Anton Tschechow
Der Kirschgarten
Komödie in vier Akten
Diogenes Verlag, 1999
Was ist drin?
Ein nostalgischer Abgesang auf die Welt des russischen Adels: Anton Tschechows Komödie „Der Kirschgarten“ bereitet noch immer Vergnügen.
- Komödie
- Realismus
Worum es geht
Abschied von einer verfallenden Welt
In der russischen Provinz um 1900: Eine Gutsherrin kehrt nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt auf ihr Anwesen zurück. Hoch verschuldet, wird sie sich von ihrem Eigentum trennen müssen. Ihr bleibt nur die Wahl zwischen Verpachtung oder Zwangsversteigerung. Wissend um den baldigen Verlust des Ortes, mit dem so viele Erinnerungen verbunden sind, verbringt sie mit ihrer Familie den letzten Sommer inmitten des Kirschgartens - der am Ende für den Bau von Ferienhäusern abgeholzt wird. Tschechows letztes Theaterstück ist ein Abgesang auf die untergehende Welt des russischen Adels und lässt gleichzeitig den bevorstehenden Wandel der russischen Gesellschaft durchscheinen. In einer zwischen Nostalgie und Erwartung gespannten Atmosphäre malt der Autor ein Zeitgemälde, in dem individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen eng miteinander verwoben sind. Das an sich handlungs- und spannungsarme Stück bezieht seinen Reiz aus den inneren Konflikten der Charaktere und ihren Widersprüchen: gebrochene Figuren, deren höchst individuelle Züge der Dichter auf zugleich einfühlsame und ironische Weise zeichnet. Tschechow beeindruckt mit dem leichten Tonfall seiner Komödie und hat so über den zeitgeschichtlichen Hintergrund hinaus ein Stück Weltliteratur geschaffen.
Take-aways
- Der Kirschgarten ist das letzte Werk des russischen Schriftstellers Anton Tschechow.
- Die 1904 uraufgeführte Komödie ist ein Abgesang auf die untergehende Welt des russischen Adels und gleichzeitig die Ankündigung einer neuen Zeit.
- Die Adlige Ljubov Ranevskaja kehrt aus dem Ausland auf ihr Gut zurück. Es ist überschuldet und steht deshalb kurz vor der Zwangsversteigerung.
- Der reiche Kaufmann Lopachin schlägt ihr vor, das Gut in kleinen Teilen an Sommergäste zu verpachten.
- Diesen Vorschlag lehnt sie ab, weil sie zu sehr an dem Kirschgarten hängt, der zu diesem Zweck geopfert werden müsste.
- Es kommt zur Zwangsversteigerung, Lopachin kauft das Gut. Noch vor dem Auszug der Vorbesitzer beginnt er mit der Abholzung des Kirschgartens.
- Aus der eigentlich tragischen Grundkonstellation des Verlusts einer vertrauten Welt entwickelt Tschechow ein genaues Gesellschaftsbild mit komischen Zügen.
- Der Kirschgarten, ebenso schön wie nutzlos, steht symbolisch für den Untergang der Klasse der Großgrundbesitzer.
- Die russische Gesellschaft ist im Wandel: Der Adel verliert an Macht, gleichzeitig können sich immer mehr Bürger Sommerresidenzen leisten.
- In der Figurenkonstellation stehen sich Vertreter der alten und der neuen Zeit gegenüber.
- Tschechow nimmt nicht Partei für seine Figuren, er stellt sie neben- und gegeneinander, ist leidenschaftsloser Zeuge ihrer Positionen.
- Mit der klaren und subtilen Analyse seiner Charaktere und ihrer Beziehungen hat Tschechow ein Meisterwerk der Weltliteratur geschaffen.
Zusammenfassung
Die Rückkehr
Es ist Mai auf einem Gut in der russischen Provinz. Die Kirschbäume blühen, und im Frost des frühen Morgens wird die Ankunft der Besitzerin Ljubov Ranevskaja erwartet. Der Tod ihres Mannes und ihres Sohnes hat sie für fünf Jahre ins Ausland getrieben. Der eng mit der Familie verbundene Kaufmann Ermolaj Lopachin ist zur Begrüßung angereist. Seine Vorfahren waren noch Leibeigene auf dem Gut, er selbst hat sich zu einem reichen Kaufmann emporgearbeitet. Doch er hält sich nach wie vor für einen ungebildeten Bauern.
