Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Insel Verlag, 2005
Was ist drin?
Literarisch wertlos – oder doch ein Meisterwerk? Bei Adalbert Stifters Nachsommer waren die Meinungen lange Zeit geteilt.waren die Meinungen lange Zeit geteilt.
- Bildungsroman
- Biedermeier
Worum es geht
Auf der Reise zu sich selbst
Was geschieht eigentlich im Nachsommer? Nicht eben viel: Ein junger Mann unternimmt Bildungsreisen ins Gebirge und lernt dabei zufällig einen älteren Mann kennen, dessen Lebensstil ihn interessiert. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft, und von da an ist der junge Mann ständig unterwegs: Neben seinen geologischen Forschungsreisen und den Aufenthalten bei seinen Eltern stattet er seinem neuen Bekannten häufig längere Besuche ab. Dieses Leben führt er einige Jahre, lernt dabei vieles, entwickelt ein Verständnis für Kunst und heiratet schließlich die Tochter einer Freundin seines Mentors. Für einen Roman von knapp 800 Seiten Länge ist das herzlich wenig Handlung, und besonders spannend ist sie auch nicht. Aber dem Autor geht es auch gar nicht darum, ein bestimmtes Geschehen zu schildern und damit seine Leser zu fesseln. Im Zentrum steht vielmehr die Darstellung einer idealen Welt, in der die Menschen genug Freiraum haben, um ihre Begabungen zu entwickeln und zu sich selbst zu finden. Diese Grundidee macht den Roman auch heute noch interessant, auch wenn man vergeblich nach Spannung sucht.
Take-aways
- Adalbert Stifters Nachsommer ist einer der bedeutendsten deutschen Bildungsromane.
- Er beschreibt die Entwicklung und Selbstfindung des jungen Heinrich Drendorf.
- Heinrich wächst in einer wohlhabenden Familie auf. Sein Vater ermuntert ihn, bei der Berufswahl ganz seinen eigenen Neigungen zu folgen.
- Der junge Mann fühlt sich zur Wissenschaft hingezogen, insbesondere zur Geologie.
- Auf einer Reise macht er zufällig die Bekanntschaft des alten Freiherrn Risach, eines gebildeten und kunstsinnigen Menschen.
- Zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft. Heinrich besucht Risach oft.
- So entwickelt er neben naturwissenschaftlichen Interessen auch Freude an der Kunst und bildet seine Persönlichkeit weiter aus.
- Am Ende heiratet er Natalie, die Tochter von Risachs Freundin Mathilde.
- In einer Rückblende wird die Geschichte Risachs und Mathildes erzählt, die sich liebten, aber nicht heiraten durften. Jetzt erleben sie einen „Nachsommer“.
- Stifter entwirft in diesem Werk eine heile Welt: einen positiven Gegenentwurf zu seinem eigenen Leben und den politischen Wirren seiner Zeit.
- Charakteristisch für den Roman sind die detailversessenen Beschreibungen einzelner Gegenstände, gegenüber denen die Handlung in den Hintergrund tritt.
- Das Werk wurde von der Kritik zunächst abgelehnt, überzeugte jedoch langfristig mit seiner zeitlosen Grundthematik: der Suche des Menschen nach einem sinnvollen Leben.
Zusammenfassung
Jugend in geordneten Verhältnissen
Heinrich Drendorf wächst zusammen mit seiner Schwester Klotilde in einer wohlhabenden Familie auf. Die Eltern legen großen Wert auf eine gesunde Entwicklung und eine gute Bildung ihrer Kinder. Heinrich darf selbst entscheiden, welchen Beruf er wählen möchte. Da er durch eine Erbschaft finanziell unabhängig und über seinen Berufsweg sehr unsicher ist, beschäftigt er sich zunächst allgemein mit den Naturwissenschaften. Sein Wissen eignet er sich hauptsächlich aus Büchern an. Schließlich konzentriert er sich auf die Geologie und unternimmt zahlreiche Reisen ins Gebirge.
