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Der menschliche Makel

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Der menschliche Makel

Hanser,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Auf- und Abstieg eines Lebenslügners: Philip Roths grandioser Abgesang auf den „American Dream“.


Literatur­klassiker

  • Abenteuerroman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Die Lebenslüge eines Professors

Philip Roths Roman Der menschliche Makel erzählt vom Zerfall der Familie, vom Scheitern des "American Dream", von der Trostlosigkeit akademischer Karrieren und vor allem von dem vergeblichen Versuch, mit sich und seinem Leben ins Reine zu kommen. Weitere typisch Roth'sche Themen sind: die Folgen eines sexuellen Missbrauchs, der körperliche Zerfall alt gewordener Männer, die Einsamkeit selbstbewusster Karrierefrauen sowie Mord aus Verzweiflung und Leidenschaft. Was wie ein klassischer amerikanischer Campusroman beginnt, entpuppt sich als überaus spannendes Sittengemälde der selbstvergessenen bildungsbürgerlichen amerikanischen Gesellschaft im ausgehenden 20. Jahrhundert. Anhand der Hauptfigur, des über 70-jährigen Universitätsprofessor Coleman Silk, der durch eine Affäre um Rassismus und Sex tragisch zu Fall gebracht wird, erzählt Philip Roth mit psychologischer Tiefgründigkeit von der Illusion, im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" seine Lebenslügen bis zum Tod aufrechtzuerhalten.

Take-aways

  • Der menschliche Makel ist einer der eindrucksvollsten Romane der amerikanischen Literatur an der Wende zum 21. Jahrhundert.
  • Er erzählt von der Lebenslüge eines Universitätsprofessors, der als Schwarzer mit weiß pigmentierter Haut geboren wird und als falscher weißer Jude einen steilen gesellschaftlichen Aufstieg feiert, bis ihn eine Affäre ins Verderben stürzt.
  • Prof. Coleman Silk bezeichnet in einem Seminar zwei abwesende Teilnehmerinnen scherzhaft als "dunkle Gestalten" - und wird fortan als Rassist verfolgt.
  • Die karrieresüchtige Professorin Delphine Roux bringt den 71-Jährigen zu Fall. Resigniert verlässt er die Uni.
  • Als Colemans Frau einem Herzschlag erliegt, stellt ihr Mann einen Zusammenhang zwischen der Hexenjagd auf ihn und ihrem Tod her.
  • Er beschließt, ein Buch über seine Frau und seine Lebenslüge zu schreiben, scheitert aber. Der Schriftsteller Nathan Zuckerman übernimmt diese Arbeit für ihn.
  • Wegen Silks Affäre mit einer viel jüngeren und als Analphabetin geltenden Putzfrau wird er auch noch als Sexist verfolgt.
  • Am Ende kommen Silk und seine Geliebte bei einem Autounfall ums Leben.
  • Vor dem Hintergrund der Sexaffäre des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton mit der Praktikantin Monica Lewinsky erhielt Roths Buch eine besondere Brisanz.
  • Rassismus, Feminismus, Political Correctness und der nicht bewältigte Vietnamkrieg sind die Hauptthemen des Romans.
  • Mit Der menschliche Makel festigte Philip Roth seinen Ruf des "sex maniac" in der amerikanischen Gegenwartsliteratur.
  • Er gilt wegen seines realistischen Literaturkonzepts als Gegner der postmodernen amerikanischen Literatur, wie sie von Thomas Pynchon oder Don DeLillo verkörpert wird.

