Cao Xueqin
Der Traum der roten Kammer
Insel Verlag, 1995
Was ist drin?
Unerfüllte Liebe, rebellische Jugend, der Niedergang einer großen Familie und der Weg zur Erlösung: große Themen der Weltliteratur, eingehüllt in das schimmernde Gewand eines chinesischen Klassikers.
- Gesellschaftsroman
- Qing-Dynastie
Worum es geht
Der Klassiker aus dem Reich der Mitte
Der Übersetzer Franz Kuhn fand 1932 poetische Worte für die Herausforderung, die Der Traum der roten Kammer für den Westen darstellte: „Wie ein unbekannter mächtiger Gebirgsstock“ dämmere der Roman aus „unwirklicher bläulicher Ferne“ herüber, „lockend zugleich und abschreckend“. In der Tat: Je nach Ausgabe und Übersetzung hat es der Leser mit knapp 30 Haupt- und über 400 Nebenfiguren zu tun, deren chinesische Namen für westliche Ohren oft auch noch sehr ähnlich klingen. In dem komplexen Gebilde aus Träumen, Poesie und realistischer Gesellschaftskritik erhält etwa der sexuelle Akt das blumige Codewort „Wind- und Wolkenverkehr“, und gegen schwere Krankheiten hilft appetitliches Schwalbennestmus. Trotz der exotischen Umgebung wirken die Romanfiguren, ihre Freuden und Nöte manchmal überraschend vertraut. Der Gesamtleseeindruck aber gleicht der Betrachtung eines filigranen chinesischen Kunstwerks: exakte Linienführung, perfekt komponiert, aufwändig koloriert – und doch dem westlichen Auge auf seltsame Weise fremd.
Take-aways
- Der Traum der roten Kammer gilt als größter Roman der chinesischen Literatur.
- Inhalt: Der Sohn einer reichen Adels- und Beamtenfamilie wird mit einem Zauberstein im Mund geboren. Liebling und Bewunderer aller Frauen, rebelliert er gegen seinen strengen Vater und die gesellschaftlichen Schranken seiner Zeit. Als die romantische Liebe zu seiner Cousine am Widerstand der Familie zerbricht, entsagen beide dem irdischen Leben.
- Der Roman zeigt, wie wahre Liebe und Menschlichkeit an den patriarchalisch-feudalen Gesellschaftsstrukturen der Qing-Dynastie im 18. Jahrhundert scheitern.
- Der Zauberstein symbolisiert das angeborene Gute im Menschen. Gerettet wird, wer seinem Wesen treu bleibt.
- Der Autor Cao Xueqin stammte aus einer reichen Adelsfamilie, die unter Kaiser Yongzheng in Ungnade fiel.
- Er verarbeitete auf ungewöhnlich realistische Weise eigene Erfahrungen und schuf so ein genaues Gesellschaftsporträt seiner Zeit.
- Als er um 1764 starb, war das Werk mit 80 Kapiteln unvollendet. Weitere 40 fügte einer der Herausgeber der Druckausgabe von 1792 hinzu.
- Die Romanhelden sind in China so bekannt wie Romeo und Julia in der westlichen Welt.
- Cao Xueqin wird als „chinesischer Shakespeare“ verehrt.
