Alfred Andersch
Der Vater eines Mörders
Eine Schulgeschichte
Diogenes Verlag, 2014
Was ist drin?
Das humanistische Gymnasium als Ursprung des nationalsozialistischen Terrors? Eine Schulstunde wirft Fragen auf.
- Novelle
- Gegenwartsliteratur
Worum es geht
Der Schulmeister und der Nationalsozialismus
Heinrich Himmler war im Hitler-Regime der zweitmächtigste Mann und verantwortlich für den Tod von Millionen Menschen. Sein Vater war Direktor an einem Münchner Gymnasium zu der Zeit, als Alfred Andersch dort Schüler war. In der Erzählung besucht Direktor Himmler an einem Maitag im Jahr 1928 den Griechischunterricht – das Ergebnis dieses Auftritts eines Tyrannen in der Maske des Pädagogen: Zwei Schüler fliegen von der Schule, darunter Alfred Andersch. Wo ist die Verbindung? Musste aus diesem Vater zwangsläufig ein solcher Sohn hervorgehen? War die humanistische Bildungstradition altsprachlicher Gymnasien nur noch eine Farce? Oder, wie Andersch im Nachwort fragt: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ Diese Fragen stehen nicht explizit im Text der autobiografischen Erzählung, aber sie entstehen umso lauter im Kopf des Lesers.
Take-aways
- Der Vater eines Mörders ist eine bekannte Erzählung des Schriftstellers Alfred Andersch.
- Inhalt: Schuldirektor Himmler besucht überraschend den Griechischunterricht in der Klasse des Schülers Franz Kien. Er pickt sich einige Schüler heraus, schikaniert sie und stellt sie bloß. Franz kommt als Dritter an die Reihe und ist der Zweite, der in dieser Stunde der Schule verwiesen wird.
- Der Text ist autobiografisch: Franz Kien ist Alfred Andersch, Direktor Himmler ist der Vater des späteren Naziverbrechers Heinrich Himmler.
- Andersch hält in der Erzählung den Zeithorizont des Jahres 1928 konsequent durch, nur im Titel offenbart sich die historische Rückschau.
- Der Text lässt bewusst offen, ob ein Vater wie der alte Direktor Himmler notwendigerweise einen Sohn wie den Nazi Heinrich Himmler hervorbringen musste.
- Andersch hinterfragt das damalige gymnasiale Bildungssystem und dessen fatale Nähe zu den Werten der Nazis.
- Sowohl das humanistische Gymnasium als auch der nationalsozialistische Staat forderten blinden Fleiß und bedingungslose Unterordnung.
- Alfred Andersch stellte den Text im Februar 1980 kurz vor seinem Tod fertig.
- Das Buch wurde ein Bestseller. Allerdings gab es auch kritische Stimmen, die Andersch Rufmord an der Familie Himmler vorwarfen.
- Zitat: „(…) dort oben, hinter dem Pult wie auf einem Anstand, saß jetzt ein Jäger, auf einer Pirsch in den Unterricht, dick, ungemütlich, einer von der feisten Sorte der Revierbesitzer und Scharfschützen.“
Zusammenfassung
Der Rex betritt die Klasse
Gleich zu Beginn der Griechischstunde in der Untertertia B des Münchner Wittelsbacher-Gymnasiums geht die Tür noch einmal auf. Der junge Klassenlehrer Kandlbinder steht erschreckt von seinem erhöhten Pult auf – und Direktor Himmler, den die Schüler hinter seinem Rücken „Rex“ nennen, betritt den Raum. Die 14-jährigen Jungen bemerken, dass der magere Kandlbinder neben dem vital wirkenden, beleibten, etwa 60-jährigen Rex, der unverkennbar Macht ausstrahlt, verblasst. Kandlbinders Unterricht ist fachlich exzellent, aber zutiefst langweilig. Franz Kien interessiert sich nicht besonders für diesen farblosen Lehrer, ebenso wenig für Griechisch.
„Die Griechisch-Stunde sollte gerade beginnen, als die Türe des Klassenzimmers noch einmal aufgemacht wurde.“ (S. 13)
Der Rex begrüßt die Klasse, „seine“ Untertertia B, und seine Augen vermitteln dabei etwas Joviales, Wohlwollendes, dem Franz aber nicht traut. Er hält ihn für alles andere als harmlos und empört sich innerlich darüber, dass er die Klasse anredet, als wäre sie sein Eigentum. Das will er hinterher mit Hugo Aletter besprechen, seinem Sitznachbarn, der zwar nicht sein bester Freund ist, mit dem er aber manchmal über Politik redet, in den Begriffen, die sie von ihren deutschnational gesinnten Vätern mitbekommen. Sein Vater, Franz Kien senior, war Reserveoffizier im Krieg, er wurde verwundet, ist immer noch krank, seine Geschäfte sind deshalb beeinträchtigt und die Familie hat wenig Geld. Der Rex sagt, er hoffe, Griechisch falle ihnen leichter als ihrer Parallelklasse . Diese hat er wohl unmittelbar zuvor besucht, denn in der Pause haben deren Schüler nichts von einem Besuch des Rektors erzählt. Es scheint, dass der Rex eine Überrumpelungstaktik verfolgt, denn dass Kandlbinder ebenfalls überrascht wurde, ist offensichtlich.