Zusammenfassung

Die Karriere

Der 71-jährige Altphilologe Coleman Silk schaut auf eine großartige akademische Karriere zurück. Über 20 Jahre lang war er Professor für klassische Literatur am renommierten Athena College an der Ostküste der USA, nördlich von New York. Darüber hinaus war er 16 Jahre als Dekan dieser Universität tätig - der einzige Jude, der an dem College jemals eine solche Karriere gemacht hat. Wegen seines selbstlosen Einsatzes für innovative Lehrmethoden und der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses genießt der liberale Wissenschaftler bei Studenten und jungen Akademikern am College einen ausgezeichneten Ruf. Im Jahr 1995 legt Silk sein Amt als Dekan nieder, um sich im Fachbereich Sprache und Literatur, der von der ehrgeizigen französischen Professorin Delphine Roux geleitet wird, ganz einer Vorlesungsreihe über antike Tragödien widmen zu können. Bereits im ersten Semester eckt Coleman Silk bei einer Studentin an, weil er kein feministisches Gedankengut in seine Ausführungen über die Tragödie des Euripides habe einfließen lassen.

Das Verhängnis

Sechs Wochen nach Beginn des folgenden Semesters macht Silk im Zuge seiner routinemäßigen Überprüfung der Anwesenheitsliste eine scherzhaft gemeinte, aber verhängnisvolle Bemerkung: Zwei "dunkle Gestalten" hätten sich zwar für den Kurs eingeschrieben, scheuten aber wohl "das Seminarlicht". Was Coleman Silk nicht weiß: Diese beiden als "dunkle Gestalten" bezeichneten Seminarschwänzer sind Studentinnen afroamerikanischen Ursprungs. Der Vorwurf des Rassismus liegt in der Luft. Prompt wird Delphine Roux eingeschaltet. Mit großer Energie betreibt sie eine berufliche wie persönliche Demontage des Professors. Seinen Neidern im Kollegenkreis kommt dies gerade recht. Der Rassismusvorwurf führt dazu, dass der Gelehrte allseits geächtet wird: von den schwarzen Studentenvereinigungen bis zu den politisch um äußerste Korrektheit bemühten Kollegen an der Fakultät. Der Skandal um seine angeblich rassistische Einstellung trägt auch dazu bei, dass schwarze Akademiker am Athena College eine größere Lobby erhalten. Mehr Anstellungen für sie stehen nun auf der Tagesordnung.

„Im Sommer 1998 gestand mir mein Nachbar Coleman Silk (...), dass er, im Alter von einundsiebzig Jahren, eine Affäre mit einer vierunddreißigjährigen Putzfrau hatte, die in der Universität arbeitete.“ (S. 9)

Vom Rassismusvorwurf und antisemitischen Beleidigungen zermürbt, geht Coleman Silk 1996 in den Ruhestand. Seine Frau, die 64-jährige Schriftstellerin und Künstlerin Iris Silk, einst eine glühende Aktivistin beim Protest gegen den Vietnamkrieg, belastet der Skandal sehr, und sie erleidet einen tödlichen Herzinfarkt. Ihr Mann sieht die Ursache dafür in der auf ihn veranstalteten Hexenjagd.

Die Lebenslüge

Was weder Silks Frau noch Delphine Roux, weder seine Kinder noch die Studenten und Kollegen am Athena College wissen und was er selbst auf dem Höhepunkt der Rassismuskampagne gegen ihn verheimlicht, ist der Umstand, dass Coleman Silk gar kein weißer, jüdischer Amerikaner ist, wie alle glauben, sondern ein Schwarzer. Ein Schwarzer, dessen Haut allerdings von Geburt an so hell pigmentiert ist, dass er die Fiktion, ein Weißer zu sein, ein Leben lang aufrechterhalten konnte. Nach eigener Aussage wollte er "nicht schwarz, nicht weiß, sondern einfach frei und er selbst sein".

