, mit dem Vetter zu verhandeln: Er möchte endlich mit Shen Te selbst sprechen. Das, so Shui Ta, sei jedoch erst in drei Monaten möglich. Von Frau Mi Tzü könnte Shui Ta neue Fabrikräume haben, doch sie stellt die Bedingung, dass Sun zu ihr geht: Sie brauche einen geschäftstüchtigen Verwalter. Shui Ta lässt sich nach einigem Zögern darauf ein.
„Die Guten / Können sich nicht helfen und die Götter sind machtlos.“ (Shui Ta, S. 61)
Ein Polizist kommt herein: Gegen Shui Ta wurde Anzeige erstattet, weil er seine Cousine gefangen halten soll. Die Kammer wird durchsucht. Es findet sich niemand, allerdings tauchen Shen Tes Kleider auf. Das aufgebrachte Volk ruft von draußen, der Tabakkönig habe das Mädchen ermordet. Shui Ta wird abgeführt.
Vor dem Göttergericht
Wang erscheinen im Traum die drei Götter. Sie sind deutlich gezeichnet von ihrer mühsamen Reise auf Erden. Die wenigen guten Menschen, die sie fanden, leben nicht menschenwürdig. Die drei Götter geraten untereinander darüber in Streit, ob die Welt zu schlecht oder der Mensch zu schwach ist. Sie möchten dringend die verschwundene Shen Te wiederfinden, die gut war und gut geblieben ist.
„Ohne zwölf zu zertreten / Hilft keiner einem Elenden.“ (Shui Ta, S. 62)
Shui Ta bzw. Shen Te sitzt im Gerichtssaal. Als sie erkennt, dass die eintretenden Richter die drei Götter sind, wird sie kurz ohnmächtig. Shui Ta ist angeklagt, seine Cousine beiseitegeschafft zu haben, um ihr Geschäft zu übernehmen. Für Shui Ta sprechen der Polizist, der Barbier Shu Fu und die Hausbesitzerin Mi Tzü. Viele aber erheben Vorwürfe. Shui Ta versucht, sich zu verteidigen: Er habe nur das Geschäft und damit Shen Te retten wollen, die mit ihrer Güte allzu bald ruiniert gewesen wäre und dann auch nichts Gutes mehr hätte tun können. Als alle ihn bedrängen, endlich zu sagen, wo Shen Te sei, erklärt er, er wolle ein Geständnis ablegen, wenn alle Zuschauer den Saal verließen. Als Shen Te schließlich mit den Richtern allein ist, gibt sie sich zu erkennen. Sie erklärt, sie habe den Vetter erfunden, weil sie es nicht geschafft habe, gleichzeitig gut zu den anderen und zu sich selbst zu sein. Alle hätten sie ausgenutzt, auch ihr Geliebter, deshalb musste Shui Ta auf den Plan treten, um sie zu beschützen. Mit diesem Geständnis stürzt sie die Götter in große Verwirrung. Sie entschuldigen großmütig die Härten des Shui Ta, finden aber selbst keine Antwort auf die Frage, wie Shen Te nun weiterleben soll und ob die Götter ihre Gebote oder die Welt ändern müssen. Sie steigen langsam wieder in den Himmel auf, während Shen Tes fleht, sie mögen ihr auf ihre drängenden Fragen antworten: wie sie denjenigen begegnen soll, denen sie Unrecht getan hat, wie sie mit Sun umgehen soll, den sie noch liebt, wo und wie sie und ihr Sohn leben sollen. Die Götter entschwinden mit der allgemeinen Empfehlung, sie solle gut sein und den Vetter keinesfalls zu oft rufen.
„Wie soll man sich von allen Schwächen freimachen, vor allem von der tödlichsten, der Liebe? Sie ist ganz unmöglich! Sie ist zu teuer!“ (Shui Ta, S. 69)
Ein Schauspieler tritt vor den Vorhang und konstatiert, dass das Stück zu Ende ist und doch nichts klar. Der Zuschauer solle sich selbst seinen Schluss suchen und darüber nachdenken, ob der Mensch, die Welt oder die Götter zu ändern seien.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der gute Mensch von Sezuan besteht aus 19 Teilen: Es gibt ein Vorspiel, zehn Szenen und einen Epilog, dazu sieben Zwischenspiele bzw. Liedeinlagen. Letztere sind gereimt. Die Rede in Prosa wechselt manchmal zu lyrischen Versen, oft dann, wenn sich die Figuren kommentierend direkt an die Zuschauer wenden. Dies ist hier so häufig der Fall wie in keinem anderen Stück von Brecht: Insgesamt 26 Mal unterbrechen die Schauspieler den Fortgang der Handlung, um sie für das Publikum zu kommentieren. Es gibt drei Realitätsebenen im Stück: die der Götter, die der dramatischen Handlung und die der Zuschauer. Brecht zieht unterschiedliche sprachliche Register: In den Dialogen herrscht oft Umgangssprache vor, und ein schneller Wechsel von Rede und Gegenrede macht Kontraste deutlich. Eine lyrische Färbung bekommen die Dialoge zwischen Shen Te und Sun, und auch die Götter sprechen in überhöhtem, zu Sentenzen neigendem Stil. Die gereimten Songtexte wiederum sind durchgängig parodistisch gehalten.