„Ljubov Andreevna hat fünf Jahre im Ausland gelebt, ich weiß nicht, wie sie heute ist ... Ein guter Mensch war sie. Ein sanfter, einfacher Mensch.“ (Lopachin, S. 9)
Das Dienstmädchen Dunjaša ist ganz begeistert, dass ihr der Buchhalter Semën Epichodov einen Heiratsantrag gemacht hat. Epichodov ist zwar sehr ungeschickt und deshalb das Gespött seiner Umwelt, dennoch gefällt er ihr.
Ljubov Ranevskaja kommt mit ihrer Familie und etlichen Dienstboten im Gefolge an. Sie wird nach ihrer Ankunft sogleich von Erinnerungen an ihre Kindheit und von der Schönheit des blühenden Kirschgartens überwältigt. Die Gutsherrin, ihr Bruder Leonid Gaev, dessen Lebensinhalt das Billardspiel ist, ihre 17-jährige Tochter Anja, die 24-jährige Pflegetochter Varja und das Hauspersonal begrüßen sich ausgiebig gegenseitig.
„Abholzen? Mein Lieber, verzeihen Sie, Sie haben keine Ahnung. Wenn es im ganzen Gouvernement nur irgendetwas Interessantes, sogar Bemerkenswertes gibt, dann ist das unser Kirschgarten.“ (Ljubov Ranevskaja zu Lopachin, S. 19)
Anja hat ihre Mutter aus Paris abgeholt. Sie erzählt Varja von ihrer Reise. In Paris hat sie ihre Mutter inmitten der Besucher ihres Salons vorgefunden. Ihr Landhaus in Mentone hatte Ljubov Ranevskaja bereits verkauft, nahezu mittellos mussten sie die Heimreise antreten. Unfähig, sich auf die neue Situation einzustellen, geht sie noch immer verschwenderisch mit ihrem verbliebenen Geld um. Anja erzählt, wie ihre Mutter sich im Bahnhofsrestaurant das Teuerste bestellt und zu viel Trinkgeld gegeben habe. Sie erkundigt sich bei Varja, ob die Darlehenszinsen bezahlt worden seien. Varja verneint und kündigt an, das Gut werde deshalb am 22. August versteigert. Anja fragt, ob Lopachin Varja den von allen längst erwarteten Heiratsantrag gemacht habe. Doch Varja beklagt, er beachte sie nicht einmal, und auch wenn bereits alle von der Hochzeit sprächen, erscheine ihr doch alles wie ein Traum. Sie spricht von ihrem Wunsch, in ein Kloster zu gehen und dort die Seligkeit zu finden. Anja erinnert an das Unglück ihrer Mutter: Vor sechs Jahren starb ihr Mann, einen Monat darauf ertrank ihr Sohn im Fluss. Sie sorgt sich, dass die Anwesenheit von dessen Hauslehrer Pëtr Trofimov der Mutter all das ins Gedächtnis zurückrufen könnte. Der greise Diener Firs freut sich: Nach der Ankunft seiner gnädigen Frau könne er in Ruhe sterben.
Was soll mit dem Kirschgarten geschehen?
Lopachin erinnert die Gutsherrin daran, dass ihr Kirschgarten im August versteigert wird. Völlig uneigennützig bietet er ihr folgenden Ausweg an: Sie solle ihr Grundstück parzellieren und an Sommergäste verpachten. Mit der Eisenbahn sei das Gut leicht zu erreichen und die Lage am Fluss sei wunderschön. Allerdings müsse man die alten Gebäude abreißen und den Kirschgarten abholzen. Doch für Ljubov Ranevskaja kommt ein Abholzen des Kirschgartens gar nicht in Frage. Lopachin dagegen hält ihn für völlig nutzlos, schließlich trügen die Bäume nur alle zwei Jahre, und dann seien die Mengen an Kirschen unverkäuflich. Firs erinnert daran, wie man vor 50 Jahren die Kirschen behandelt und verwertet habe. Man habe sie gedörrt und nach Moskau verkauft - doch das Rezept ist in Vergessenheit geraten.