„(...) in Amerika war es der Sommer eines gewaltigen Frömmigkeitsanfalls, eines Reinheitsanfalls, denn der internationale Terrorismus, der den Kommunismus als größte Bedrohung der nationalen Sicherheit ersetzt hatte, wurde seinerseits durch Schwanzlutschen ersetzt (...)“ (S. 10)

Coleman Silk, mit vollem Namen Coleman Brutus Silk, stammt aus einer Optikerfamilie aus East Orange, New Jersey. Als Sohn schwarzer Eltern wuchs er in Zeiten der Rassentrennung unter Schwarzen auf. Nach einer geschäftlichen Pleite jobbte sein Vater als Kellner in Speisewagen der Bahn. Mitten beim Servieren fiel er eines Tages tot um. 1944 legte Coleman das Abschlussexamen an der Orange Highschool als Klassenprimus ab. Auch mit sportlichen Erfolgen wartete er in seiner Jugend auf. Sein Boxlehrer riet ihm aus Karrieregründen, er solle nicht sagen, dass er ein Schwarzer sei, wenn er gefragt werde. Um bei der Navy aufgenommen zu werden, beschloss Silk, sich als Weißer eine neue Identität zu geben und in die Rolle eines amerikanisch-jüdischen Aufsteigers zu schlüpfen. Der Trick funktionierte. Er wurde bei der Navy angenommen und machte auch hier Karriere.

„(...) ein viriler, jugendlicher Präsident in mittleren Jahren und eine verknallte, draufgängerische einundzwanzigjährige Angestellte führten sich im Oval Office auf wie zwei Teenager auf einem Parkplatz und belebten so die älteste gemeinsame Leidenschaft der Amerikaner wieder (...): die Ekstase der Scheinheiligkeit.“ (S. 10)

Nur ganz selten flog Colemans falsche Identität auf: 1946 im Kontakt mit einer weißen Prostituierten und 1948 bei einer Begegnung seiner damaligen weißen Freundin mit seiner unschwer als Schwarze zu erkennenden Mutter. Später hatte er eine halbjährige Beziehung zu einer jungen Schwarzen. Sie fühlte sich wohl bei dem Gedanken, mit einem Schwarzen zusammen zu sein, der wie ein Weißer aussah.

Eine vorbildliche Ehe

Als Coleman Silk seine spätere Frau, die geborene Iris Gittelman, kennenlernte, nahm er endgültig die Identität eines Juden und weißen Amerikaners an. Iris schöpfte keinen Verdacht, zumal Coleman beschnitten war. Sie ahnte nicht, dass er nur aus hygienischen Mitteln von seinen Eltern zur Beschneidung geschickt worden war. Um weiterhin unangefochten als weißer Jude leben und die Ehe mit einer weißen Frau eingehen zu können, sagte er sich auf Nimmerwiedersehen von den noch lebenden Mitgliedern seiner Familie los. Er wollte nicht mehr zu ihrem "Neger-Wir" gehören.

„Fünf Wochen lang kam auf zwei der Namen, die er verlas, keine bestätigende Antwort, und so fragte Coleman am Anfang der sechsten Sitzung: ‚Kennt jemand diese Leute? Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?'“ (S. 15)

Coleman und Iris Silk bekamen vier Kinder. Bei keiner Geburt bewahrheitete sich die Befürchtung, ein dunkelhäutiges Kind käme zur Welt. In der Angst, demaskiert zu werden, und in der gleichzeitigen Sehnsucht, erkannt zu werden, sah der Familienvater sein Dilemma. Nach der vierten Geburt gab er sich einen Ruck und wollte seiner Frau seine Lebenslüge beichten. Er scheiterte aber und schwieg im letzten Moment, weil Iris zum Thema Betrug in der Ehe einen moralisch rigorosen, unversöhnlichen Standpunkt einnahm, der Coleman einschüchterte.

„Ohne Viagra besäße ich die Würde eines älteren Gentleman, der kein Verlangen verspürt und sich korrekt benimmt.“ (Coleman Silk, S. 43)

Nach dem Tod der Ehefrau, will Coleman seine Seele reinwaschen, indem er sich daranmacht ein Buch über Iris, seine Ehe und seine 50 Jahre währende Lebenslüge zu schreiben. Aber zwei Jahre später, im Sommer 1998, gibt er seinen Plan auf. Über die Rohfassung eines Manuskripts ist er nicht hinausgekommen. Coleman Silk erzählt seinem Nachbarn, dem Schriftsteller Nathan Zuckerman, von seinem Scheitern und bittet ihn, das Buch für ihn zu schreiben. Dieser lehnt das Ansinnen zunächst ab.