Der Klassenprimus kommt davon
Der Rex fordert Kandlbinder auf, sich nicht stören zu lassen und mit dem Unterricht fortzufahren. Er redet ihn mit „Herr Doktor“ an. Kandlbinders Doktortitel ist den Schülern neu; sie müssen Kandlbinder, wie jeden Lehrer der Schule, als „Herr Professor“ anreden, und zwar ohne Nennung des Namens. Kandlbinder ruft Werner Schröter an die Tafel, den Klassenprimus. Franz Kien deutet es als tiefe Verstörung des Lehrers, dass er so dumm ist, den Besten gleich zu Anfang zu verpulvern. Zweites Anzeichen dafür, dass Kandlbinder immer noch nicht ganz bei sich ist: Er stellt Schröter einen kinderleichte Aufgabe, nämlich die Konsonantenverbindungen an die Tafel zu schreiben. Das hätte sogar Franz Kien gekonnt, der sich in Griechisch bisher eher durchgemogelt hat.
„Obwohl Kandlbinder einen halben Kopf größer war als der auch nicht gerade kleine Rex (…), konnten sie auf einmal alle sehen, dass ihr Ordinarius, wie er so neben dem offensichtlich gesunden und korpulenten Oberstudiendirektor stand, nichts weiter als ein magerer, blasser und unbedeutender Mensch war (…)“ (S. 15)
Franz mag Werner Schröter, der ein Überflieger ist, aber kein Streber. Werner führt die Aufgabe gelassen aus; unaufgefordert spricht er die Buchstaben laut aus, während er sie hinschreibt. Dabei korrigiert ihn Kandlbinder. Der Rex widerspricht – so genau wisse man ja gar nicht, wie die alten Griechen ihre Buchstaben ausgesprochen haben. Kandlbinder setzt vorsichtig seinerseits zum Widerspruch an – der Rex schneidet ihm das Wort ab, indem er ihm zum Teil Recht gibt, nur um dann zu sagen, dass die Klasse über das Alphabet längst hinaus sein müsste. Er habe in der Grammatik geblättert und gesehen, dass sie nicht nur bereits die Silben und Akzente durchgenommen hätten, sondern auch schon bei der Satzlehre angekommen seien. Werner Schröter steht abwartend weiter an der Tafel, aber der Rex hat offensichtlich kein Interesse an ihm. Er kommentiert die Griechischgrammatik, in der er blättert, findet sie viel zu kompliziert geschrieben für Untertertianer, zweifelt zum Teil an, was darin steht. Sie sollten bloß nicht alles glauben. Dann sagt er, er würde jetzt gern noch einen anderen Schüler hören.
Frechheit siegt – und fliegt
Die Schüler ducken sich aus Angst. Franz Kien ist sich aber recht sicher, dass Kandlbinder ihn nicht aufrufen wird. Und tatsächlich, er wählt einen weiteren sehr guten Schüler: Konrad von Greiff. Kandlbinder lässt ihn nach vorn kommen, ohne ihn mit Namen anzusprechen. Als er ihn nämlich zum ersten Mal mit „Greiff“ angeredet hatte, hatte Konrad geantwortet: „Von Greiff, wenn ich bitten darf.“ Kandlbinder war, fassungslos über diese Unverschämtheit, aus der Klasse gerannt und hat ihn seither nie wieder beim Namen genannt. Konrad markiert auch jetzt von vornherein, dass er sich nicht devot verhalten will. Er pariert die Aufforderung mit einem spöttisch-provozierenden „Sehr gerne, Herr Doktor Kandlbinder!“.
„(…) Franz hatte sofort den Eindruck, dass der Rex, obwohl er sich ein wohlwollendes Aussehen geben konnte, nicht harmlos war; seiner Freundlichkeit war bestimmt nicht zu trauen (…)“ (S. 17)
Kandlbinder erbleicht, der Rex schaltet sich ein und weist Konrad scharf zurecht, droht ihm mit Arrest, sollte er seinen Lehrer noch einmal so anreden. Dabei erwähnt er, dass Konrad von Greiff ein junger Baron ist und lässt so erkennen, dass er über ihn im Bilde ist, dann aber spricht er ihn nur mit „Greiff“ an. Als Konrad zum Protest ansetzt, macht der Rex die Drohung wahr und verdonnert Konrad zu einer Stunde Arrest am Nachmittag. Als Thema für die Nachsitzzeit schlägt er Geschichte vor, weil Konrad in diesem Fach lange nicht so gut sei wie in Griechisch. So wird klar, dass der Rex Konrads Zeugnis vorher studiert haben muss. Dann belehrt er Konrad ausführlich über dessen Formfehler. Dass Konrad seinen Lehrer nicht so ansprechen darf, wie der Direktor ihn anspricht, fasst er in das lateinische Sprichwort „Quod licet Jovi, non licet bovi“ – was Jupiter darf, darf der Ochse noch lange nicht. Darauf entgegnet Konrad wütend, dass er nicht zum Rindvieh gehöre und dass der Direktor für ihn nicht Jupiter sei. Für ihn als Freiherr von Greiff sei der Rex bloß Herr Himmler.