„Bisher gab es auf dem Lande nur Herren und Bauern, aber heute sind noch die Sommergäste erschienen.“ (Lopachin, S. 20)
Lopachin skizziert den gesellschaftlichen Wandel: Während es bisher nur Herren und Bauern auf dem Lande gegeben hat, kommen nun die Sommergäste hinzu. Sie werden, ist er überzeugt, zukünftig dafür sorgen, dass das Gut sich reich und prächtig entwickelt. Gaev weist diese Perspektive empört zurück und hält eine Rede an einen 100-jährigen Schrank. Ganz idealistisch schreibt er ihm eine Funktion als Erzieher im Glauben an eine bessere Zukunft zu. In den Augen seiner Verwandten ist Gaev jemand, der immer zu viel redet. Lopachin verabschiedet sich, nicht ohne vorher Ljubov Ranevskaja eindringlich zu den Sommerhäusern zu raten und ihr für diesen Fall ein Darlehen in Aussicht zu stellen. Gemeinsam mit Gaev beschwört Ljubov Ranevskaja den glücklichen Teil ihrer Vergangenheit, der so eng mit dem Kirschgarten verwoben ist. Der Auftritt von Trofimov erinnert sie jedoch sogleich an den Tod ihres Sohnes, dessen Hauslehrer er war. Gaev entwickelt im Beisein von Anja und Varja einen Plan, wie Geld zu besorgen wäre. Obwohl er selbst nicht vom Gelingen jedes einzelnen Teils überzeugt ist, redet er sich ein, dass die gesamte Strategie zum Erfolg führen müsse. Er schwört, es nicht zur Auktion kommen zu lassen. Die Hausbewohner gehen nach und nach zu Bett.
Landszenen
Die Gouvernante Šarlotta Ivanovna ist die Tochter eines Artistenpaares. Sie bezaubert ihre Umgebung noch immer durch Kunststücke. Nach dem Tod ihrer Eltern wurde sie von einer deutschen Dame erzogen und schließlich Gouvernante. Sie beklagt, sie wisse nichts über sich, und weil es niemanden gebe, mit dem sie sprechen könne, sei sie immer allein. Der Buchhalter Epichodov hält sich für einen entwickelten Menschen, weil er Bücher liest - bei der Entscheidung, zu leben oder sich zu erschießen, helfen sie ihm jedoch nicht. Das Dienstmädchen Dunjaša stellt mit Erschrecken fest, dass sie sich in den Jahren bei der Herrschaft vom einfachen Leben entwöhnt und zu einem empfindlichen Fräulein entwickelt hat. Dem jungen Diener Jaša erklärt sie, sie habe sich leidenschaftlich in ihn verliebt, weil er so gebildet sei und zu allem eine Meinung habe. Jaša reagiert gelangweilt: Für ihn ist es ein Zeichen von Unmoral, wenn ein Mädchen jemanden liebt.
„Ich warte dauernd auf etwas, als müsste über uns das Haus einstürzen.“ (Ljubov Ranevskaja, S. 37)
Ljubov Ranevskaja kommt mit Gaev und Lopachin von einem Essen in der Stadt zurück. Sie ist des Lebens in der Provinz offenbar bereits überdrüssig, beklagt sich über das Restaurant, das Essen, die Musik und ihren Bruder, der in der Gaststätte ausgerechnet mit den Kellnern über die Dekadenz geredet hat. Lopachin drängt Ljubov Ranevskaja erneut zur Entscheidung über die Zukunft ihres Gutes. Obwohl die Sachlage klar ist und die Zeit drängt, lehnt sie die Verpachtung an Sommergäste erneut als zu gewöhnlich ab. Lopachin ist der Verzweiflung nahe, weil die Herrschaften ihn einerseits um Rat bitten und andererseits nicht auf ihn hören wollen. Er wirft ihnen vor, sie seien leichtsinnig und untüchtig. In melancholischer Stimmung enthüllt Ljubov Ranevskaja die ganze Tragik ihres Lebens. Sie habe immer mit Geld um sich geworfen und einen Mann geheiratet, der nur Schulden machte und als Alkoholiker starb. Sie verliebte sich in einen anderen und lebte mit ihm zusammen. Den Tod ihres Sohnes empfindet sie als Strafe für ihr sündiges Leben: Sie floh ins Ausland, ihr Geliebter folgte ihr. Sie ließ sich von ihm finanziell ausnehmen, schließlich betrog er sie mit einer anderen. Daraufhin versuchte sie, sich zu vergiften. Schließlich zog es sie zurück nach Russland. Noch in Paris erhielt sie ein Telegramm von ihrem Geliebten, der sie anflehte, zu ihm zurückzukehren - nun zerreißt sie das Telegramm.