Sex and Crime

Nathan Zuckerman ist 1993 von Manhattan in die Gegend gezogen und bewohnt allein ein kleines Haus. Seit einer Krebsoperation an der Prostata ist er impotent und überdies inkontinent. Er findet sich mit seinem Schicksal stoisch ab. Er hört Coleman Silk zu, erlebt, wie der Witwer neue Lebenskraft zu tanken versucht. Dank seiner robusten körperlichen Verfassung und dank Viagra, erzählt Coleman dem Schriftsteller, sei er noch immer zu sexuellen Höchstleistungen in der Lage. Mit der 34-jährigen Putzfrau Faunia Farley verbindet ihn eine leidenschaftliche erotische Beziehung ohne intellektuellen Anspruch. Denn Faunia ist Analphabetin. Nicht nur das, sie steht auch dazu. Ein Bekenntnis, das dem Professor gefällt. Für ihn ist Faunia die Fleischwerdung der geborenen Unschuld.

„Infolge einer Operation zur Entfernung der Prostata (...) bin ich inkontinent, und so entfernte ich, kaum dass ich von Coleman zurück war, die Watteeinlage, die ich Tag und Nacht trage und die im Schritt meiner Unterhose liegt wie ein Hot Dog in einem Brötchen.“ (S. 47)

Faunia stammt aus Boston. Als sie fünf war, ließ sich ihr Vater von der Mutter scheiden, nachdem er sie mit einem anderen Mann im Bett ertappt hatte. Die Mutter heiratete ein zweites Mal. Der Stiefvater missbrauchte Faunia wiederholt. Doch weder die Mutter noch ein Psychologe glaubten ihr. Mit 14 floh Faunia aus ihrem Elternhaus. Mit 17 jobbte sie als Kellnerin in Florida. Mit 23 heiratete sie den Vietnamveteranen und Milchfarmer Lester Farley. Dieser wurde mit seiner Vergangenheit als Soldat im Vietnamkrieg nicht fertig, er litt an einem Trauma. Das Paar bekam zwei Kinder. Lester war rasend eifersüchtig, wiederholt verprügelte er seine Frau. Als er einmal drauf und dran war, seine Frau mit einem anderen Mann in flagranti zu erwischen, vernachlässigte er seine Kinder im Kinderzimmer, wo eine umgefallene Heizsonne einen Brand entfachte. Die Kinder erstickten. Die Mutter, die ihre Asche in einer Dose unter ihrem Bett aufhob, ließ sich später von Farley scheiden. Ihren Lebensunterhalt verdient sie nun als Putzfrau im Postamt und im Athena College. Mit anderen geschiedenen Frauen zusammen wohnt sie auf einer Milchfarm.

Neue Hexenjagd

Delphine Roux bekommt von Faunias sexueller Beziehung mit Coleman Silk Wind. Sie nimmt diese von Faunia freiwillig und voller Elan eingegangene Liaison mit dem Professor zum Anlass, Silk öffentlich des Sexismus zu bezichtigen.

„Jeder weiß, dass Sie eine misshandelte, analphabetische Frau, die halb so alt ist wie Sie, sexuell ausbeuten.“ (Delphine Roux, S. 50)

In diesem Sommer des Jahres 1998 sorgt gerade die Sexaffäre des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton mit der Praktikantin Monica Lewinsky für Schlagzeilen. Der Schriftsteller Nathan Zuckerman, der Colemans Geschichte aufschreibt, vergleicht dessen Fall mit dem des Präsidenten und entwirft ein Sittenporträt eines sich in Scheinheiligkeit und Doppelmoral ergießenden Amerika am Ausgang des 20. Jahrhunderts.