- Zitat: „Schein wird Sein, und Sein wird Schein. Keins wird eins und eins wird keins.“
Zusammenfassung
Der Zauberstein
Der brave Bürger Schi Yin hat einen seltsamen Traum: Ein Taoist und ein kahlköpfiger buddhistischer Bonze wandern mit ihm durch ein unbekanntes Land und unterhalten sich über einen Zauberstein aus Jade, der in ihrem Besitz ist und der von einer Göttin beseelt wurde. Sie beschließen, den Stein bei der Fee des schreckhaften Erwachens abzuliefern. Mit ihrer Hilfe soll der Stein in ein Liebesdrama auf Erden eingreifen. Am Ende des Traums sieht Schi Yin seine Gefährten durch einen Steinbogen verschwinden, der die Aufschrift trägt: „Wahnreich der großen Leere“. An den Pfeilern liest er den Spruch: „Schein wird Sein, und Sein wird Schein. Keins wird eins, und eins wird keins.“ Später trifft er seinen Nachbarn Yü Tsun, einen verarmten, aber gebildeten jungen Mann. Yin schickt ihn auf eigene Kosten nach Peking, damit er dort die Reichsprüfung ablegen kann. In den darauffolgenden Jahren bricht großes Unglück über Schi Yin herein. Erst wird ihm sein einziges Kind geraubt, dann brennt sein Haus in der Stadt ab. Verarmt zieht er sich als Bauer aufs Land zurück. Eines Tages hinkt ein taoistischer Wandermönch vorbei, der ein paar Verse über die Vergänglichkeit materiellen Glücks vor sich hin murmelt. Schi Yin lässt alles stehen und liegen und wandert mit ihm ins Ungewisse.
Blaujuwel und Edelstein
Yü Tsun fällt wegen seines vermessenen und respektlosen Verhaltens am kaiserlichen Hof in Ungnade und verliert sein Amt. Er verbringt einige Jahre auf Reisen und betätigt sich als Hauslehrer von Blaujuwel, der Tochter eines Adligen. Als deren Mutter stirbt, nimmt ihre Großmutter, die Fürstin Ahne, das zwölfjährige Kind zu sich nach Peking. Yü Tsun erfährt von einem Freund allerlei Seltsames über diese Sippe der Kia, der er selbst über Umwege angehört: Ein zwölfjähriger Enkel der Ahne, genannt Pao Yü (Edelstein), sei mit einem schillernden Jadestein im Mund auf die Welt gekommen. Seinem Vater, dem strengen Herrn Tschong, bereite er nichts als Kummer, da er sich nur für Mädchen interessiere. Die Ahne nimmt Blaujuwel im Pekinger Westpalais herzlich in Empfang. Das Mädchen staunt: Überall thronen Marmorlöwen und goldene Drachen, die vielen Gemächer und Pavillons sind in leuchtenden Farben gehalten und mit reichem Schnitzwerk versehen. Die Pracht wird nur vom Anblick ihres Vetters Pao Yü übertroffen: Seine feinen Züge wirken wie gemalt und sein Blick strahlt tiefe Empfindungen aus. Sofort fühlt sie sich mit ihm seelenverwandt.
Der Traum der roten Kammer
Eines Nachmittags hält Pao Yü im prächtigen Gemach seiner schönen, jungen Verwandten Frau Jung einen Mittagsschlaf. Im Traum begegnet er der Fee des schreckhaften Erwachens, die ihm erklärt, sie sei dafür zuständig, die Schulden zwischen unglücklich verliebten Menschenkindern zu begleichen. Außerdem trägt sie ihm auf, die Familie seiner ehrwürdigen Ahnen vor dem Verfall zu bewahren. Dann führt sie ihn in das Gemach von Frau Jung. Mit ihr kostet er erstmals die Wonnen des „Wind- und Wolkenverkehrs“. Seine Zofe Perle ist bei ihm, als er aus seinem Traum erwacht. Sie begreift sofort, was geschehen ist, und bietet ihm an, das gleiche Spiel mit ihr zu spielen. Wenig später stellt er fest, dass seine Cousine Pao Tschai ein Goldamulett mit einem Spruch trägt, der genau zu dem auf seinem Jadestein passt.