Ein neuer Freund
Auf einer seiner Wanderungen bemerkt Heinrich, dass sich ein Gewitter zusammenbraut. In einem nahe gelegenen Bauernhof möchte er Schutz suchen. Dort lebt ein älterer Mann (der sich später als Freiherr von Risach herausstellen wird); er nimmt Heinrich freundlich auf, versichert ihm aber, dass es über seinem Anwesen an diesem Tag kein Gewitter geben werde. Heinrich ist ganz anderer Meinung und aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse auch sicher, dass er Recht hat. Aber gerade darum interessiert er sich dafür, wie der Mann zu seiner Überzeugung kommt und wer wohl Recht behalten wird. So nimmt er die Einladung an, erst einmal zu bleiben und abzuwarten, wie sich das Wetter entwickelt. Schließlich übernachtet er sogar in dem Haus.
„Gegen diesen Einwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der menschlichen Gesellschaft wegen da, sondern seiner selbst willen. Und wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er es auch für die menschliche Gesellschaft.“ (S. 18)
Am nächsten Morgen haben sich die Gewitterwolken verzogen, ohne dass ein Tropfen Regen gefallen ist – der alte Mann hat Recht behalten. Nun ist Heinrich umso neugieriger und möchte mehr über seinen Gastgeber und dessen Kenntnisse erfahren. Dieser zeigt ihm sein Anwesen, in dem er zusammen mit seinem Pflegesohn Gustav und seinen Bediensteten lebt, sowie den großen Garten und die umliegenden Felder. Der Gastgeber hat einige Vorlieben, die Heinrich interessieren: So sammelt er alte Möbelstücke und lässt sie unter Leitung des Künstlers Eustach in einer eigenen Schreinerei restaurieren, wo auch neue Möbel nach alten Vorbildern entworfen werden. Außerdem hat der alte Mann naturwissenschaftliche Kenntnisse. Nun erklärt er Heinrich, worauf sich seine genaue Wettervorhersage stützte: Aus dem Verhalten der Tiere und dem Geruch mancher Pflanzen zieht er Rückschlüsse auf das Wetter. Heinrich bleibt noch eine weitere Nacht in dem Haus, ehe er wieder aufbricht. Der alte Mann lädt ihn ein, wiederzukommen und länger zu bleiben.
„Alte Gewohnheiten haben etwas Beruhigendes, sei es auch nur das des Bestehenden und immer Gesehenen.“ (S. 63f.)
Erst später fällt Heinrich auf, dass er seinen Gastgeber weder nach dem Namen gefragt noch sich selbst vorgestellt hat. Er versucht, in den umliegenden Dörfern den Namen des Mannes zu erfahren. Dieser wird in der Gegend aber nur „der Aspermeier“ genannt, weil das Haus Asperhof heißt.
Erst im Herbst kehrt Heinrich nach Hause zurück, aber was er im Asperhof gesehen und gehört hat, beschäftigt ihn weiter. Mehr als zuvor interessiert er sich für alte Gebäude und alte Möbel. Einmal sieht er in der Stadt den alten Mann in einer Kutsche vorüberfahren und erfährt endlich, dass er im Sommer bei jenem Freiherr zu Gast war, der früher einmal hohe Staatsämter bekleidet hat, jetzt aber zurückgezogen auf dem Land lebt.