„Ich will bloß einmal die Woche einen heimlichen, ruhigen Fick mit einem Mann, der schon alles hinter sich hat und nicht mehr ins Schwitzen kommt.“ (Faunia Farley, S. 52)

Delphine Roux, von den Aufregungen rund um die Sexaffäre des Präsidenten nicht unbeeinflusst, ist sich sicher, dass Coleman Silk mit Faunia Farley eine unterprivilegierte Frau für seine sexuellen Eskapaden missbraucht. Sie schreibt Coleman einen anonymen Brief, in dem sie ihre Anklage äußert. Colemans Anwalt Nelson Primus bringt seinen Mandanten von der Idee ab, rechtliche Schritte gegen Frau Roux einzuleiten. Er möge sich lieber, seines Rufs wegen, von Faunia trennen. Darüber gerät Coleman in Rage und beschimpft seinen Anwalt als "lilienweiß".

„Mit demselben phänomenalen, lebensrettenden Geruchssinn, der es ihm ermöglicht hat, die Schweißausdünstungen eines lautlosen Scharfschützen im stockfinsteren Dickicht des vietnamesischen Dschungels wahrzunehmen, fängt er jetzt den Geruch der beiden Frauen auf und merkt, dass er den Boden unter den Füßen verliert.“ (über Lester Farley, S. 248)

Delphine Roux leidet unter Einsamkeit und sexueller Frustration und will dieser Not mit einer Kontaktanzeige ein Ende bereiten. Der Versuch scheitert: Die Anzeige landet nicht an der korrekten Adresse, sondern bei Kollegen in der Uni. Coleman Silk hilft das wenig, zumal sich nicht nur seine Kollegen, sondern darüber hinaus auch seine Kinder wegen der sexuellen Liaison mit einer Analphabetin und Putzfrau empört von ihm lossagen. Dass sich auch seine Tochter, die er von seinen Kindern am meisten liebt, von ihm distanziert, schmerzt ihn besonders.

Der Showdown

Nicht nur Delphine Roux, auch Lester Farley, der sich inzwischen einer Selbsthilfegruppe von Vietnamveteranen angeschlossen hat, versucht dem Treiben des ungleichen Liebespaares auf die Schliche zu kommen. Der Anwalt muss Coleman sogar davon abbringen, rechtliche Schritte gegen den um sein Haus herumschleichenden Lester Farley einzuleiten. Als Coleman Silk am 11. November 1998 seinen 72. Geburtstag feiert, beschließt Lester Farley, der gerade an einer Gedenkveranstaltung für gefallene Soldaten in Washington teilgenommen hat, in Richtung von Silks Haus zu fahren. Er wartet darauf, dass Silk und Faunia ihm im Auto entgegenkommen. Nach Einbuch der Dunkelheit ist es so weit: Mit aufgeblendeten Scheinwerfern rast Lester Farley auf das Auto des Professors zu. Es gibt zwar keinen Zusammenstoß. Trotzdem kommen Coleman Silk und Faunia Farley, weil sie von der Straße abgedrängt werden, ums Leben.

„Gegen Ende unseres Jahrhunderts bietet einem das Leben nur selten einen so unschuldigen, friedlichen Anblick wie diesen: Auf einem idyllischen Berg in Amerika sitzt ein Mann auf einem Eimer und fischt durch ein Loch im fünfundvierzig Zentimeter dicken Eis in einem See, dessen Wasser ständig erneuert und gereinigt wird.“ (S. 399)

Klatschsüchtige Zungen erzählen sich später, der Unfall sei passiert, weil sich Faunia Farley selbst während der Autofahrt am Geschlechtsteil des Professors zu schaffen machen musste. Coleman Silk wird neben seiner Frau Iris beerdigt. In den Augen der Öffentlichkeit ist er als jüdischer Rassist und Frauenfeind gestorben. Bei der Beerdigung Faunias ist Nathan Zuckerman anwesend. Er erfährt bei dieser Gelegenheit, dass sie ein regelmäßiges Tagebuch geführt hat, also gar keine Analphabetin war. Das war ihre Lebenslüge. Für sein Buch über Coleman Silk möchte Zuckerman in den Besitz dieses Tagebuchs kommen. Doch Faunias Stiefmutter verbrennt es. Auch Coleman Silks Kinder lassen es nicht zu, dass Nathan Zuckerman in ihrem Kreis recherchiert, um an dem Buch über Colemans Leben zu arbeiten, das er ihm versprochen hat.