„Schein wird Sein, und Sein wird Schein. Keins wird eins, und eins wird keins.“ (Inschrift in Schi Yins Traum, S. 8)
Seit Pao Yüs Traum ist Frau Jung schwer krank. In der Nacht ihres Todes erscheint sie ihrer Freundin Phönix im Schlaf und beschwört sie, einen Teil des Familienvermögens in eine Stiftung zu stecken. Noch gehe es der Kia-Sippe zwar gut. Mit dem Geld solle aber für schlechte Zeiten vorgesorgt werden, um die Familienschule zu erhalten und die vierteljährlichen Ahnenopfer zu sichern. Doch Phönix schenkt dem Traum keine Beachtung. Sie denkt nicht daran, eine Stiftung zu gründen, lieber häuft sie heimlich private Reichtümer an. Nach den pompösen Trauerfeierlichkeiten erreicht die Familie die Nachricht, dass Pao Yüs Schwester Lenzanfang zur kaiserlichen Nebengattin ersten Ranges ernannt wurde. Bald darauf erlässt der Kaiser ein Dekret, das es allen seinen Frauen und Nebenfrauen erlaubt, ihre Familien zu besuchen. Er möchte so die kindliche Pietät ihren Eltern gegenüber stärken. Sofort beginnen Bauvorbereitungen, um Lenzanfang eine würdige Unterkunft bieten zu können.
Der Park der Augenweide
Das Ergebnis ist ein gewaltiger Park mit lieblichen Seen und wilden Wasserfällen, verschlungenen Pfaden und blumenübersäten Wiesen, schlichten Landhäuschen und prunkvollen Palästen. Pao Yü ist besonders geschickt darin, geistvolle Inschriften für die verschiedenen Aussichts- und Rastplätze sowie für die Pavillons zu erdichten. Eine Woche vor dem Laternenfest, an dem Lenzanfang ihre Familie besuchen soll, werden im ganzen Park Eunuchen stationiert. Die kaiserliche Gemahlin ist bei ihrer Ankunft stumm vor Rührung, so sehr hat sie in all den Jahren der Isolation im Kaiserpalast ihre Familie vermisst. Sie tauft die herrliche Anlage „Park der Augenweide“ und stiftet Pao Yü und seine Cousinen zu einem Dichterwettbewerb an, um die einzelnen Stationen in schönen Versen zu verewigen. Lenzanfang schmerzt der Gedanke, dass der Park nach ihrem kurzen Besuch unbenutzt verkommt. Sie befiehlt, dass Pao Yü und seine Cousinen mit ihren Zofen in die neuen Wohngebäude einziehen sollen.
„So hat er einmal gesagt, weibliche Wesen schienen ihm aus Wasser, männliche Wesen dagegen aus Lehm geformt zu sein.“ (über Pao Yü, S. 26)
Pao Yüs Halbbruder Kia Huan, ein hässlicher, boshafter Junge, verschüttet aus Neid auf seinen beliebten und talentierten Bruder absichtlich eine Schale heißes Wachs über dessen Gesicht. Kia Huans Mutter wird für ihren missratenen Sohn gescholten, worauf sie Rache schwört. Sie beauftragt die Zauberin Ma, Pao Yü und ihre Widersacherin Phönix zu verhexen. Noch am selben Nachmittag zeigt der Zauber Wirkung: Die beiden stammeln, rasen und rollen irre mit den Augen. Weihwasser, Geisterbeschwörer – alles ist umsonst. Die Familie bereitet sich schon auf das Begräbnis der beiden vor, als ein kahlköpfiger Bonze und ein hinkender Tao-Priester auftauchen und nach Pao Yüs Jadestein verlangen. Unter dem Einfluss des Fleisches und der Sinne habe dieser seine Zauberkraft verloren, erklärt der Bonze. Sie beleben ihn mit einem Zauberspruch wieder, und nach 33 Tagen sind Pao Yü und Phönix geheilt.