„Lopachin: Was ich gestern für ein Stück im Theater gesehen habe, sehr komisch. - Ljubov Ranevskaja: Und sicher war es gar nicht komisch. Ihr solltet keine Theaterstücke, sondern öfter mal euch selbst ansehen. Wie grau ihr alle lebt, wie viel Überflüssiges ihr redet. - Lopachin: Das ist wahr. Offen und direkt gesagt, das Leben, das wir führen, ist idiotisch ...“ (S. 38)
Ljubov Ranevskaja fordert Lopachin auf, doch endlich ihre Pflegetochter Varja zu heiraten. Er hält sie zwar auch für ein gutes Mädchen, unternimmt aber trotz Sympathie für sie nichts weiter. Gaev berichtet, man habe ihm eine Stelle bei einer Bank angeboten. Ljubov Ranevskaja fordert ihn auf, bei ihr zu bleiben. Der stets um das Wohlergehen Gaevs besorgte Diener Firs erzählt, wie er damals die Befreiung aus der Leibeigenschaft abgelehnt habe und bei der Herrschaft geblieben sei. Er beklagt die eingetretene Verwirrung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
„Bei uns in Russland arbeiten bislang sehr wenige. Die überwiegende Mehrheit der Intelligenz, wie ich sie kenne, sucht nach nichts, tut nichts und ist zur Arbeit bislang unfähig.“ (Trofimov, S. 41)
Der ewige Student Trofimov, Anja und Varja kommen hinzu. Nach einer Auseinandersetzung mit Lopachin, der über die Untätigkeit des Theoretikers spottet, entwirft Trofimov seine Philosophie der Arbeit. Der Fortschritt der Menschheit bedeutet für ihn die Vervollkommnung ihrer Kräfte. Um das heute unerreichbar Scheinende zu realisieren, müsse hart gearbeitet werden. Die soziale Schicht der "Intelligenz" kritisiert er ob ihrer Halbherzigkeit im Aneignen von Wissen und ihrer Untätigkeit. Die schönen Reden dienten letztlich nur dazu, die armseligen Lebensumstände der Unterschicht zu überdecken. Der pragmatische Lopachin entgegnet ihm, er arbeite permanent und begegne nur wenigen anständigen Menschen. Er begreife nicht, weshalb es den Russen angesichts ihrer reichen natürlichen Ressourcen nicht besser gehe.
„Herrschen über lebende Seelen - das hat euch doch alle entartet, die ihr früher gelebt habt und heute lebt, sodass Ihre Mutter, Sie, Ihr Onkel gar nicht mehr bemerken, dass ihr auf Pump lebt, auf fremde Kosten, auf Kosten jener Menschen, die ihr bestenfalls bis in den Hausflur vorlasst ...“ (Trofimov zu Anja, S. 45 f.)
Als Anja mit Trofimov allein ist, reden sie über ihr Verhältnis zueinander. Trofimov ist der Ansicht, sie würden über der Liebe stehen, die kleinlich und trügerisch sei. Dem Ziel, frei und glücklich zu sein, stehe die Liebe entgegen. Anja fühlt sich von Trofimov verwandelt. Sie liebt den Kirschgarten nicht mehr wie früher, als er ihr als der schönste Ort der Erde erschien. Trofimov erinnert Anja an die Tradition ihrer Familie als Gutsbesitzer und Herrscher über Leibeigene. Die Herrschaft über "lebende Seelen" habe ihre Familie vergessen lassen, dass sie auf Kosten anderer lebe. Zur Sühne dieser Vergangenheit sei Arbeit nötig.