Begegnung mit dem Mörder

Am Ende kommt es noch zu einer Begegnung zwischen Nathan Zuckerman und Lester Farley, der gerade dabei ist durch ein Loch in einem zugefrorenen See nach Fischen zu angeln. Zuckerman erzählt von seinem Romanprojekt. Während Lester Farley fürchten muss, darin als Mörder seiner Frau und deren Liebhaber enttarnt zu werden, hat der Schriftsteller die Vision, von Lester Farley mit einem Eisbohrer getötet zu werden - wenn denn sein Roman mit dem Titel Der menschliche Makel jemals erscheinen sollte ...

Zum Text

Aufbau und Stil

Philip Roths Roman zeugt von einem ausgeprägten Formbewusstsein: Der menschliche Makel ist in Anlehnung an die antike Tragödie in fünf Kapitel unterteilt. Damit entspricht die Dramaturgie des Romans auch dem Spezialgebiet des Altphilologen Coleman Silk, dessen letztes Seminar am Athena College der antiken Tragödie gewidmet ist. Zudem wimmelt es im Roman von Anspielungen auf das antike Drama: Coleman Silk, der mit seinem zweiten Vornamen Brutus heißt, lässt sich als ein gestürzter König vorstellen, dessen Leben tragisch endet; die wegen seines sexuellen Gebarens entrüsteten Studenten stellen eine Art Chor dar; als besseres Wort für das Potenzmittel "Viagra" schlägt Coleman Silk "Zeus" vor. Als Erzähler des Romans fungiert die fiktive Schriftstellerfigur Nathan Zuckerman. Er schreibt auf, was ihm sein Freund Coleman Silk erzählt. Der menschliche Makel ist nicht nur der Titel des Romans von Philip Roth, sondern auch Nathan Zuckermans Titel des Romans im Roman. Die Raffinesse der Erzählform zeigt sich auch darin, dass Philip Roth die Handlung auf verschiedenen Erzählebenen zuspitzt und dabei immer wieder die Perspektive wechselt, ohne den Faden jemals zu verlieren. Die Übergänge vom Erzählen in der dritten Person zur Form des inneren Monologs gelingen Philip Roth virtuos.

Interpretationsansätze

  • Der menschliche Makel ist in vielerlei Beziehung ein doppelbödiger Roman. Fiktion und Realität bilden eine untrennbare Einheit: Die Figur des Nathan Zuckerman schreibt im Roman einen Roman mit dem Titel Der menschliche Makel, den der Leser bereits in der Hand hält, während er noch von dessen Entstehung liest. Aber die Konstruktion wirkt so wenig aufgesetzt wie die Sprache künstlich. Es handelt sich um einen in jeder Beziehung sowohl unterhaltsamen als auch intelligenten Roman.
  • Philip Roth gibt allen Personen im Roman eine eigene Stimme. Auch die auf den ersten Blick eher negativ gezeichneten Figuren wie die Denunziantin Delphine Roux oder den Vietnamveteranen und Mörder Lester Farley lässt er in der ersten Person monologisieren. Roths multiperspektivischer Erzählstil führt dazu, dass der Leser nicht in Schwarz-Weiß-Denken verfällt. Er kann sogar Verständnis für die verzweifelten Taten der Gegner von Coleman Silk aufbringen, der seinerseits auch nicht nur positiv gezeichnet ist.
  • Die Schicksale seiner Figuren führt Philip Roth einerseits als Addition und Nebeneinanderstellung vor, andererseits als spiegelbildliche Verdoppelung. Nicht nur Coleman Silk, der sich entgegen seiner rassischen Herkunft die Identität eines weißen Juden zulegt, versucht mit einer Lebenslüge zu leben, sondern auch seine Geliebte Faunia Farley und andere Figuren des Romans. Roth scheint sagen zu wollen: Jeder Mensch lebt mit einer Lebenslüge - die Frage ist nur, wann er sie aufgibt.
  • Auch Coleman Silk und Nathan Zuckerman, das Alter Ego des Autors Philip Roth, stehen in einem spiegelbildlichen, wenn auch spiegelbildlich verkehrten Verhältnis zueinander: hier der sexuell vitale Silk, dort der impotente Zuckerman. Dass am Ende der Impotente überlebt, gehört zu den resignativ-ironischen Erkenntnissen, die der Leser aus der Lektüre des Romans ziehen kann.