Stürmische Liebe
Die Beziehung zwischen Blaujuwel und Pao Yü ist ein ständiges Auf und Ab. Das Mädchen ist eifersüchtig auf Cousine Pao Tschai und die Zofen; Missverständnisse, heftige Streitigkeiten und tränenreiche Versöhnungen wechseln einander ab. Dann wird Pao Yü dabei ertappt, wie er die Zofe Goldreif zu verführen versucht. Goldreif wird aus dem Haus gejagt und begeht aus lauter Gram Selbstmord. Als Pao Yüs Vater von der Geschichte erfährt, prügelt er ihn fast tot. Erst im letzten Moment rettet ihn seine Mutter, Frau Tschong. Nun will Blaujuwels Zofe Kuckuck Pao Yüs Gefühle auf die Probe stellen und gibt vor, dass ihre Herrin bald in ihre Heimatprovinz zurückkehren werde. Die Nachricht trifft den Jungen wie ein Blitzschlag und er wird schwer krank. Nach seiner Genesung schöpft Blaujuwel Hoffnung, dass er sie doch so sehr liebt wie sie ihn.
Das Unglück der Yus
Fürst Kia King, der seit vielen Jahren als Einsiedler in den Bergen gelebt hat, ist gestorben. Während der Trauerfeierlichkeiten verliebt sich Phönix’ Gatte Kia Liän in seine Cousinen, die zwei unverheirateten, wunderschönen Yu-Schwestern. Er ist seiner herrsch- und eifersüchtigen Frau überdrüssig und beschließt, die zweite Yu zu seiner Nebenfrau zu machen. Diese ist zwar bereits verlobt, aber die Familie des Verlobten ist arm, und Kia Liän bezahlt dessen Vater, den alten Tschang, für die Auflösung des Verlöbnisses. Da er Phönix’ Zorn fürchtet, heiratet er die zweite Yu in aller Heimlichkeit. Die zweite Yu soll abgeschieden in einem gemeinsamen Liebesnest, einem kleinen Häuschen neben dem Ostpalais, wohnen. Eine Weile geht alles gut. Probleme bereitet nur die dritte Yu, die bei ihrer Schwester eingezogen ist. Sie hat sich in Liu Hsiang verliebt und lehnt jede andere Verbindung ab. Kia Liän, der die dritte Yu loswerden möchte, kann Liu zur Verlobung überreden. Im allerletzten Moment macht dieser jedoch einen Rückzieher. Die dritte Yu nimmt sich daraufhin mit dem Schwert, das er ihr zur Verlobung geschenkt hat, das Leben. Liu bereut sein kaltherziges Verhalten. Die Verstorbene erscheint ihm im Traum und sagt, die Fee des schreckhaften Erwachens habe sie geschickt. Als er aufwacht, sitzt ein Tao-Priester neben ihm. Liu schneidet sich sein Haupthaar ab und folgt ihm.
„Ich richte über den ,Wind- und Wolkenverkehr‘ zwischen den Menschen und regle die unbeglichenen Liebesschulden zwischen unglücklichen Mädchen und schmachtenden Jünglingen.“ (Fee des schreckhaften Erwachens, S. 68)
Über Umwege erfährt Phönix vom Doppelspiel ihres Mannes. Als dieser verreist ist, spinnt sie unverzüglich ein Netz aus Intrigen: Sie überredet die zweite Yu, zu ihr zu ziehen, indem sie Verständnis und Zuneigung vortäuscht. Phönix gibt sich nach außen herzensgut, befiehlt aber ihren Dienern insgeheim, die junge Frau zu schikanieren. Dann zahlt sie den Tschangs Geld, damit sie die Kia-Sippe wegen der Auflösung des Verlöbnisses verklagen. Kia Liän kehrt mit einer 17-jährigen Konkubine zurück. Phönix spielt nun ihre beiden Nebenbuhlerinnen gnadenlos gegeneinander aus und verbreitet niederträchtigen Klatsch über die zweite Yu. Diese wird vor Kummer krank, erleidet eine Fehlgeburt und schluckt schließlich ein Stück Gold, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten.