Rückkehr zum Asperhof
Als Heinrich im nächsten Frühjahr wieder ins Gebirge reist, macht er zuerst einen Besuch bei Risach und hält sich etwas länger im Asperhof auf. Alles dort gefällt ihm: die bewusste Lebensweise des alten Mannes, seine Beschäftigung mit Natur und alter Kunst, das geschmackvoll eingerichtete Haus. Seine Wanderung ins Gebirge plant Heinrich so ein, dass er zur Zeit der Rosenblüte wieder zurück ist, denn das Haus ist teilweise mit Rosen bewachsen, die liebevoll gepflegt werden. Bald darauf kommen zwei weitere Gäste ins Haus: Gustavs Mutter Mathilde Tarona und ihre Tochter Natalie. Als die beiden wieder abreisen, laden sie Heinrich zu einem Besuch im Sternenhof, ihrem eigenen Besitz, ein. Heinrich reist gemeinsam mit Risach dorthin. Bei Mathilde bleiben sie einige Tage. Das Haus ist ähnlich wie der Asperhof mit Möbeln nach altem Vorbild eingerichtet, der große Garten mit viel Sorge gepflegt.
Hinwendung zur Kunst
Unter dem Einfluss Risachs beginnt Heinrich, sich der Kunst zuzuwenden. Im Winter besucht er eine Aufführung von Shakespeares König Lear, die ihn tief bewegt. Im Publikum fällt ihm ein junges Mädchen auf, das von der Darstellung ebenfalls zu Tränen gerührt ist. Beim Hinausgehen treffen sich ihre Blicke, aber kurz darauf ist das Mädchen verschwunden.
„‚Es sind der Wege sehr verschiedene‘, erwiderte ich, ‚die die Menschen gehen, und wer weiß es, ob der Weg, der mich wegen eines Gewitters zu Euch herauf geführt hat, nicht ein sehr guter Weg gewesen ist, und ob ich ihn nicht noch einmal gehe.‘“ (S. 93)
Als sich Heinrich im folgenden Jahr wieder im Asperhof aufhält, beginnt er die alten Möbel des Anwesens abzuzeichnen. Er möchte die Bilder seinem Vater mitbringen, der sich dafür interessiert. Daraufhin lädt ihn Mathilde ein, auch ihre schönsten Stücke zu zeichnen. Neben der Geologie beschäftigt er sich immer mehr mit Literatur und Malerei und lässt sich auch hier gern von seinem Mentor helfen.
„Ich erwiderte, dass ich schon mehreres aus meinem Reisen im Gebirge und aus meinen früheren Beschäftigungen in den Naturwissenschaften kenne. ‚Das ist doch immer weniger‘, sagte mein Gastfreund, ‚als was man durch das lebendige Beisammenleben inne wird.‘“ (S. 155)
Im nächsten Sommer befolgt er Risachs Rat, die Geologie einmal liegen zu lassen und sich bewusst anderen Dingen zuzuwenden, die ihn interessieren. Eines Tages erkennt Heinrich in einer Art Offenbarung die Schönheit einer antiken griechischen Statue; bis dahin hat den Geologen mehr der Stein als Material interessiert, nicht die künstlerisch gestaltete Form. Nun beschäftigt er sich überwiegend mit Kunst, insbesondere mit der Malerei, und kann hier von Risach und Eustach lernen. Als er im Herbst wieder bei seinen Eltern ankommt, erfährt er zu seiner Überraschung, dass Risach in der Zwischenzeit ohne sein Wissen mit ihnen Kontakt aufgenommen hat. Er hat von Heinrich erfahren, dass sich sein Vater ebenfalls sehr für alte Kunstwerke interessiert, und hat diesem seine Sammlung von Zeichnungen alter Möbelstücke und Bauwerke, die er ansonsten nie aus der Hand gibt, geschickt – dazu als Geschenk noch einen alten Tisch, dessen Restaurierung Heinrich selbst verfolgt hat. Heinrichs Vater freut sich sehr über diese Aufmerksamkeit, und Heinrich ist darüber so glücklich, dass er sofort wieder zurückreist, um sich bei Risach zu bedanken. Zum zweiten Mal zu Hause angekommen, wird ihm klar, dass er ein tieferes Verständnis für Kunst entwickelt hat. Inzwischen weiß er die Sammlung seines Vaters richtig zu schätzen. Die beiden tauschen sich über das Thema aus, und ihre Beziehung vertieft sich. Der gesellschaftliche Verkehr mit anderen jungen Leuten in der Stadt stößt Heinrich dagegen immer mehr ab, weil er ihn als zu oberflächlich empfindet.
