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Der Tod in Venedig

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Der Tod in Venedig

S. Fischer,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Ein Schriftsteller erliegt der Liebe zu einem Knaben und findet in Thomas Manns berühmtester Novelle den Tod in Venedig.


Literatur­klassiker

  • Künstlernovelle
  • Moderne

Worum es geht

Verhängnisvolle Knabenliebe

Mit Mitte 30 verfasste Thomas Mann diese Novelle, die vor autobiografischen Elementen geradezu strotzt. Er schildert das Verhängnis einer Künstlernatur, wie der Dichter selbst eine war. Dieser Künstler ist der Schriftsteller Gustav Aschenbach, den ein seltsames Fernweh zur Ferienreise nach Venedig lockt. Vor der Kulisse dieser Stadt des Verfalls entspinnt sich für Aschenbach eine ungeheuerliche Romanze - zu einem halbwüchsigen Knaben. Ganz der vergeistigte Romancier, vergöttert er den blondgelockten Jüngling als Ideal der Schönheit und als lebendig gewordenes Kunstwerk. Es dauert eine Weile, bis er sich eingesteht, dass er das Unvorstellbare für den Jungen empfindet: Liebe. Spätestens jetzt beginnt sein Abstieg, wird sein zuvor maßvolles und diszipliniertes Leben brüchig und endet schließlich in rauschhafter Verzückung - und dem Tod in Venedig. Thomas Mann stattete seine meisterhafte Novelle mit einem reichen mythologischen und ästhetischen Subtext aus. Die typisch Mann’sche Künstlerproblematik, die Themen Tod, Verfall und Auseinanderbrechen bürgerlicher Wertmaßstäbe finden sich, wie so häufig im Werk des großen Dichters, auch hier.

Take-aways

  • Der Tod in Venedig gehört zu den bekanntesten und international erfolgreichsten Novellen von Thomas Mann.
  • Sie zeigt einen anfangs sittlich gefestigten Künstler, der von rauschhafter, homoerotischer Sinnenlust überwältigt wird und daran zugrunde geht.
  • Dieser Künstler ist der Schriftsteller Gustav Aschenbach. Er ist mit seiner Produktion unzufrieden und plant deswegen eine Urlaubsreise.
  • Über Umwege erreicht Aschenbach Venedig, wo er den halbwüchsigen Knaben Tadzio trifft, dessen Schönheit ihn fasziniert.
  • Wegen des schlechten Wetters und einer ominösen Krankheit, die in der Stadt grassiert, will Aschenbach wieder abreisen, überlegt es sich aber kurzfristig anders.
  • Nach und nach wird ihm klar, dass er in Tadzio verliebt ist.
  • Schockiert über diese Erkenntnis, kann er doch nichts gegen seine Empfindungen tun und versucht dem Jungen so oft wie möglich nahe zu sein.
  • In Tadzios Nähe gelangen Aschenbachs künstlerische Fähigkeiten zu neuer Blüte.
  • Der Dichter schlägt die Warnung vor einer Cholera-Seuche in den Wind, infiziert sich und stirbt, sein Idol vor Augen, am Strand von Venedig.
  • Die Novelle beruht auf persönlichen Erlebnissen des Autors während eines Venedigaufenthalts im Jahr 1911.
  • Sie wurde von der Kritik sehr positiv aufgenommen und entwickelte sich schnell zum Schulbuchklassiker.
  • Bekannt ist auch die Verfilmung durch Luchino Visconti aus dem Jahr 1971.