Der Niedergang
Im Park der Augenweide geht es nicht mit rechten Dingen zu. Die Dienerschaft gibt sich dem verbotenen Glücksspiel hin, Diebstahl und andere Laster breiten sich aus. Seltsame Ereignisse wie heulende Winde und das Schlagen der eigentlich fest verschlossenen Geisterpforte am Ahnentempel wecken dunkle Vorahnungen. Den eingeleiteten Säuberungsaktionen unter der Dienerschaft fällt auch Pao Yüs Lieblingszofe Buntwolke schuldlos zum Opfer. Sie wird schwer krank fortgejagt und stirbt kurz darauf. Der Park verödet: Cousine Lenzgruß zieht fort, um einen üblen Rohling zu heiraten, und Pao Tschai begibt sich wieder zu ihrer Mutter. Nach jahrelanger Pause wird Pao Yü gezwungen, die Familienschule zu besuchen.
„Auch mit ihrem Vater, Herrn Tschong, wechselte Lenzanfang jetzt einige Worte, freilich nur durch den Wandschirm. Denn nach der Hofetikette durfte kein fremder Mann, nicht einmal der leibliche Vater, eine kaiserliche Gemahlin mit seinen profanen Augen schauen.“ (S. 204)
Blaujuwel geht es zunehmend schlechter. Sie hustet Blut und hat Albträume über eine baldige Trennung von Pao Yü. Sie ist überzeugt, dass er einer anderen versprochen ist, und hungert sich daraufhin fast zu Tode. Als sich das Ganze als Missverständnis herausstellt, kehren ihre Lebensgeister zurück. Doch Phönix und die Ahne beschließen nun, dass Pao Yü eine robustere Frau an seiner Seite benötigt. Sie bereiten heimlich seine Heirat mit Pao Tschai vor. Als plötzlich die zuvor verdorrte Seite eines Goldbegonienbaumes mitten im Winter in Blüte steht, sehen viele darin ein böses Omen. Tatsächlich stirbt kurze Zeit später die kaiserliche Gemahlin Lenzanfang an einer Lungenentzündung, und der Zauberstein von Pao Yü ist unauffindbar. Dessen Wesen verändert sich radikal: Er wird teilnahmslos und verblödet.
Die falsche Braut
Blaujuwel erfährt schließlich von Pao Yüs und Pao Tschais bevorstehender Vermählung und legt sich hin, um zu sterben. Dem geistesgestörten Bräutigam wird derweil vorgegaukelt, er heirate Blaujuwel. Sein Zustand bessert sich daraufhin. Als er aber Pao Tschai auf dem Brautbett sitzen sieht, fällt er in seinen Stumpfsinn zurück. Trotzdem wird die Hochzeit vollzogen. Plötzlich besetzt der Finanzminister mit einer Horde von Bütteln und Schergen den Kia-Palast. Gegen mehrere Mitglieder der Sippe liegen Haftbefehle wegen Amtsmissbrauchs, Unzucht und Bestechung vor. Es stellt sich heraus, dass Phönix privat gehortetes Geld illegal zu Wucherzinsen verliehen hat. Außerdem hat die Familie jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt: Die Kassen sind leer. Die Ahne verteilt daraufhin ihre beträchtlichen Familienschätze unter den verarmten Angehörigen. Am Ende lässt der Kaiser doch noch Gnade walten. Er überträgt den Fürstentitel des verhafteten Scho auf dessen rechtschaffenen Bruder Tschong und erlaubt der Familie, ihr Gesicht zu wahren. Kurz darauf sterben die Ahne und Phönix.
Die letzte Prüfung
Inmitten der Aufregungen erscheint abermals der kahlköpfige Bonze und bringt den Zauberstein zurück. Sofort ist Pao Yü wiederhergestellt. Sein Geist macht sich auf zur Fee des schreckhaften Erwachens, wo er die Geister der verstorbenen Mädchen und Frauen wieder trifft, die er einst geliebt hat. Zu seinem Erschrecken verwandeln sie sich aber in Teufelsfratzen. Der Bonze erklärt ihm, er sei noch immer nicht frei von weltlichen Gelüsten und könne erst nach seiner endgültigen Erweckung in die Gefilde der Seligen einkehren. Auf Wunsch seines Vaters bereitet sich Pao Yü auf die Reichsprüfung für die Beamtenlaufbahn vor. Er besteht das Examen und rettet damit das Ansehen seiner Familie. Nach Hause kehrt er jedoch nicht mehr zurück. Seinem Vater erscheint er noch einmal in einer Mönchskutte aus Affenhaarwolle: Stumm entschwindet er mit seinen beiden Gefährten, dem Tao-Priester und dem buddhistischen Bonzen, im Schnee.