Historischer Hintergrund

Amerika am Ende des 20. Jahrhunderts

Der zeitgeschichtliche Fixpunkt des Romans liegt im Jahr 1998. Im Sommer dieses Jahres flog unter Begleitung einer aggressiven Medienberichterstattung die Sexaffäre des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton mit der Praktikantin Monica Lewinsky auf. Es war die Zeit einer landesweit wütenden Beschwörung der Political Correctness, und zwar über die intellektuellen Bevölkerungsschichten hinaus. Die ganzen USA wurden am Ende des Jahrhunderts von einem bisweilen rabiaten Neokonservatismus erfasst. Die Grenzen gegenüber der in den 60er Jahren heraufbeschworenen "sexual revolution" wurden unter Zuhilfenahme radikaler religiöser und ideologischer Standpunkte wieder höhergezogen.

An amerikanischen Universitäten, in den Medien und in vielen Büchern wurde am Ende des 20. Jahrhunderts über die Scheinheiligkeit und Doppelmoral eines um sich greifenden neokonservativen Zeitgeists intensiv diskutiert. In der Wahl des Republikaners George W. Bush zum Präsidenten der USA im Jahr 2000 fand der konservative Boom seine Entsprechung.

In den Diskussionen um Konservatismus und Liberalismus in einer vorbildlichen Demokratie (so zumindest das amerikanische Selbstverständnis) spielten amerikanische Gegenwartsromane eine große Rolle. Das Weiterleben des Vietnamkriegs in den Köpfen ehemaliger Soldaten, die Grenzen des Feminismus und vor allem die immer noch nicht überwundenen Folgen der Rassengesetze sind Themen, die auch in Philip Roths Literatur deutliche Spuren hinterlassen haben.

Entstehung

Philip Roth hat Der menschliche Makel zwischen 1998 und 2000 geschrieben. Der Roman bildet nach Amerikanisches Idyll (1997) und Mein Mann, der Kommunist (1998) den Abschluss einer Trilogie über Lebensschicksale, die entscheidende historische Brüche in der Geschichte der USA widerspiegeln. Aber wie schon die beiden Vorgänger ist auch Der menschliche Makel ein literarisches Kunstwerk, das für sich steht. Man kann es, ohne je ein anderes Werk von Philip Roth gelesen zu haben, als Einsteigerlektüre genießen.

"Ich kämpfe immer darum, dass meine erfundene Geschichte so real wie möglich erscheint", sagte Roth einmal. Zum Realismus seines Romans trugen historische Recherchen bei, z. B. über die in den 20er und 30er Jahren verbreitete Gepflogenheit schwarzer Bürger mit heller Haut, sich eine komplett weiße Identität zu geben, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Wie eng Der menschliche Makel im Kontext der anderen Romane des Autors steht, zeigt sich u. a. darin, dass die Figur des Schriftstellers Nathan Zuckerman auch in früheren Werken auftritt.