Zusammenfassung

Tapetenwechsel

Der Schriftsteller Gustav Aschenbach, der sich seit seinem 50. Geburtstag sogar "von Aschenbach" nennen darf, schlendert eines Nachmittags durch München. Die Arbeit hat am Vormittag seiner ganzen Aufmerksamkeit bedurft und ihn ermüdet. Ein Spaziergang durch den Englischen Garten soll ihn aufmuntern. An der Bahnstation am Nordfriedhof wartend, macht Aschenbach eine merkwürdige Beobachtung. Ihm fällt ein seltsamer, hagerer Mann vor der Aussegnungshalle auf. Diesen mustert er eindringlich. Der Fremde bemerkt Aschenbachs Interesse und beantwortet dies mit einem geradezu kriegerischen Blick. Aschenbach ist peinlich berührt und entfernt sich. Wenig später stellt er fest, dass ihn plötzlich die Reiselust gepackt, ja geradezu überfallen hat. Reisen betrachtet er als eine notgedrungene Maßnahme, die dann und wann nötig, aber nicht unbedingt immer wünschenswert ist. Zwar kann Aschenbach mit seinem Schaffen zufrieden sein, aber er merkt zunehmend, dass sein künstlerisches Talent auch eine Bürde ist. Sein Arbeitsfluss ist gehemmt, sein Einverständnis mit dem eigenen Werk geschwunden. Die Vorstellung, vier Wochen im Süden zuzubringen, verspricht neuen Esprit und neue Antriebskräfte, sodass Aschenbach eine Ferienreise vor sich selbst rechtfertigen kann.

Gustav Aschenbach und seine Kunst

Aus Schlesien stammend, kann Gustav Aschenbach auf Vorfahren väterlicherseits zurückblicken, die alle sehr respektablen Berufen nachgegangen sind: Richter, Offiziere, höhere Verwaltungsbeamte. Von der Mutter jedoch ist das künstlerische Blut in seine Familie eingeflossen: Ihr Vater war ein Kapellmeister in Böhmen. Diese Mischung hat aus Aschenbach einen Künstler gemacht, der schon früh Erfolge feiern konnte. Seine schwache Konstitution zwang ihn dazu, öffentliche Schulen zu meiden, wodurch er keine Freunde und Kameraden kennenlernte. "Durchhalten" gehört zu seinen Lieblingswörtern. Er wendet es auch auf seine Arbeit an, die er zur Vervollkommnung führen will, trotz aller Widrigkeiten, die ihn mehr als einmal fast davon abhalten. Der heilige Sebastian ist Aschenbachs bevorzugter Heldentypus: Einer, der die Zähne zusammenbeißt angesichts der Qual, der durchhält und in diesem Durchhalten noch Anmut und Würde ausstrahlt. Aschenbachs Werke haben bereits Schulbuchklassizität erreicht und von einem deutschen Fürsten wurde ihm zum 50. Geburtstag der Adelstitel verliehen. Er ist schon seit längerer Zeit verwitwet. Seine Tochter ist bereits erwachsen und verheiratet. Aschenbach ist von mittlerer Statur, hat einen etwas zu großen Kopf für die gedrungene Gestalt, volles, ergrautes Haar und trägt eine randlose Brille, seine Nase ist edel geschwungen, sein Mund manchmal angespannt, meist jedoch schlaff.

Der falsche Jüngling

Knapp zwei Wochen verweilt Aschenbach noch in München. Dann beginnt er seine Reise: zunächst mit dem Zug nach Triest und dann mit dem Schiff nach Pola. Das Wetter spielt jedoch nicht mit, die Hotelgesellschaft missfällt ihm und die schroffen Felsen verweigern ihm den gewünschten Zugang zum Meer. Er sucht das Fremde, Außergewöhnliche, Märchenhafte. Beim Studieren von Schiffsverbindungen wird ihm klar, dass er den falschen Weg eingeschlagen hat. So schnell es möglich ist, packt er seine Sachen und geht an Bord eines Schiffes nach Venedig. Unterwegs macht er eine seltsame, geradezu bestürzende Beobachtung: An Deck tummeln sich einige Handelsgehilfen, die sich lachend und scherzend lautstark bemerkbar machen. Der lauteste unter ihnen trägt auch die schrillste, geradezu übermodische Kleidung. Aschenbach fährt zusammen, als er erkennt, dass es sich um einen falschen Jüngling handelt: Der Mann ist alt! Er ist nur jugendlich geschminkt, trägt eine Perücke, falsche Zähne und einen gefärbten Schnurrbart. Aschenbach ist von dessen geckenhaftem Auftreten zutiefst abgestoßen und kann nicht verstehen, warum die anderen jungen Leute ihn in seiner Maskerade akzeptieren.