„Wenn wir nur in uns selber in Ordnung wären, dann würden wir viel mehr Freude an den Dingen dieser Erde haben.“ (S. 204)
Im Frühjahr nimmt er seine geologischen Studien im Gebirge wieder auf. Als er zu einem Besuch im Asperhof ankommt, sind Mathilde und Natalie auch schon eingetroffen. Natalie unternimmt gern allein weite Spaziergänge durch die Felder. Heinrich, der sie schon länger bewundert, trifft eines Tages mit ihr zusammen, und sie unterhalten sich zum ersten Mal länger miteinander. Kurz darauf wird er zusammen mit seinen Freunden vom Asperhof zu einem Fest bei Mathilde eingeladen. Hier erfährt er, dass der Sohn einer befreundeten Familie möglicherweise an einer Heirat mit Natalie interessiert ist.
Die Annäherung an Natalie
Im nächsten Frühjahr kehrt Heinrich nur kurz im Asperhof ein und hält sich dann länger als sonst im Gebirge auf. Als er auf dem Rückweg nochmals bei seinen Freunden vorbeisehen möchte, sind diese schon zu Mathilde abgereist. Risach hat Heinrich die Nachricht hinterlassen, er möge ihnen folgen. Als Heinrich eintrifft, findet er jedoch nur Mathilde und Natalie vor; die anderen sind auf einer kurzen Reise. So bleibt er einige Tage bei den beiden Frauen, um die Rückkehr abzuwarten. Eines Nachmittags trifft er im Garten auf Natalie. Nach einem langen Gespräch wagt er es, ihr seine Liebe zu gestehen, und stellt fest, dass sie seine Gefühle erwidert. Nun erfährt er auch, dass Natalie das Mädchen war, das er damals im Theater gesehen hat.
„In der Jugend muss man sich allseitig üben, um als Mann gerade dann für das Einzelne tauglich zu sein.“ (S. 323)
Vor einer möglichen Verbindung möchten die beiden jedoch erst die Erlaubnis Mathildes und Risachs einholen. Mathilde hat nichts dagegen, auch Risach stimmt zu, als er nach seiner Rückkehr von den Plänen erfährt. Nun reist Heinrich umgehend nach Hause, um auch seine Eltern um Zustimmung zu bitten. Sie haben gegen eine Heirat mit Natalie ebenso wenig einzuwenden. Heinrich überbringt Natalie die freudige Nachricht und hält sich dann noch eine Weile bei Risach auf. Nach seiner Rückkehr zu den Eltern unternimmt er mit dem Vater eine Reise zu Verwandten, fährt anschließend mit seiner Schwester Klotilde ins Gebirge und beschließt dann, noch einmal im Winter in die Berge zu reisen. Auf dem Rückweg möchte er Risach besuchen.
„Wen die größeren Gegenstände der Liebe verlassen haben, oder wer sie nie gehabt hat, und wer endlich auch gar keine Liebhaberei besitzt, der lebt kaum und betet auch kaum Gott an, er ist nur da.“ (S. 585)
Nach der Ankunft im Gebirge sucht er Männer, die ihn bei seinem Aufstieg zum Gletscher begleiten. Aber die Einheimischen sind skeptisch; ihrer Ansicht nach kann man im Winter nicht bergsteigen gehen. Nur der alte Kaspar, mit dem Heinrich schon früher zusammengearbeitet hat, ist bereit, das Wagnis auf sich zu nehmen. Der Aufstieg zum Gletscher durch die verschneite Bergwelt wird für beide zu einem eindrücklichen Erlebnis.