Das Fest am Tag der Versteigerung
Ausgerechnet am Tag der Auktion wird im Haus ein letztes Fest gefeiert. Die Gäste sind nicht mehr, was sie in vergangenen, glänzenden Zeiten waren: Statt Generäle und Barone tanzen nun Postbeamte und Stationsvorsteher. In gespannter Erwartung über die Ankunft von Lopachin, der sie über den Ausgang der Versteigerung informieren soll, vertreibt die Gutsgesellschaft sich die Zeit. Trofimov fordert Ljubov Ranevskaja auf, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Es sei gleichgültig, ob das Gut verkauft worden sei oder nicht, denn es sei längst erledigt und es gebe keinen Weg zurück. Die Gutsbesitzerin stellt die Gewissheiten Trofimovs in Frage und hält ihm ihre eigene Wahrheit entgegen: Der Kirschgarten sei ihr Leben und ohne ihn begreife sie es nicht mehr. Seine Klarheit und Radikalität im Urteil habe Trofimov nur seiner mangelnden Lebenserfahrung zu verdanken.
„Sie sehen, wo Wahrheit ist und wo Unwahrheit, aber mir ist, als hätte ich den Gesichtssinn verloren, nichts sehe ich.“ (Ljubov Ranevskaja zu Trofimov, S. 53)
Lopachin und Gaev kehren von der Versteigerung zurück. Der Kirschgarten ist verkauft worden - an Lopachin. Aufgewühlt gibt er den Verlauf der Auktion wieder. Er kann selbst kaum fassen, dass der Kirschgarten, auf dem sein Vater und Großvater noch Sklaven waren, nun ihm gehört. Dieser Besitz erfüllt ihn mit Stolz. Anja versucht, ihre weinende Mutter zu trösten. Geblieben sei ihr schließlich nicht nur das Leben, das noch vor ihr liege, sondern auch ihre gute Seele. Anja verheißt ihrer Mutter, sie würden an einem anderen Ort einen neuen Garten pflanzen.
Abschied und Aufbruch in eine ungewisse Zukunft
Die letzten Vorbereitungen für die Abreise der Familie laufen. Ljubov Ranevskaja will nach Paris zurückkehren, zu dem Mann, den sie trotz seiner Verfehlungen noch immer liebt. Ihr Bruder Gaev hat die angebotene Stellung bei der Bank angenommen. Anja will sich auf das Abitur vorbereiten. Varja geht als Haushälterin in eine andere Stadt. Die Herrschaften verabschieden sich von den Bauern. Lopachin bietet seinem Gegenspieler Trofimov, der nach Moskau reisen will, großzügig Geld an. Dieser nimmt es nicht an, weil er seine Unabhängigkeit von materiellen Dingen beweisen will. Er möchte der Menschheit den Weg zum Glück zeigen. In der Ferne hört man die Schläge einer Axt: Der Kirschgarten wird bereits abgeholzt.
„Ich bin doch hier geboren, hier haben mein Vater und meine Mutter gelebt, mein Großvater, ich liebe dieses Haus, ohne den Kirschgarten begreife ich mein Leben nicht mehr, und wenn er schon verkauft werden muss, dann verkauft mich gleich mit, zusammen mit dem Garten ...“ (Ljubov Ranevskaja, S. 53 f.)
Ljubov Ranevskaja verabschiedet sich von ihrem Haus, das bald abgerissen wird. Gaev stellt den gewandelten Gemütszustand der Familie fest: Vor dem Verkauf des Kirschgartens haben alle gelitten - seitdem die Frage aber unwiderruflich entschieden ist, sind sie ruhiger geworden. Ljubov Ranevskaja will so lange in Paris bleiben, wie ihr Geld reicht, und dann zu ihrer Tochter Anja zurückkehren. Anja träumt davon, mit ihrer Mutter zukünftig viele Bücher zu lesen; eine neue, wunderbare Welt werde sich ihnen auftun. Der Gutsbesitzer Pišcik, der sich zu Beginn des Sommers von Ljubov Ranevskaja Geld geliehen hat, zahlt es nun zurück. Völlig außer Atem erzählt er von seinem Glück: Engländer hätten auf seinem Grundstück weißen Lehm gefunden und er habe ihnen die Parzelle verpachtet. Ljubov Ranevskaja sorgt dafür, dass Lopachin eine letzte Chance bekommt, Varja einen Heiratsantrag zu machen. Varja liebt ihn noch immer, und auch Lopachin scheint sie zu schätzen. Doch er lässt die Gelegenheit ungenutzt.