Zu seinen literarischen Vorbildern sagte Roth selbst: "Wenn Sie John Updikes Rabbit-Romane lesen (...), dann haben Sie dort eine ähnliche Klarheit in der Selbstreflexion." Außerdem wurde er sowohl von Saul Bellows Campusromanen als auch von F. Scott Fitzgeralds Werk Der große Gatsby (1925) beeinflusst. In Fitzgeralds Roman geht es ebenfalls um einen Wechsel der persönlichen Identität, um eine Lebenslüge also, die den Traum von persönlicher Freiheit und gesellschaftlichem Aufstieg, den "American Dream", verwirklichen soll.

Wirkungsgeschichte

Neben John Updike ist Philip Roth der bedeutendste amerikanische Romanschriftsteller, der Themen der amerikanischen Geschichte mit individuellen Lebensschicksalen, die spezifisch für den bildungsbürgerlichen Mittelstand sind, verbindet. Wegen seines realistischen Literaturkonzepts gilt Roth als Gegner der postmodernen amerikanischen Literatur, wie sie etwa von Thomas Pynchon oder Don DeLillo verkörpert wird.

Mit seinem Roman Der menschliche Makel hat sich Philip Roth endgültig in die Riege derer geschrieben, die jährlich als Kandidaten für den Literaturnobelpreis in den Medien gehandelt werden. Der Roman ist auch sein bislang größter Erfolg in Deutschland, sowohl in der Kritik als auch beim breiten Publikum. "Mit diesem Buch hat Roth endgültig The Great American Novel geschrieben, die Tragikomödie seines Landes im späten 20. Jahrhundert", befand etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung. "Was für ein ungeheurer, großartiger, menschenkluger Roman!", rief Die Welt aus, und die Süddeutsche Zeitung befand: "Wahnsinnig und ergreifend wie Dostojewski oder Dickens. Besser geht's nicht."

Der Roman kam 2003 unter der Regie von Robert Benton mit Anthony Hopkins und Nicole Kidman in den Hauptrollen in die Kinos. Zudem erschien 2006 eine deutschsprachige Hörspielfassung.

Über den Autor

Philip Roth wird am 19. März 1933 in Newark, New Jersey, als Sohn jüdischer Eltern geboren. Er studiert englische Literatur, macht 1955 in Chicago seinen Master of Arts und unterrichtet nach seinem Militärdienst Anglistik, zunächst an der University of Chicago, später auch in Princeton. Das akademische Leben auf dem Campus, seine zwischenmenschlichen Erlebnisse in der Paarbeziehung, vor allem aber erotische Erfahrungen sind die Quellen seiner literarischen Schaffenskraft. Roth heiratet 1959 Margaret Martinson, die Ehe hält bis 1963. Im Jahr der Eheschließung erscheint sein Debütroman Goodbye, Columbus. Dafür gibt es erstes Lob aus dem Literaturbetrieb: den renommierten National Book Award. Mit seinem Roman Portnoy's Complaint (Portnoys Beschwerden) von 1969 hilft er dank detaillierter Beschreibungen autoerotischer Sexualpraktiken der teils schockierten, teils erleichterten amerikanischen Lesergesellschaft über ihre anerzogenen sexuellen Verklemmungen hinweg. Roth lebt für einige Zeit mit der britischen Schauspielerin Claire Bloom zusammen. Vier Jahre nach der Heirat 1990 lässt sich das Paar wieder scheiden; Bloom veröffentlicht in der Folge ihre Memoiren, in denen sie mit Roth abrechnet. Seine mehr als 20 Bücher bringen dem Autor im Lauf der Jahre nicht nur zahlreiche Literaturpreise ein (u. a. den PEN/Faulkner Award und den Pulitzerpreis), sondern auch den Ruf des "sex maniac" der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Auch die Romane Sabbath's Theater (Sabbaths Theater, 1995) und The Dying Animal (Das sterbende Tier, 2001) erregen diesbezüglich die Gemüter.

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