„(...) dürftige Spätblüten können den Sommer, dessen kräftige Lüfte und warme Sonne unbenutzt vorübergingen, nicht ersetzen.“ (S. 665)
An seine Reise schließt Heinrich einen Besuch bei Risach an. Nun erfüllt dieser ein Versprechen, das er ihm beim letzten Zusammentreffen gegeben hat, und erzählt Heinrich einiges über sich selbst und Mathilde.
Risachs Erzählung
Der junge Risach verlor früh seinen Vater und musste selbst für seinen Unterhalt sorgen. Schon immer hat er gern Dinge gestaltet und sich für Kunst interessiert, er entschied sich aber aus praktischen Erwägungen für den Staatsdienst. Die Ausbildung finanzierte er sich selbst durch Nachhilfeunterricht. Damals starb seine Mutter und bald darauf auch seine einzige Schwester. Zurückgezogen lebte er in der Stadt, unterrichtete und beschäftigte sich viel mit Naturwissenschaften. Nach einiger Zeit erhielt er das Angebot einer wohlhabenden Familie, als Erzieher des Sohnes in ihr Haus zu kommen. Risach nahm an, lebte mit der Familie zusammen und verbrachte viel Zeit mit den beiden Kindern Alfred und Mathilde. Nach etwa zwei Jahren verliebten sich Risach und die inzwischen 15-jährige Mathilde, hielten aber ihre Gefühle vor ihrer Umwelt noch geheim. Als Risach es endlich wagte, mit Mathildes Mutter zu sprechen, wurde er zurückgewiesen – die Eltern lehnten die Beziehung mit der Begründung ab, beide seien noch zu jung und Risach solle sich erst einmal seiner Karriere widmen. Die beiden sollten sich nun trennen, und Risach könne in ein paar Jahren nochmals um Mathildes Hand anhalten. Risach hielt es für unvernünftig, die Beziehung gegen den Willen der Eltern durchsetzen zu wollen. Um Mathilde zu schonen, teilte er ihr die Entscheidung ihrer Eltern selbst mit. Mathilde war tief verletzt. Sie interpretierte seine Nachgiebigkeit gegenüber den Eltern als mangelnde Zuneigung zu ihr. Risach konnte sie nicht vom Gegenteil überzeugen.
„Wir lebten zwei Jahre in dieser Ehe, und in dieser wusste ich, was ich vor der Schließung derselben nicht gewusst hatte, dass nämlich keine ohne Neigung eingegangen werden soll.“ (Risach, S. 729)
Schon am nächsten Tag reiste er in die Stadt zurück, trat in den Staatsdienst ein und betäubte seinen Kummer um Mathilde mit Arbeit. Dadurch machte er rasch Karriere und wurde schließlich sogar in den Adelsstand erhoben. Nur seine Versuche, mit Mathilde wieder Kontakt aufzunehmen, scheiterten ¬– sie wollte nichts mehr von ihm wissen. Schließlich heiratete er eine andere Frau, die er nicht liebte und die bereits nach zwei Jahren starb. Seine Arbeit wurde ihm immer lästiger. Er trat von seinen Ämtern zurück, kaufte sich den Asperhof und lebte dort für sich – bis eines Tages Mathilde mit ihrem kleinen Sohn Gustav vor der Tür stand. Ihr Mann und ihr Bruder waren bereits gestorben, sie war mit ihren beiden Kindern allein. Nun wollte sie, dass Risach den Sohn erzog, wie er einst ihren Bruder Alfred erzogen hatte. Die beiden versöhnten sich, Risach nahm Gustav bei sich auf und Mathilde kaufte den nahe gelegenen Sternenhof. Seither besuchen sie einander regelmäßig, wie es Heinrich bei seinen Aufenthalten bereits mitbekommen hat – eine Art Nachsommer für ihre Beziehung, die keinen Sommer erleben durfte.