„Trofimov: Die Menschheit geht der höchsten Wahrheit entgegen, dem höchsten Glück, das nur auf Erden möglich ist, und ich in den ersten Reihen. - Lopachin: Wirst du auch ankommen? - Trofimov: Ich werde ankommen. Ich werde ankommen, oder anderen den Weg zeigen, wie man hinkommt.“ (S. 67)
Für Anja ist der Abschied ein Aufbruch in ein neues Leben mit Trofimov. Die Geschwister Ljubov Ranevskaja und Gaev bleiben für einen Augenblick allein zurück. Sie nehmen endgültig Abschied vom Haus ihrer Ahnen. Als die Kutschen abgefahren sind, erklingt erneut das dumpfe Klopfen einer Axt gegen Holz. Das letzte Wort hat der alte Diener Firs. Er sollte wegen seiner sich verschlechternden Gesundheit ins Krankenhaus gebracht werden, und jeder dachte, dies sei auch geschehen. Doch man hat ihn im leeren Haus vergessen. Es ist ihm gleichgültig. Kraftlos legt er sich hin.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Komödie Der Kirschgarten besteht aus vier Akten. Der erste und der letzte Akt spielen im so genannten Kinderzimmer des alten Gutshauses von Ljubov Ranevskaja. Im zweiten Akt bildet die freie Natur auf dem Gutsgelände die Kulisse, und im dritten findet das Fest im Salon des Hauses statt. Der titelgebende Kirschgarten ist nur während des zweiten Akts im Hintergrund zu sehen. Die Handlung erstreckt sich von Mai bis Oktober eines Jahres, wobei zwischen den einzelnen Akten zumindest mehrere Wochen liegen. Es geschieht nicht besonders viel in diesem Drama, keine Intrige wird gesponnen, keine Gewalt ausgeübt. Auch ist kein besonderer Spannungsbogen erkennbar, abgesehen von dem Warten auf das Ergebnis der Auktion. Anders als in den meisten Theaterstücken üblich, findet in diesem Stück keine dramatische Zuspitzung der Konflikte zum Ende hin statt: Der Kirschgarten klingt leise aus, verebbt in der Stille der versinkenden alten Welt. Die Figuren sprechen oft nicht miteinander im Sinne eines echten Dialogs, sondern stellen ihre Positionen dar. So sind viele Textpassagen auch eher Monologe, die der Charakterisierung der sprechenden Person oder einer anderen Figur dienen. Die Sprache ist klar und leicht im Ton. Tschechow hat sich äußerste Kürze und den Verzicht auf lang gezogene Wortergüsse politisch-sozial-ökonomischer Art zum Ziel gesetzt. Viele Nebenfiguren sind überzeichnet, während die Hauptfiguren ihre Komik überwiegend daraus beziehen, wie sie mit ihrer persönlichen Tragik umgehen.
Interpretationsansätze
- Der Kirschgarten ist ein vielschichtiges Symbol: Als Inbegriff der Schönheit in der Zeit seiner Blüte ist er als Obstgarten eben doch nicht völlig zweckfrei. Er steht für eine dem Luxus und dem Müßiggang ergebene Gesellschaft, die sich der neuen Zeit und ihren gewandelten ökonomischen Bedingungen nicht anpassen kann - und deshalb schließlich weichen muss.
- In der Figurenkonstellation stehen sich Vertreter der alten und der neuen Zeit gegenüber. Die Repräsentanten der neuen Zeit, der Student Trofimov und der Kaufmann Lopachin, sind wiederum Gegenspieler; der eine propagiert sozialistische, der andere kapitalistische Heilslehren. Beiden gemeinsam ist ihre Verklärung der Arbeit als Mittel, die vom Adel geprägte Vergangenheit zu überwinden und eine bessere Welt zu schaffen.
- Das Stück ist laut Tschechow eine Komödie, trotz der in ihm enthaltenen Tragik: Der Abgesang auf die Vergangenheit und die Kritik an der Gegenwart sind eher komödienhaft und satirisch als sentimental und melancholisch dargestellt.
- Tschechow nimmt nicht Partei für eine seiner Figuren oder deren Positionen. Weder die "Tüchtigen" noch die "Untüchtigen" sind letztlich dem "ungereimten Leben" gewachsen, jeder ist auf seine Weise verunsichert. Tschechow schildert seine Charaktere ebenso einfühlsam wie ironisch distanziert. Gerade die Brechung der Figuren macht dieses Drama so subtil und bedingt das komische Element.