In der Gondel zum Lido

Venedig erwartet Aschenbach grau, von Wolken verhangen und regnerisch. Kurz vor der Einschiffung bemerkt er zu seinem Ärger, dass die Handelsgehilfen dem Wein zugesprochen haben und dass vor allem der Greis entsetzlich betrunken ist. Er lallt, torkelt und fällt, unflätige Gesten machend. Beim Aussteigen muss Aschenbach seine direkte Nähe ertragen, sein sinnloses Geplapper anhören und schließlich sogar das Schauspiel eines abstürzenden Oberkiefergebisses erleben. Bloß weg, denkt er sich. Er äußert den Wunsch, von einer Gondel zur Dampferstation gefahren zu werden, von wo aus er zur Badeinsel Lido übersetzen möchte. Ein leiser Schauer ergreift Aschenbach, als er in eine der schwarzen Gondeln einsteigt. Wie ein Sarg kommt sie ihm vor - aber das herrlich weiche Polster gefällt ihm außerordentlich. Der grobschlächtige Gondoliere, der die ganze Zeit zwischen seinen Zähnen zu murmeln scheint, macht sich auf den Weg direkt zum Lido. Aschenbach möchte aber zur Dampfschiffstation fahren und erklärt dies dem Gondoliere. Doch der hat immer das letzte Wort und setzt seine Fahrt fort. Schon fürchtet der Schriftsteller eine Gaunerei, einen Überfall, aber nichts dergleichen passiert. Die Gondel schaukelt ihn sanft und sicher in Richtung Lido. Aschenbach ist zwar erbost über den unbotmäßigen Fährmann, wünscht sich aber, dass die Fahrt nie enden möge. An der Anlegestelle muss er Geld wechseln. Als er zurückkehrt, ist sein Gondoliere auf und davon. Man erzählt Aschenbach, dass er den einzigen Gondoliere erwischt habe, der keine Konzession besitze. Dieser habe sich ertappt gewähnt und sei deswegen getürmt. Aschenbach zieht ins Hotel ein und nimmt dort ein Zimmer mit Aussicht.

Der vollkommene Schöne

Nach einem Spaziergang am Quai kleidet sich Aschenbach zum Abendessen um, erscheint aber etwas zu früh in der Halle vor dem Speisesaal. Er greift sich eine Zeitung und überschaut von einem Lehnsessel aus die wartenden Hotelgäste. Eine Gruppe von polnischen Jugendlichen fällt ihm auf, die in Begleitung einer Erzieherin an einem der Tische sitzen: drei Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren und ein etwa 14-jähriger Junge, der Tadzio heißt, wie Aschenbach später erfährt. Der Anblick des Knaben erschüttert Aschenbach: Er findet ihn vollkommen schön. Die gelockten blonden Haare, das feine Gesicht, die anmutige Gestalt, der englische Matrosenanzug; alles erinnert ihn an die schönsten künstlerischen Darstellungen. Ja, Aschenbach meint sogar, dieser Junge in Natur übertreffe alles, was er jemals an Kunstwerken betrachtet habe. Nach dem Eintreffen der Mutter begibt sich die Gesellschaft zu Tisch. Beim Überschreiten der Schwelle blickt sich der Knabe noch einmal um - sein und Aschenbachs Blick treffen sich. Selbst zum Essen gegangen, bedauert Aschenbach, dass er so weit weg von der polnischen Familie sein Mahl einnehmen muss. Er sinniert über die Schönheit nach, ist aber mit seinen Erkenntnissen am Ende nicht zufrieden, sie erscheinen ihm schal und abgeschmackt. Nach einem Abendspaziergang geht er früh zu Bett.