Zum Text
Aufbau und Stil
Franz Kuhns deutsche Übersetzung des Romans umfasst 50 Kapitel – im Original sind es 120. Eingeschlossen werden sie von einem Prolog und einem Epilog (nämlich der Rahmenhandlung um Schi Yin und Yü Tsun). Der Erzähler tritt oft am Ende eines Kapitels gleichsam an den Bühnenrand und kitzelt die Neugier auf den Handlungsfortgang mit Formulierungen wie: „Wenn ihr wissen wollt, wie es mit Pao Yü weitergeht, dann müsst ihr dem nächsten Kapitel lauschen.“ Ausführliche Naturbeschreibungen, die Diskussion von Krankheiten und ihren Heilmitteln, Poesie, Lebensweisheiten und natürlich Träume nehmen im Roman viel Raum ein. Das Yin-Yang-Prinzip, d. h. die Gegenüberstellung konträrer Themen und Figuren, ist im Roman allgegenwärtig: Weibliche Eigenschaften stehen männlichen gegenüber, auf Aufregung folgt Langeweile, auf Freud Leid, und nach dem Hochmut kommt der Fall. Eine Spannungskurve, wie sie in den meisten westlichen Romanen üblich ist, lässt sich nicht erkennen. Der Autor prägte einen für seine Epoche ungewöhnlich realistischen Stil: Seiner Ansicht nach sollte Literatur „wahre“ Geschichten erzählen und die Wirklichkeit widerspiegeln.
Interpretationsansätze
- Ein Thema des Romans ist die wahre Liebe, die an äußeren Umständen scheitert: an familiären Traditionen, gesellschaftlichen Schranken und finanziellen Erwägungen. Die Entsagung alles Irdischen ist am Ende der einzige Ausweg: Pao Yü wird Mönch, und Blaujuwel stirbt.
- Der Roman enthält eine Kritik des Patriarchats: Die meisten männlichen Figuren sind verantwortungslose, lüsterne Taugenichtse, die ihre Ehefrauen, Konkubinen und Bediensteten hintergehen, brutal misshandeln und ins Unglück stürzen. Der rebellische Pao Yü ist eine Ausnahme. Er fühlt sich von allem Weiblichen angezogen, das überwiegend das Wahre, Gute und Schöne repräsentiert.
- Der moralische Verfall der feudalen Herrscherklasse im China des 18. Jahrhunderts wird am Niedergang der Kia-Sippe exemplarisch beschrieben. Diese konnte ihre Macht und ihren Wohlstand nur mithilfe von Korruption, Nepotismus und rücksichtsloser Unterdrückung der armen Bevölkerung aufrechterhalten.
- Einen Gegenpol der Rechtschaffenheit bildet der strenge Konfuzianer Herr Tschong. Einige Interpreten sehen in ihm die Verkörperung des Kaisers Yongzheng, der von 1723 bis 1735 regierte und für seine Säuberungsaktionen innerhalb des chinesischen Beamtenapparats berühmt wurde.
- Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus, die drei wichtigsten philosophisch-religiösen Strömungen Chinas, bilden den moralisch-spirituellen Rahmen. Sie schließen einander nicht aus. Der Schwerpunkt des Romans liegt aber auf dem taoistischen Gedanken der Seelenhygiene durch Weltflucht (Taoismus = Lehre des Weges).