- Die Art von Revolution, wie sie sich Tschechow erhofft, ist nicht eine blutige Umwälzung, sondern die Wandlung der Welt durch die Wandlung des Menschen. Insofern ist er nicht nur realistisch, sondern orientiert sich durchaus an klassisch-humanistischen Idealen.
Historischer Hintergrund
Das erstarrte Zarenreich
Als der 20-jährige Tschechow 1880 zu publizieren begann, waren die gesellschaftlichen Reformen der 60er Jahre gescheitert. Russland war noch immer eine absolutistische Monarchie und hinkte in der industriellen Entwicklung den anderen europäischen Großmächten weit hinterher. Der verlorene Krimkrieg hatte 1856 diese Rückständigkeit offenbart. Als Reaktion darauf hob Zar Alexander II. 1861 die Leibeigenschaft auf. Nun waren die russischen Bauern zwar auf dem Papier frei, ihre ökonomische Verelendung ging aber weiter – sie erhielten bei der Neuverteilung nur wenig oder nur schlechten Boden.
Die zahlreichen Attentate auf seine Person bremsten den Reformwillen Alexanders beträchtlich. Nach seiner Ermordung 1881 durch die radikale Opposition nahm die Regierung sogar Reformen zurück; sein Sohn Alexander III. praktizierte eine Politik schärfster Unterdrückung. Als Folge machte sich eine Atmosphäre der allgemeinen dumpfen Depression breit – in dieses geistige Klima fiel die Zeit von Tschechows literarischem Schaffen. Es bildete sich die neue Schicht der „Intelligenzija“. Sozial standen diese gebildeten Menschen zwischen Mittelschicht und Arbeiterklasse. Ihre Hoffnungen auf soziale und politische Veränderungen wurden aber enttäuscht. Mit ihrer Unzufriedenheit wurde diese Intelligenz zur treibenden Kraft der weiteren russischen Entwicklung.
Gewaltige ökonomische Umwälzungen ließen in der industriell unterentwickelten russischen Gesellschaft nicht mehr lange auf sich warten. Während der Adel über seine Verhältnisse lebte und wirtschaftlich an Bedeutung verlor, gelangten immer mehr Kaufleute zu Reichtum. Im Zuge der sich noch vergrößernden Ungleichheit breiteten sich sozialistische Ideen aus. 1898 gründete Wladimir I. Lenin die Vorgängerpartei der KPdSU. Unter dem ab 1894 regierenden Zaren Nikolaus II. nahmen Unterdrückung und Polizeiüberwachung weiter zu. Eine erste Revolution zwischen 1905 und 1907 blieb noch weitgehend folgenlos. Erst die Oktoberrevolution von 1917 beendete schließlich die Zarenherrschaft und brachte die Kommunisten an die Macht.
Entstehung
Bereits Anfang 1901 fasste Tschechow den Entschluss, für das Moskauer Künstlertheater als nächstes Stück eine Komödie zu schreiben. Seit dem Sommer 1902 stand für ihn der Titel des Stücks fest, geschrieben hat er es jedoch erst im Laufe des Jahres 1903. Vor allem seine fortschreitende Krankheit - er litt an Lungentuberkulose - nahm ihm Energie und Lust an einem schnelleren Schreiben. Im Frühling und Sommer verfasste er den Kirschgarten in Moskau und Jalta. Für seine Frau, die Schauspielerin Olga Knipper, sah er die Rolle der Varja vor, die sie jedoch bei der Uraufführung dann doch nicht spielen konnte. Auch wenn sein Stück langweilig sein möge, habe es etwas Neues, schrieb Tschechow. Er fürchtete, die langwierige Arbeit habe sein Stück zäh gemacht. Mitte Oktober 1903 schickte er es dem Moskauer Künstlertheater, das es nach einigen Misserfolgen mit anderen Aufführungen sehnlich erwartete. Die Figurenzeichnung empfand der Theaterleiter als neu und interessant, die Dramatik als grell und saftig. Tschechow ahnte, man werde sein Stück als Tragödie missverstehen. Seinen Besetzungsvorschlägen entsprach das Theater nicht. Falsche Angaben über Thema, Personen und Inhalt verbreiteten sich noch vor der Uraufführung in der Presse.