Interpretationsansätze
- Der gute Mensch von Sezuan ist eine Parabel, ein Lehrstück: Die schon im Vorspiel geäußerte These, dass der Mensch nicht gut und zugleich wohlhabend und glücklich sein könne, wird im Lauf der Handlung bewiesen und veranschaulicht. Die anfangs gute, aber besitzlose Shen Te wird einem Experiment unterzogen, dessen Ausgang bereits feststeht.
- Gleichzeitig hat das Stück mit Shen Tes Spiel im Spiel auch komödiantische Züge. Auf einer tieferen Ebene demonstriert es außerdem einen Zustand, den Brecht das „gesellschaftlich Komische“ nennt: die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Nach Karl Marx ist die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Epoche denn auch ihre „Komödie“.
- Brecht hat die Merkmale seines epischen Theaters hier besonders ausgeprägt: Die zahlreichen Handlungsunterbrechungen, die direkten Zuschaueransprachen und das Heraustreten von Schauspielern aus ihren Rollen sind ebenso wie die Ansiedlung des Geschehens in einem fremden Land sogenannte Verfremdungseffekte („V-Effekte“), die den Zuschauer zum Nachdenken anregen sollen, anstatt ihn emotional einzunehmen.
- Die Götter im Stück sind lächerlich; sie sind weder allwissend noch allmächtig, sie lügen und manipulieren, um ihre Existenz zu retten, und sie entschwinden im entscheidenden Moment in den Theaterhimmel, anstatt eine plötzliche Lösung herbeizuführen – eine Umkehr des antiken Deus ex Machina.
- Der Grundkonflikt zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe wird an Shen Tes Doppelrolle illustriert: Beides zusammen geht in der dargestellten ausbeuterischen Gesellschaft nicht. Eine solche Gesellschaft zwingt zur Entfremdung, ja Spaltung: in eine private Person (traditionell die Frau) und eine öffentliche Person (der Geschäftsmann Shui Ta). Beide brauchen einander: Shen Te ohne Shui Ta schadet sich selbst, aber Shui Ta baut sein Werk auf der Güte Shen Tes auf.
- Das offene Ende mit seinen prägnanten, fast humoristischen Reimen wurde unterschiedlich gedeutet: Ist es wirklich ergebnisoffen oder ist im Grunde klar, dass der Zuschauer aufgefordert wird, die Gesellschaft im sozialistischen Sinn zu verändern?
Historischer Hintergrund
Flucht aus Nazideutschland
Infolge der Weltwirtschaftskrise brach 1929 auch die deutsche Wirtschaft zusammen; die Zahl der Arbeitslosen stieg um das Doppelte an, auf 5 Millionen. Um Krisenmaßnahmen gegen den Willen des Parlaments durchsetzen zu können, regierte Reichskanzler Heinrich Brüning zunehmend über Notverordnungen und läutete damit das Ende der demokratischen Weimarer Republik ein. Die Verunsicherung in der Bevölkerung konnte insbesondere die NSDAP für sich nutzen, deren Vorsitzender Adolf Hitler am 30. Januar 1933 die politische Macht in Deutschland übernahm. Den Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 nutzten die Nationalsozialisten, um ihre Repressionspolitik weiter zu verschärfen: Zehntausende von Oppositionellen wurden in „Schutzhaft“ genommen, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Pressefreiheit und das Versammlungsrecht wurden eingeschränkt, Hausdurchsuchungen und die Beschlagnahmung von Eigentum wurden legalisiert.
Am 10. Mai 1933 fanden die ersten großen Bücherverbrennungen statt. Werke von über 200 Autoren wurden vernichtet, mit ausdrücklicher Genehmigung vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda auch die Bücher von Bertolt Brecht. Als Reaktion emigrierten zahlreiche Künstler ins Ausland. Unter den in Deutschland lebenden Juden und politisch Andersdenkenden kam es nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze und nach der sogenannten Reichskristallnacht zu einer ersten Auswanderungswelle. Im September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Angriff auf Polen. Millionen von Juden und viele politische Gegner der Nazis wurden in den Konzentrationslagern ermordet, bevor der Krieg am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands beendet wurde. Von den politisch Verfolgten kehrte nach dem Krieg etwa die Hälfte in das geteilte Land zurück, von den rassistisch Verfolgten nur etwa 5 Prozent.