Die Hochzeit
Im kommenden Frühjahr lernen sich die Familien von Heinrich und Natalie endlich kennen: Heinrich reist mit seinen Eltern und Klotilde zum Sternenhof, wo die Eltern für ihn bei Mathilde nochmals offiziell um Natalies Hand anhalten. Später kommen Mathilde und Risach zum Gegenbesuch in die Stadt. Die Familien verstehen sich gut. Danach tritt Heinrich auf Wunsch seines Vaters eine fast zwei Jahre dauernde Europareise an; nach seiner Rückkehr beginnen die Hochzeitsvorbereitungen. Heinrich und Natalie heiraten auf dem Asperhof und leben danach bei Mathilde auf dem Sternenhof.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der umfangreiche Roman – von Stifter selbst übrigens bescheiden als „Erzählung“ bezeichnet – ist in drei Bände unterteilt und diese sind wiederum in mehrere Kapitel gegliedert. Stifter verlangt seinen Lesern einiges an Geduld ab: Schuld daran ist nicht in erster Linie die Länge, sondern vor allem der Stil und die Struktur des Textes. Denn den weitaus größten Raum nimmt nicht die eigentliche Handlung, sondern die Darstellung von Gegenständen, Zimmern oder Landschaften ein. Stifter beschreibt detailversessen einzelne Möbelstücke oder Spaziergänge, aber die sich anbahnende Liebe zwischen Heinrich und Natalie deutet er bestenfalls zwischen den Zeilen an und die fast zwei Jahre dauernde Europareise Heinrichs wird in wenigen Sätzen abgehandelt. Dazu kommen die zahlreichen Wiederholungen: Über mehrere Jahre hinweg hält sich der Ich-Erzähler Heinrich abwechselnd bei seinen Eltern, auf dem Asperhof oder im Gebirge auf; dadurch wiederholen sich auch immer die gleichen Szenen: Aufbruch und Ankunft, Begrüßung und Abschied. Zu dieser behäbigen Stimmung passt der weitschweifige Stil mit seinen kunstvollen Satzperioden. Charakteristisch ist auch die schwammige Ausdrucksweise: Statt die Dinge konkret zu bezeichnen, wählt Stifter lieber Umschreibungen. Selbst die Namen vieler Personen werden erst spät eingeführt; so fällt der Name des Ich-Erzählers Heinrich Drendorf beiläufig erst im letzten Kapitel.
Interpretationsansätze
- Stifter schafft in diesem Roman eine ideale, aber auch realitätsferne Welt: Im Asperhof und im Sternenhof ist alles geordnet und vollkommen, es gibt keine Aufregung und keine Konflikte.
- Stifter konstruiert zwei gegensätzliche Lebensläufe: Heinrich Drendorf ist finanziell unabhängig, darf seine Beschäftigung frei wählen und seine große Liebe Natalie heiraten. Im Gegensatz dazu muss sich Risach sowohl im Beruf als auch in der Liebe gesellschaftlichen Zwängen unterordnen.
- Ein zentrales Thema im Roman sind Bildung und Erziehung. Der Schüler ahmt den Erzieher nach und beschäftigt sich mit der Kunst, die diesem am Herzen liegt: mit Werken der Antike und des Mittelalters.
- Obwohl Der Nachsommer ein Entwicklungsroman ist – Heinrich Drendorf entwickelt seine Persönlichkeit –, wahrt der Autor eine deutliche Distanz zu seinen Figuren; alles Psychologische bleibt zwischen den Zeilen verborgen.
- Dem heutigen Leser erscheint diese perfekte Welt insgesamt gar nicht so ideal, sondern eher seltsam steril und künstlich. Die Romangestalten wirken nicht wie lebendige Menschen, ihr Verhalten ist steif und zeremoniell.
- Stifters Ansatz erscheint auch heute recht naiv: Das eigene Verhalten zu ändern, sich mit schönen Dingen zu umgeben und andere Menschen entsprechend zu beeinflussen, reicht nicht unbedingt aus, um alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen.