Neidische Blicke

Am nächsten Morgen ist das Wetter wieder schlecht. Aschenbach denkt an Abreise. Beim Frühstück jedoch sieht er erneut die Familie vom Vortag und erwartet begierig den Auftritt des - offensichtlich länger schlafenden - Knaben. Als dieser erscheint, ist der Künstler erneut hingerissen von dessen geradezu göttlicher Schönheit. Er beschließt zu bleiben. Am Strand fühlt sich Aschenbach wohl: Er, der immer die Vielheit der Erlebnisse aufnehmen und verarbeiten muss, fühlt sich am klaren, gewaltigen Meer sicher und geborgen. Wieder sieht er den polnischen Jungen, wie er durchs Wasser zu seinen Spielkameraden schlendert. Er hört die Rufe nach Tadzio und empfindet den Wohlklang dieser Silben als höchst angemessen für den Jungen. Geradezu neidisch blickt er auf einen der Spielgefährten mit Namen Jaschu, der Tadzio auf die Wange küsst. Zurück im Hotel unterzieht sich Aschenbach einer kritischen Revision vor dem Spiegel. Nach der Mahlzeit im Speisesaal begegnet er Tadzio im Fahrstuhl und stellt, da er ihn das erste Mal aus der Nähe betrachtet, mit einer gewissen Genugtuung fest, dass der Jüngling schlechte Zähne hat, offenbar kränklich ist und wahrscheinlich nicht besonders lange leben wird.

Abreisen oder Bleiben?

Ein Ausflug am nächsten Morgen nach Venedig bekommt Aschenbach nicht besonders: Die schwüle, stinkige Luft in den Gassen, das übel riechende Wasser, der Scirocco, ein warmer Wind vom Mittelmeer, und die vielen Menschen in den engen Gassen verleiden ihm den Tag. Er fühlt sich unwohl und beklommen und sieht ein, dass er diesen Ort verlassen und seinen Urlaub andernorts fortsetzen muss. Aschenbach unterrichtet die Hotelleitung, plant die Abreise für den nächsten Tag und verbringt einen ruhigen letzten Abend im Hotel. Am nächsten Morgen wird er vom Personal regelrecht gedrängt, mit dem bereitgestellten Wagen zu fahren, aber Aschenbach will sein Frühstück genießen - und Tadzio noch einmal sehen. Auf dem Weg zum Dampfschiff begegnet er ihm, ihre Blicke treffen sich und dann beginnt für Aschenbach eine reuevolle Schifffahrt. Er revidiert seine Meinung, würde am liebsten doch noch in Venedig bleiben. Der Zufall gibt ihm eine Chance, seine Unentschlossenheit zu überwinden: Am Bahnhof erfährt er, dass seine Koffer ans falsche Ziel unterwegs sind. Mit gespielter Entrüstung gibt er bekannt, dass er ins Hotel zurückkehren werde, um dort auf das Eintreffen seines Gepäcks zu warten. Innerlich ist er entzückt, kann er doch bleiben, ohne das Gesicht zu verlieren. Beim Anblick Tadzios wird ihm klar, dass es der Knabe ist, der ihn zum Bleiben bewegt hat ...