- Der Weg Pao Yüs führt über den Genuss irdischer Freuden und die Pflichterfüllung als Sohn hin zu vollkommener Selbstaufgabe und Nächstenliebe – der einzigen Chance, wahre Harmonie zwischen den Menschen herzustellen. Der Jadestein symbolisiert das dem Menschen angeborene Gute, das er nicht verleugnen darf.
- Der Autor schuf ein detailliertes Gesellschaftsporträt seiner Zeit: Egal ob Beerdigungs- und Hochzeitsrituale, Essgewohnheiten, Sexualität oder Haarmoden – jeder noch so winzige Aspekt im Leben des chinesischen Adels, seiner Bediensteten und Untertanen wird angesprochen.
Historischer Hintergrund
Die Goldene Ära der Qing-Dynastie
Der Traum der roten Kammer spielt im China der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zur Zeit der Qing-Dynastie (1644–1911). Das Volk der Mandschu hatte 1644 die Ming-Dynastie der Han-Chinesen gestürzt. Danach wurde anfänglich eine brutale Politik der Zweiklassengesellschaft etabliert, u. a. wurden die männlichen Han-Chinesen gezwungen, die Haartracht der Mandschu – rasierter Kopf mit Zopf – zu tragen. Im Lauf der Jahrzehnte übernahmen die neuen Herrscher aber viele kulturelle Bräuche und politische Strukturen ihrer Vorgänger, darunter auch das chinesische Beamtensystem mit seiner berühmten Staatsprüfung.
Die Zeit unter den drei Kaisern Kangxi, Yongzheng und Quianlong gilt als das Goldene Zeitalter der Qing-Dynastie. Unter ihrer Herrschaft waren die Agrarsteuern so niedrig wie nie zuvor, neuartige Anbaumethoden und technische Fortschritte des vorindustriellen Zeitalters wurden ausgereizt und die schönen Künste gefördert. Nach einem zähen Machtkampf mit seinen Rivalen folgte Kangxis vierter Sohn Yongzheng seinem verstorbenen Vater 1723 auf den Thron.
Der als strenger Konfuzianer bekannte Yongzheng ging hart gegen korrupte Staatsbeamte vor, nutzte die Säuberungsaktionen aber auch, um sich seiner politischen Feinde zu entledigen. Auf der glänzenden Oberfläche des Fortschritts und des steigenden Wohlstands zeigten sich erste Risse: Immer mehr Landbesitz und Reichtümer konzentrierten sich in den Händen privilegierter Adliger und Beamter. Kleinere Landbesitzer, Bauern und Textilarbeiter verarmten und es kam vermehrt zu Aufständen. Innere Unruhen, die rasant wachsende Bevölkerung und die Abschottung nach außen läuteten den Anfang vom Ende der Qing-Dynastie ein.
Entstehung
Im chinesischen Original beinhaltet der Roman 120 Kapitel. 80 davon werden Cao Xueqin zugeschrieben, die restlichen 40 hat Gao E verfasst, einer der beiden Herausgeber der ersten Druckausgabe aus dem Jahr 1792. Als Grundlage für den Schluss dienten angeblich die bereits sehr weit fortgeschrittenen Entwürfe des verstorbenen Autors. Andernfalls, so argumentierte etwa der deutsche Übersetzer Franz Kuhn 1932, „müssten die Chinesen über eine geradezu virtuos entwickelte Technik des literarischen Kunststopfens verfügen“, da es zwischen den beiden Teilen keinerlei inhaltliche Brüche oder stilistische Unterschiede gebe.
Unter modernen Literaturwissenschaftlern ist diese Auffassung allerdings umstritten. Einige halten Gao Es Version gar für eine Fälschung. Cao Xueqin hat in weiten Teilen des Romans seine eigenen Erfahrungen verarbeitet: Er stammte aus einer reichen Adelsfamilie, die unter der Gunst des Kaisers Kangxi stand. Als sich der politische Wind drehte, wurde er Zeuge des Niedergangs seiner Familie und verarmte. Der verhältnismäßig wohlhabende und privilegierte Gao E verpasste der Geschichte ein abgeschwächtes Happy End: Die Familie Kia wird rehabilitiert und erhält ihr Vermögen zurück.