Entstehung
Motive aus Der gute Mensch von Sezuan haben Brecht mindestens 15 Jahre begleitet. Einen der Grundeinfälle hatte er bereits 1926: Weil er und seine Dichterfreunde Arnolt Bronnen und Alfred Döblin sich auf einer Dichterlesung in Dresden nicht ausreichend gewürdigt fühlten, schrieb er das Gedicht Matinee in Dresden, in dem drei Götter in der Stadt nicht würdig empfangen werden. 1927 hatte er die Idee für ein Stück mit einer „Hosenrolle“: Eine Hure spielt einen Tabakhändler, um anderen Huren zu helfen, aber diese verraten einander (Fanny Kress oder der Huren einziger Freund). Brechts Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragen spiegeln sich in einem Entwurf von 1930 mit dem Titel Die Ware Liebe wider: Liebesbeziehungen sind darin genauso käuflich wie Prostitution und sind ein Ausdruck kapitalistischer Entfremdung. Von 1939 bis 1941, im Exil in Dänemark, Schweden und Finnland, arbeitete Brecht dann im engeren Sinn an dem Stück. Wegen der politischen Lage kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ging er davon aus, dass er zunächst keine Möglichkeiten zur Aufführung haben würde. Diese Situation nutzte er, um sein episches Theater weiterzuentwickeln. Mit seiner Mitarbeiterin Margarete Steffin änderte er immer wieder einzelne Szenen. Probleme machten ihm die Frage, wie er Shui Ta in das Stück einführen sollte, und die Sorge, dass der Schauplatz China die Parabel zu folkloristisch machen könnte. Er notierte, dass ihm das Stück mehr Mühe machte als jedes andere zuvor. 1942 legte er die Arbeit nieder, ohne sie für wirklich beendet zu halten.
Wirkungsgeschichte
Der gute Mensch von Sezuan ist das am häufigsten gespielte Theaterstück von Brecht. Uraufgeführt wurde es, als Brecht im Exil war, im Februar 1943 am Zürcher Schauspielhaus. Zur ersten Aufführung in der DDR, wo Brecht sich inzwischen niedergelassen hatte, kam es erst 1956, in der Bundesrepublik wurde das Stück bereits 1952 gezeigt.
In der DDR wurde es eher verhalten aufgenommen, wohl weil es nicht den herrschenden Vorstellungen eines sozialistischen Realismus entsprach. Grundsätzlich aber nutzte die DDR Brecht als Beweis für ihr klassisches humanistisches Erbe: Er hatte sein eigenes Theater und eine herausgehobene Stellung im kulturellen Leben der DDR. Die Inszenierungen in der DDR richteten sich meist gegen den bundesrepublikanischen Kapitalismus und legten nahe, dass am Ende die Lösung in einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft liegt.
In der BRD war Brecht umstritten: Die einen lehnten ihn als marxistischen Dramatiker ab, die anderen schätzten ihn wegen seiner poetischen Qualitäten und entpolitisierten ihn, auch in der Inszenierung des Guten Menschen von Sezuan. Man betonte Brechts Status als Klassiker. Nach den Studentenunruhen von 1968 rückten aber auch in der BRD wieder die gesellschaftskritischen Aspekte des Stücks in den Fokus.
Seit der Aufhebung des Ost-West-Konflikts nach 1989 ist in den Theatern ein Bemühen feststellbar, sich von den früheren Deutungen und auch vom Wissen um Brechts ideologische Bindung an den Kommunismus zu lösen und die dargestellte Inhumanität sowie die Versuche zu deren Überwindung als etwas Umfassenderes, Zeitloses zu sehen.
Über den Autor
Bertolt Brecht wird am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren. Nach dem Abitur im Jahr 1917 beginnt er mit einem Medizinstudium, das er jedoch wegen des Kriegsdiensts als Sanitätssoldat abbrechen muss. 1918 verfasst er Baal, sein erstes Theaterstück. Von 1924 an arbeitet er als Dramaturg bei Max Reinhardt in Berlin. Hier setzt sich Brecht mit der Philosophie des Marxismus auseinander. 1928 gelingt ihm mit der Dreigroschenoper ein grandioser Erfolg. In diesem Stück probiert er seine Technik des epischen Theaters aus, das sich erheblich von den traditionellen Theaterformen unterscheidet. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten werden Brechts Stücke verboten, ihm selbst wird die Staatsbürgerschaft entzogen. Er flieht ins Exil. Nach vielen Zwischenstationen, darunter Prag, Paris, Schweden, Finnland und die Sowjetunion, siedelt er sich mit seiner Frau, der Schauspielerin Helene Weigel, in Kalifornien an. Während des Exils entstehen seine berühmtesten Dramen, unter anderem Leben des Galilei (1938/39), Mutter Courage und ihre Kinder (1939) und Der kaukasische Kreidekreis (1944/45). Auch mit Gedichtzyklen tritt Brecht immer wieder hervor. Zwei Jahre nach dem Krieg, als in den USA die Jagd auf Kommunisten beginnt (McCarthy-Ära), kehrt Brecht den Vereinigten Staaten den Rücken. Die deutschen Westzonen verweigern ihm die Einreise, sodass er, nach einer Zwischenstation in der Schweiz, nach Ostberlin zieht. Gemeinsam mit seiner Frau gründet er hier 1949 das Berliner Ensemble. Im Theater am Schiffbauerdamm findet er eine geeignete Experimentierbühne für seine Stücke, die er dort höchstpersönlich zur Uraufführung bringt. Bertolt Brecht stirbt am 14. August 1956 in Berlin.
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