Verliebt in einen Jüngling

Weil sich das Wetter bessert, verweilt Aschenbach in Venedig, auch dann noch, als seine Koffer längst wieder eingetroffen sind. Mit der Sonne steigt seine Stimmung. Regelmäßig beobachtet er Tadzio beim Spielen und Baden. Jede Haltung, jede Bewegung, jeder Muskel, jedes Härchen an dessen Körper erregt seine Bewunderung und blendet ihn. Ist es nicht Kunst, die sich ihm da offenbart? Aschenbach gerät ins Schwärmen, sinniert über die Antike und das damals übliche Verhältnis zwischen weisen älteren Männern und jungen, schönen Knaben. Er träumt von Sokrates und Phaidros. Die Anwesenheit des Jungen inspiriert ihn: Er schreibt und nimmt sich dabei den Körper Tadzios zum Vorbild für die Ideen der hervorragenden Linienführung und der künstlerischen Vervollkommnung. Sein entstehendes Werk wird makellos: ein ins Geistige verschobener Liebesakt. Eine Gelegenheit, Tadzio anzusprechen und damit das Verhältnis nüchterner zu gestalten, lässt Aschenbach verstreichen. Im Grunde will er diesen Knaben bewundern, ihn vergöttern und nicht durch schnödes Allerweltsgerede auf ein normales Maß einschrumpfen sehen. Eines Abends begegnet er Tadzio auf der Dampferbrücke. Der Junge lächelt ihn an. Schlagartig flieht Aschenbach in die Schatten des Gartens, vom Lächeln des Schönen getroffen wie ein Pfeil. Ihm wird klar, dass er in Tadzio verliebt ist.

Die Seuche breitet sich aus

In der vierten Woche auf dem Lido bemerkt Aschenbach etwas Seltsames: Immer mehr Touristen reisen ab, insbesondere die deutschen Stimmen kann man im Hotel und am Strand nicht mehr hören. Aschenbach sucht den Friseur auf und lässt sich die Haare färben und sein Gesicht schminken. Er ist verblüfft über das ansprechende Ergebnis. Der Friseur warnt ihn vor dem "Übel", lässt sich aber auf keinerlei Konkretisierungen ein. Es ist, als liege ein Schweigegelübde über der Stadt: Man warnt vor dem Genuss von Meeresfrüchten, in den Gassen und Kanälen kann man den Geruch eines Desinfektionsmittels riechen, aber Hotelpersonal und Einheimische halten sich bedeckt. Nur der Angestellte eines englischen Reisebüros spricht die Wahrheit aus: Man ängstige sich über die indische Cholera, einige Besucher seien schon erkrankt, aber alles werde vertuscht. Aschenbach macht sich Sorgen, dass vielleicht auch Tadzio abreisen könnte. Mittlerweile verfolgt er ihn und seine Familie regelrecht. Er geht nach ihnen in die Kirche San Marco und hetzt ihnen durch die Gassen der Innenstadt nach, bis er erschöpft, schwindelig und schweißgebadet aufgeben muss. Von einem Straßenhändler kauft er überreife Erdbeeren, erinnert sich erneut an Sokrates und Phaidros und rezitiert antike Weisheiten wie: "Denn du musst wissen, dass wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft."

Tod in Venedig

Aschenbach fühlt sich abgespannt und kämpft mit Schwindelanfällen. Schließlich hört er davon, dass die Polen abreisen werden. Zum letzten Mal geht der Dichter zum Strand, nimmt in seinem Liegestuhl Platz und beobachtet den geliebten Tadzio, wie er sich mit seinen Kameraden zankt, dann alleine durchs Wasser zur Sandbank hinausschreitet und dort nachdenklich stehen bleibt. Doch was ist das? Aschenbach, fiebrig in seinem Stuhl, ist so, als drehe sich der Schöne ihm entgegen, lächelnd und winkend ...

„(...) plötzlich ward er gewahr, dass jener seinen Blick erwiderte und zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig gesonnen, die Sache aufs Äußerste zu treiben und den Blick des andern zum Abzug zu zwingen, dass Aschenbach, peinlich berührt, sich abwandte (...)“ (über den Fremden auf dem Friedhof, S. 13)