Wirkungsgeschichte
Nach dem Tod des Autors 1764 erschienen einige handschriftliche Kopien der ersten 80 Kapitel, die Familienangehörige in den letzten Jahren seines Lebens angefertigt hatten. Zeitgenössische Leser waren so hingerissen, dass schon bald viel Geld für die Kopien bezahlt wurde. Bis zum Beginn des 20. Jahrhundert wurde das Buch anonym veröffentlicht, erst dann identifizierten die Literaturwissenschaftler Cao Xueqin als Autor. Der Traum der roten Kammer gilt als einer der vier großen klassischen Romane Chinas, ja als Gipfel der chinesischen Literatur überhaupt. Übersetzer Franz Kuhn begründete die ungebrochene Beliebtheit des Werks mit der Feststellung, dass es eine Art „Lebensbrevier der chinesischen Jugend“ darstelle. Die tragischen Helden des Romans sind im Reich der Mitte so bekannt wie Romeo und Julia in der westlichen Welt. Cao Xueqin wird von vielen als „Shakespeare Chinas“ verehrt.
Selbst über die Exzesse der kommunistischen Kulturrevolution hat sich Der Traum der roten Kammer hinweggerettet. Zwar kritisierten viele Parteifunktionäre, darunter Mao Zedongs Ehefrau Jiang Qing, den „vergiftenden“ Einfluss, den das in ihren Augen romantische, reaktionär-bürgerliche Märchen auf die Gemüter junger Menschen ausübe. Doch Mao selbst hat das Buch bewundert und gegen dessen Kritiker verteidigt. Allerdings war bis zu seinem Tod nur eine streng antifeudalistische, marxistische Lesart erlaubt. Spätestens seit 1990 wird das Buch wieder für seine ästhetische Qualität – und sein kommerzielles Potenzial – gewürdigt: Eine auf dem Epos basierende Blockbuster-Fernsehserie hielt ganz China in Atem. Und 1996 öffnete ein „Themenpark der Augenweide“ seine Tore, in dem Besucher auf den Spuren der Serienfiguren wandeln können.
Über den Autor
Cao Xueqin wird um 1720 in eine reiche Han-chinesische Familie hineingeboren, deren Mitglieder in der mandschurischen Armee gedient haben. Über den genauen Zeitpunkt seiner Geburt sind sich die Experten bis heute uneinig. Seine Urgroßmutter soll die Amme des Kaisers Kangxi gewesen sein. Sein Großvater wurde dessen Spielgefährte und langjähriger Freund. Während der Herrschaft des Kaisers bringt es die Familie zu hohem Ansehen und Reichtum. Den einträglichen Posten des Seidenkämmerers in der Provinz Jiangsu hält sie über drei Generationen. Mit dem Tod Kangxis beginnt der Stern der Familie zu sinken, als der streng konfuzianische Kaiser Yongzheng an die Macht kommt und rigoros gegen Korruption und illegale Finanzgeschäfte vorgeht. Nach zahlreichen Warnungen lässt er den gesamten Besitz der Familie konfiszieren und das Familienoberhaupt verhaften. Nach dessen Freilassung ist die verarmte Familie zum Umzug nach Peking gezwungen. Cao Xueqin ist zu dieser Zeit noch ein Kind. Über sein Leben als Erwachsener ist nicht viel überliefert: Er lebt in bitterer Armut, verkauft gelegentlich selbst gemalte Bilder und arbeitet als Lehrer in einer Schule für die Kinder mandschurischer Adliger. Freunde loben sein Talent als Dichter. Am Traum der roten Kammer arbeitet er etwa zehn Jahre lang, vermutlich um die Zeit der Jahrhundertmitte. Cao Xueqin stirbt um 1764. Schon kurz nach seinem Tod sind mehrere handschriftliche Kopien der ersten 80 Kapitel seines Romans im Umlauf.
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