Der Kirschgarten unterlag wie jeder im zaristischen Russland veröffentlichte Text der Zensur. Sie beanstandete zwei Passagen, in denen sich Trofimov über die gesellschaftlichen Verhältnisse äußert. Tschechow entschärfte sie daraufhin. Weitere Änderungen vor der Premiere dienten der genaueren Charakterisierung einiger Figuren. So fügte Tschechow für die zentrale Rolle des Lopachin Sätze ein, die ihn als anständigen Menschen erscheinen lassen. Außerdem akzentuierte der Autor den komischen Charakter einiger Nebenfiguren stärker.
Wirkungsgeschichte
Der Kirschgarten wurde am 17. Januar 1904, Tschechows Geburtstag, am Moskauer Künstlertheater uraufgeführt. Einige Wochen zuvor hatte der Autor an mehreren Proben teilgenommen. Was er gesehen hatte, missfiel ihm sehr. Er ließ sich überreden, nicht mehr zu den Proben zu erscheinen. In Briefen an seine Frau äußerte er sich knapp und enttäuscht über die Aufführung. So würde der von ihm auf höchstens zwölf Minuten angelegte vierte Akt auf der Bühne 40 Minuten einnehmen. Tschechow fühlte sich einmal mehr missverstanden, weil Der Kirschgarten als Tragödie und nicht als Komödie aufgefasst wurde. Der Regisseur bedauerte später, dass es ihm nicht gelungen sei, das Schönste und Wertvollste im Stück zu zeigen. Beim Publikum waren spätere Aufführungen des Kirschgartens ein großer Erfolg, während die Kritik zurückhaltend reagierte. Maxim Gorki, ein erfolgreicher Autor jener Jahre, zeigte sich am Abdruck der Komödie in einem von ihm mitherausgegebenen Almanach interessiert. Tschechow stimmte zu, war jedoch gleichzeitig vertraglich an den Verleger A. F. Marks gebunden, der sich letztlich mit seiner Position durchsetzte. Die Querelen um die Erstveröffentlichung begleiteten Tschechow bis zu seinem Tod. Die erste deutschsprachige Übersetzung von Der Kirschgarten erschien 1912, die deutsche Erstaufführung fand im Dezember 1917 in München unter der Regie von Lion Feuchtwanger statt. Gerühmt wird Tschechow bis heute für seine klare, einfache und knappe Sprache und für seine subtilen Analysen menschlicher Beziehungen. Von George Bernard Shaw ist die Huldigung überliefert, jedes Mal, wenn er ein Drama von Tschechow sehe, wolle er seine eigenen Werke ins Feuer werfen.
Über den Autor
Anton Tschechow wird am 29. Januar 1860 in Taganrog am Asowschen Meer geboren. Sein Vater ist in seiner Kindheit noch ein Leibeigener gewesen. Mit diesem Makel behaftet, wächst Tschechow in einer kleinbürgerlichen Umgebung auf und besucht das Gymnasium. In Moskau studiert er Medizin und praktiziert danach einige Zeit als Arzt. Ab 1880 schreibt er für humoristische Zeitschriften. In den 1890er-Jahren wird der zunächst unpolitische Tschechow durch die Verschärfung der sozialen Widersprüche im Zarismus politisiert. 1890 unternimmt er eine Reise zu der sibirischen Insel Sachalin, um über die Zwangsarbeit der Verbannten zu berichten. Er organisiert Hilfsmaßnahmen für Opfer von Hunger- und Choleraepidemien und übt immer lauter Kritik an den herrschenden Zuständen. Tschechow verfasst Erzählungen und Dramen und entwickelt beide Gattungen maßgeblich weiter. Zu seinen bekannten Novellen zählen Die Steppe (1888), Eine langweilige Geschichte (1889), Das Duell (1891) und Die Dame mit dem Hündchen (1899). Für die Bühne schreibt er zunächst possenartige Einakter, dann lange Zeit gar nichts. Die große Anerkennung als Dramatiker findet er erst mit den Stücken Die Möwe, Onkel Vanja, Drei Schwestern und Der Kirschgarten, die zwischen 1896 und 1904 entstehen. Ab 1884 leidet Tschechow an Lungentuberkulose, weshalb er ab 1898 in Jalta auf der Krim lebt. 1901 heiratet er die Schauspielerin Olga Knipper. Sie begleitet ihn zur Kur ins deutsche Badenweiler, wo er am 15. Juli 1904 stirbt. Beerdigt ist er in Moskau.
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