Erst einige Minuten später wird man auf den zur Seite gesunkenen Dichter aufmerksam. Noch am gleichen Tag wird die Nachricht von seinem Tod bekannt gegeben.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Novelle ist in fünf Abschnitte gegliedert: Der erste Teil dient als Prolog und bildet mit der Begegnung zwischen Aschenbach und dem fremden Mann den Auftakt für die späteren fatalen Ereignisse. Im zweiten Teil werden die Hauptfigur und ihr schriftstellerisches Werk genauer vorgestellt, bevor die Novelle im dritten Teil einem Höhepunkt entgegensteuert, der Begegnung mit Tadzio und der missglückten Abreise aus Venedig. Der vierte Teil wirkt wie eine Verzögerung der weiteren Ereignisse, im fünften schließlich kommt es zur Katastrophe: Aschenbachs Tod. Damit orientiert sich der Autor deutlich an der Fünfteilung der klassischen Dramen. Mann verwendet einen unpersönlichen Erzähler, der jedoch ausschließlich Aschenbachs Erleben berichtet und dessen Gedanken zuweilen in den Erzählerbericht einflicht. Die erzählte Zeit wird je nach Relevanz sehr ausführlich oder gerafft dargestellt: Die zwei Wochen vom Entschluss zum Aufbruch bis zum tatsächlichen Antritt von Aschenbachs Reise werden komplett ausgelassen, andere Szenen, etwa im Speisesaal oder am Strand, werden stark gedehnt. Zum Ende hin beschleunigt sich das Erzähltempo immer mehr, sodass dem Leser ebenso wie der Hauptperson das Gefühl für die verstrichene Zeit verloren geht. Der Tod in Venedig zählt zu Thomas Manns ausgefeiltesten Werken: Jeder Satz ist geschliffen, jede Wendung pointiert. Der novellentypischen Kürze des Textes zum Trotz liefert Mann differenzierte Personenbeschreibungen. Highlights sind Aschenbachs Beobachtungen des jungen Tadzio, bei denen feinste Details herausgearbeitet werden, und die fortwährende Verquickung der Handlung mit ästhetischen Betrachtungen. Unübersehbar ist Manns Leitmotivtechnik, mit der er eine zweite, auf die griechische Mythologie verweisende Bedeutungsebene erschafft: Eines dieser Leitmotive ist der "Hadesbote", in der griechischen Mythologie ein Abgesandter der Unterwelt. In der Novelle erinnern u. a. der fremde Mann auf dem Friedhof, der unheimliche Gondoliere und am Schluss Tadzio selbst an solche Todeswächter, die Aschenbach nach und nach ins Jenseits hinübergeleiten.

Interpretationsansätze

  • Der Tod in Venedig liefert das Paradebeispiel einer Heimsuchung, wie sie Thomas Mann selbst als Prinzip seiner Schriftstellerei beschrieben hat: Einem anfangs innerlich gefestigten, geradlinigen Menschen begegnet das Zerstörerische, Triebhafte, vor dem er zurückschreckt und von dem er gleichermaßen fasziniert ist. Für Thomas Mann ist diese Begegnung eine Parabel für die Konfrontation von Künstler- und Bürgertum.
  • In der Novelle treffen zwei Prinzipien aufeinander, die der Autor von Friedrich Nietzsche entlehnt hat, nämlich das Apollinische und das Dionysische: Der nüchterne, rationale, leistungsbewusste Künstler Aschenbach tritt in die Welt des rauschhaften, ekstatischen, zügellosen Gefühls ein. Besonders deutlich wird dies an einem Traum Aschenbachs, in dem er orgiastische Ausschweifungen erlebt.
  • Neben Nietzsches Philosophie ist auch Sigmund Freuds Theorie im Hintergrund der Novelle erkennbar: Verdrängte Wünsche, Triebe, Träume spielen für Aschenbachs Entwicklung eine große Rolle.
  • Wichtig ist außerdem der antike und mythologische Hintergrund: Aschenbachs Betrachtungen der griechischen Mythologie "veredeln" die Novelle, statten sie mit Nebenbedeutungen aus und verleihen ihr einen überzeitlichen, exemplarischen Rang.
  • Die Ursache für Aschenbachs Tod bleibt unklar: Ist es die Cholera - oder doch die unglückliche, unerfüllbare Liebe zu dem schönen Jüngling, die laut Thomas Mann als "Tragödie einer Entwürdigung" zu begreifen ist?