- Überzeitlich gültig ist jedoch die Betonung eines freien, selbstbestimmten Lebens: Der Mensch muss seinen eigenen Weg finden und seinen Begabungen folgen können, um glücklich zu sein.
Historischer Hintergrund
Revolution und Restauration in Österreich
Nach der endgültigen Niederlage Napoleons im Jahr 1815 galten auch die Ideen der Französischen Revolution zunächst als gescheitert. Mit dem Wiener Kongress, auf dem die politische Neuordnung Europas festgelegt wurde, begann der so genannte Vormärz, eine Phase konservativer Politik. In Österreich richtete Fürst Metternich einen Polizeistaat ein und unterdrückte jede liberale Strömung durch Überwachung und Zensur. Das Bürgertum hatte keine Aussicht auf politische Einflussnahme. Die Folge war ein Rückzug ins Privatleben; statt sich politisch zu betätigen, förderten reiche Bürger Kunst und Kultur. Aber die Unzufriedenheit mit dem längst als überholt empfundenen System wuchs – umso mehr, als 1835 der geistig schwache Ferdinand I. Kaiser wurde und eine „Geheime Staatskonferenz“ die Regierungsgeschäfte für ihn übernehmen musste. Wie auch in anderen europäischen Staaten kam es in Österreich im März 1848 zur Revolution. Fürst Metternich wurde gestürzt, das feudalistische System aufgehoben. Doch schon im Oktober wurde die Revolution niedergeschlagen. Im Dezember 1848 verzichtete Ferdinand zugunsten seines Neffen Franz Joseph auf den Thron. Dieser gab dem Land eine neue Verfassung und führte einige Reformen durch, im Wesentlichen aber waren die revolutionären Bestrebungen erst einmal gescheitert.
Entstehung
Adalbert Stifter war zunächst ein Anhänger der demokratischen Strömungen und begrüßte den Umsturz. Die Wirren der Revolution stießen den Idealisten jedoch bald ab. Er zog sich vom politischen Leben zurück und propagierte eine strikte Trennung von Literatur und Politik. Daher wird Stifter oft als einer der letzten Vertreter der Biedermeierliteratur bezeichnet. Der Nachsommer mit seiner Konzentration auf das Privatleben und auf die Idylle im Kleinen ist deutlich von dieser Tendenz geprägt. „Ich habe wahrscheinlich das Werk der Schlechtigkeit willen gemacht, die im Allgemeinen (...) in den Staatsverhältnissen der Welt, in dem sittlichen Leben derselben und in der Dichtkunst herrscht. Ich habe eine große einfache sittliche Kraft der elenden Verkommenheit gegenüber stellen wollen“, schrieb Stifter über den Roman an seinen Verleger. Daneben ist das Werk stark autobiografisch geprägt: In der Figur des Freiherrn von Risach schildert Stifter sein eigenes Leben, den frühen Verlust des Vaters, eine unglückliche Liebe, eine Ehe ohne Zuneigung, einen ungeliebten Beruf sowie seine Vorliebe für Pädagogik, Kunst und alte Möbel.
Ein Vorläufer des Romans war die Erzählung Der alte Hofmeister, die im Revolutionsjahr 1848 entstand und später den Titel Der Vogelfreund bekam. Ab 1852 arbeitete Stifter den Text zu einem Roman um. Zunächst stand die Figur Risach im Mittelpunkt, deshalb gab dessen späte Liebe dem Roman auch den Titel. Den ersten Band schloss Stifter im Februar 1856 ab, den zweiten im Dezember desselben Jahres, im September 1857 war der dritte Band fertig. Im Roman lassen sich u. a. Einflüsse von den Werken Jean Pauls, von Goethes Wilhelm Meister und von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen erkennen.