Historischer Hintergrund

Venedig: Stadt mit morbidem Charme

Venedig ist eine Stadt, die von jeher symbolisch aufgeladen ist. Sie gilt als Stadt der Schönheit und der Dekadenz, der rauschenden Karnevalsfeste und des Verfalls - und als Traumstadt so mancher Dichter. "Von Venedig ist alles gesagt und gedruckt, was man sagen kann", argwöhnte bereits Johann Wolfgang von Goethe, und der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki setzte hinzu, dass Venedig - neben New York - diejenige Stadt sei, die in der Literatur eigentlich nicht mehr auftauchen dürfe, weil sie schon viel zu oft darin vorkomme.

Die Faszination der Künstler für die Lagunenstadt begann im 19. Jahrhundert, zu einer Zeit also, als Venedig seine politische Macht längst eingebüßt hatte. Seine Position als reicher Handelshafen war mit der Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien im 15. Jahrhundert geschwächt worden: Der Handel verlief nun einfach an Venedig vorbei. Zudem behinderte das Osmanische Reich immer wieder den Orienthandel der Venezianer.

1797 besetzte Napoleon die Lagunenstadt, die ihre Selbstständigkeit verlor und anschließend an Österreich fiel. Die Republik Venedig, die seit dem 9. Jahrhundert als eigenständiger Staat agiert hatte, ging damit unter und mit ihr auch die einstige Pracht: Die kostbaren Bauwerke bröckelten, Kirchen verfielen und Venedig bot sich dem Besucher als sterbende Schöne dar und lieferte damit jene Mischung aus Faszination und Grauen, wie sie die Dichter der Romantik liebten, die in Scharen die Stadt besuchten. Immer wieder breiteten sich in der Stadt, die in das faulige Brackwasser gebaut war, Seuchen aus und bildeten eine weitere Facette von Venedigs Morbidität.

Entstehung

Ursprünglich hatte Thomas Mann einen Text über die Liebe des 74-jährigen Goethe zu einer jungen Frau geplant - nichts Homoerotisches also. Dann aber geriet die Novelle zu einer autobiografisch geprägten Schrift, ausgelöst durch eine Venedigreise, die Mann im Mai 1911 unternahm. Die Reiseroute verlief in etwa so, wie er es später in der Novelle schilderte: Auf den Brioni-Inseln vor Istrien gefiel es den Manns nicht, sodass sie auf dem Lido von Venedig im Bäderhotel abstiegen. Hier fiel Thomas Mann ein polnischer Knabe auf, von dem er sofort in den Bann gezogen wurde. Seine geheime homoerotische Neigung konnte er freilich nicht offen aussprechen - er sublimierte sie gewissermaßen, indem er Gustav Aschenbach an seine Stelle setzte und die Begegnung mit dem jungen Polen in eine Novelle verpackte.

1965 äußerte sich ein gewisser Wladyslaw Moes in einer Münchner Zeitschrift zu seiner Vorbildfunktion für Manns Novelle (Ich war Thomas Manns Tadzio). Auch Katia Mann erinnert sich in einem Interview an die Vorliebe ihres Mannes für den kleinen Moes: "Er hatte sofort ein Faible für diesen Jungen, er gefiel ihm über die Maßen, und er hat ihn auch immer am Strand mit seinen Kameraden beobachtet." In seinem Lebensabriss aus dem Jahr 1930 verrät Thomas Mann, dass fast alle wichtigen Elemente der Novelle bei jenem Urlaub in der Realität vorhanden waren: vom Wetter, dem alten Gecken, dem finsteren Gondoliere, dem jungen Schönen bis zur Cholera-Epidemie.

Mann arbeitete ein ganzes Jahr an der Novelle - das Thema Knabenliebe und der mögliche Hinweis auf seine eigene Neigung waren im Kaiserreich nicht ohne Risiko. Im Juli 1912 war das Werk vollendet.

Wirkungsgeschichte

Der Tod in Venedig ist eine der wichtigsten Novellen von Thomas Mann und vermutlich sogar sein international bekanntestes Werk. Die Verwendung mythologischer und antiker Stoffe sicherte Mann eine Klassizität, die er mit früheren Texten noch nicht in diesem Ausmaß erreicht hatte: Spätestens in den 50er Jahren war kein Handbuch über Novellen vollständig ohne eine Interpretation von Der Tod in Venedig.

Die Nachwirkungen in der Literatur sind immens: Viele Autoren nach Mann haben sich direkt oder indirekt auf die berühmte Novelle bezogen. Dazu gehört beispielsweise Wolfgang Koeppens Der Tod in Rom (1954). Der Roman Mistler’s Exit (Mistlers Abschied, 1998) des amerikanischen Schriftstellers Louis Begley spielt mit Andeutungen an den Tod in Venedig: Hier reist ein todkranker Amerikaner nach Venedig, um dort zu sterben und sich vorher noch einmal dem süßen Leben, dem Genuss und der Liebe hinzugeben - was ihm allerdings misslingt. Eine große Breitenwirkung hatte die Verfilmung von Thomas Manns Novelle durch Luchino Visconti im Jahr 1971. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch Benjamin Brittens Oper Death in Venice geschrieben, die 1973 uraufgeführt wurde.

Über den Autor

Thomas Mann wird am 6. Juni 1875 in Lübeck geboren. Er ist der zweite Sohn einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie, sein älterer Bruder Heinrich wird ebenfalls Schriftsteller. Thomas hasst die Schule und verlässt das Gymnasium ohne Abitur. Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie 1894 nach München, dort arbeitet Mann kurzfristig als Volontär bei einer Feuerversicherung. Als er mit 21 Jahren volljährig ist und aus dem Erbe des Vaters genug Geld zum Leben erhält, beschließt er, freier Schriftsteller zu werden. Er reist mit Heinrich nach Italien, arbeitet in der Redaktion der Satirezeitschrift Simplicissimus und schreibt an seinem ersten Roman Buddenbrooks, der 1901 erscheint und ihn sofort berühmt macht. Der Literaturnobelpreis, den er 1929 erhält, beruht vor allem auf diesem ersten Buch – Mann, nicht uneitel, erwartet die Auszeichnung allerdings schon 1927. Trotz seiner homoerotischen Neigungen heiratet er 1905 die reiche Jüdin Katia Pringsheim. Sie haben sechs Kinder, darunter Klaus, Erika und Golo Mann, die ebenfalls als Schriftsteller bekannt werden. Weil Thomas den Ersten Weltkrieg zunächst befürwortet, kommt es zwischen ihm und seinem Bruder Heinrich zum Bruch, der mehrere Jahre andauert. 1912 erscheint die Novelle Der Tod in Venedig, 1924 der Roman Der Zauberberg. In den 1930er Jahren gerät er ins Visier der Nationalsozialisten, gegen die er sich in öffentlichen Reden ausspricht; seine Schriften werden verboten. Nach der Machtergreifung Hitlers kehrt er von einer Vortragsreise nicht mehr nach Deutschland zurück. Zunächst leben die Manns in der Schweiz, 1938 emigrieren sie in die USA, 1944 nimmt Mann die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1947 erscheint Doktor Faustus, eine literarische Auseinandersetzung mit der Naziherrschaft. Nach dem Krieg besucht Thomas Mann Deutschland nur noch sporadisch; die von ihm vertretene Kollektivschuldthese verschafft ihm nicht nur Anhänger. Als die Manns 1952 nach Europa zurückkehren, gehen sie wieder in die Schweiz. Thomas Mann stirbt am 12. August 1955 in Zürich.

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