Wirkungsgeschichte
„Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, dass er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen“ – Friedrich Hebbel übte als Rezensent beißende Kritik am Nachsommer, den er als zu detailfreudig und wortreich empfand. Stifter habe offenbar Adam und Eva als Leser vorausgesetzt, „weil nur diese mit den Dingen unbekannt sein können, die er breit und weitläufig beschreibt“. Überhaupt kam das umfangreiche Werk nach seinem Erscheinen bei Kritikern und Lesern gar nicht gut an; es galt als rückwärtsgewandt, langatmig, zu idyllisch, arm an Handlung und psychologischer Darstellung.
In den folgenden Jahren waren es nur Einzelne, die den Nachsommer als literarisches Werk würdigten. So schrieb Theodor Storm mit Bezug auf die Kritik Hebbels, er habe sich die Krone von Polen „ziemlich leicht und jedenfalls angenehm verdient“. Der Meinung Friedrich Nietzsches nach gehört Der Nachsommer zu den wenigen Büchern, die es verdienen, „wieder und wieder gelesen zu werden“. Wirklich gewürdigt und neu bewertet wurde das Werk aber erst im 20. Jahrhundert, als die Literaturwissenschaft Stifters Aussparung der psychologischen Darstellung nicht mehr als Mangel an schriftstellerischer Fähigkeit wertete, sondern als Aufforderung an den Leser, das Fehlende selbst zu ergänzen. In der Tradition des deutschen Bildungs- oder Entwicklungsromans bleibt Der Nachsommer ein wichtiger Meilenstein.
Über den Autor
Adalbert Stifter wird am 23. Oktober 1805 in Oberplan in Südböhmen geboren, das damals zum Kaisertum Österreich gehört. Als der Junge zwölf ist, stirbt sein Vater durch einen Unfall, die Familie gerät in finanzielle Schwierigkeiten. Stifter ist künstlerisch begabt, entscheidet sich aber für ein Jurastudium, um in den Staatsdienst eintreten zu können. Mit 22 verliebt er sich in die drei Jahre jüngere Fanny Greipl und wirbt viele Jahre um sie. Ohne Erfolg: Als mittelloser Student hat er bei Fanny und ihrer Familie keine Chance. Aus Enttäuschung beginnt er eine Beziehung zu der ungebildeten Putzmacherin Amalie Mohaupt, die er, als Fanny ihn wiederholt abweist, schließlich heiratet; die Ehe ist unglücklich und bleibt kinderlos. Beruflich hat Stifter ebenso wenig Erfolg: Das ungeliebte Studium bricht er nach vier Jahren ab und hält sich von da an mühsam als Hauslehrer über Wasser. In seiner Freizeit dichtet und malt er. Einen ersten literarischen Erfolg erringt er 1840 mit der Erzählung Der Condor. Mit den folgenden Werken, u. a. Die Mappe meines Urgroßvaters (1841) und Bunte Steine (1853), wird er bekannt, aber seine späteren Arbeiten, darunter die Romane Der Nachsommer (1857) und Witiko (1865–1867), stoßen bei Kritikern und Lesern größtenteils auf Ablehnung. Als Pädagoge ist Stifter seiner Zeit voraus, aber auch das bringt ihm mehr Ärger als Erfolg ein. So wird er zwar 1850 zum Schulrat ernannt, kann aber seine Vorstellungen nicht durchsetzen und empfindet das Amt bald als Last. Ein von ihm verfasstes Schulbuch wird abgelehnt und erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Bayern verwendet. Er holt zwei Pflegetöchter ins Haus, von denen eine an Tuberkulose stirbt; die andere nimmt sich mit 18 Jahren das Leben. Mit zunehmendem Alter wird Stifter verbittert, depressiv und hypochondrisch. Er erkrankt an Leberzirrhose und im Dezember 1867 an einer schweren Grippe. Am 26. Januar 1868 schneidet sich der Todkranke nachts mit einem Rasiermesser in den Hals und stirbt zwei Tage später. Ob es Selbstmord war oder ein Unfall, ob er an diesem Schnitt starb oder an der Krankheit, konnte nie eindeutig geklärt werden.
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