„Er ahnte nicht, dass er nach dieser Stunde zu keinen Späßen irgendwelcher Art mehr aufgelegt sein würde.“ (über Franz, S. 30)
Ein starkes Stück, die Klasse hält den Atem an. Doch zum Erstaunen aller bewahrt der Direktor die Fassung. Er legt Konrad historisch dar, dass es mit dem Adel seiner Familie nicht besonders weit her sei. Der Wortwechsel geht noch weiter, Konrad streicht den Reichtum und die Tradition seiner Familie heraus, der Direktor versucht das herunterzuspielen. Als der Direktor sich dazu verleiten lässt, seine eigene Familie und deren lange Tradition über die Familie Konrads zu stellen, reagiert der auf die angeberische Aufzählung mit einem sarkastischen „Gratuliere!“. Jetzt bleibt dem Direktor nur noch Rache. Er verweist Konrad von der Schule, will seinem Vater einen entsprechenden Brief schreiben. Konrad setzt noch einen drauf, indem er fragt, ob der Arrest am Nachmittag damit hinfällig sei. Endlich verliert der Direktor die Fassung, er schreit Konrad an, dass er sich setzen und die Anordnungen der Schule abwarten soll. Konrad ist der Sieger, wenn auch ein entlassener.
Der Rex und das Hakenkreuz
Die Stunde ist noch nicht vorbei, der Rex sucht nach einem neuen Opfer. Franz Kien erinnert sich daran, dass sein Vater ihn vor dem Direktor als einem gefährlichen Mann gewarnt hat – dessen Sohn aber, den jungen Himmler, hat er als „ausgezeichneten jungen Mann“ gelobt. Der sei ein kluger, ruhiger Hitler-Anhänger, der mit seinem Vater, einem Stammwähler der Bayerischen Volkspartei, verfeindet sei, unter anderem über die Judenfrage; der junge Himmler sei nämlich Antisemit, der alte aber nicht. Franz Kien senior ist auch Antisemit, ein deutschnational gesinnter Ludendorff-Anhänger, ein Kriegsversehrter und Träger des Eisernen Kreuzes erster Klasse, der sich jeden Abend Morphium spritzt.
„(…) dort oben, hinter dem Pult wie auf einem Anstand, saß jetzt ein Jäger, auf einer Pirsch in den Unterricht, dick, ungemütlich, einer von der feisten Sorte der Revierbesitzer und Scharfschützen.“ (über den Direktor, S. 39)
Der Rex geht durch die Bankreihen und bleibt neben Franz Kien stehen, spricht aber nicht ihn an, sondern seinen Banknachbarn Hugo Aletter: Dieser soll sofort das Hakenkreuz von seiner Jacke entfernen. Der Rex weist Kandlbinder an, dass er keinerlei politische Abzeichen an seiner Schule wünsche – wenn er das Hakenkreuz dulde, müsse er auch den Sowjetstern dulden. Es erscheint Franz Kien völlig absurd, dass jemand mit Sowjetstern in die Schule kommen könnte; die Eltern der meisten Schüler sind deutschnational gesinnt und nicht wenige sympathisieren auch mit dem Nationalsozialismus. Doch es gibt auch ein paar jüdische Schüler, etwa Schorsch Bernstein, einen guten Kameraden und vortrefflichen Skifahrer, den Franz sehr gern mag, dem man überhaupt nicht anmerkt, dass er Jude ist, und dessen Eltern genauso deutschnational sind wie die meisten anderen Eltern. Franz fragt sich, ob der junge Himmler seine Meinung über Juden ändern würde, wenn er Juden wie Schorsch Bernstein kennen würde. Er wünscht es sich, denn er mag den jungen Himmler allein deshalb, weil der sich mit seinem Vater verkracht hat. Allerdings hat er sich in Hitler keinen guten neuen Vater gesucht: Franz findet Hitlers Gesicht „blöd und mittelmäßig“.
Das nächste Opfer: Franz Kien
Franz wird aus seinen Gedanken gerissen, als er die Hand des Direktors auf seiner Schulter spürt. Jetzt ist die Reihe also tatsächlich an ihm. Der Rex lässt durchblicken, dass er über Franz’ schwache Leistungen in Latein im Bilde ist, er lächelt gemein und sagt: „Es ist verdienstvoll, Franz Kien zu loben.“ Dann fordert er ihn auf, diesen Satz auf Griechisch an die Tafel zu schreiben. Kurz darauf erlässt er ihm den eigenen Namen, nun soll er schreiben: „Es ist verdienstvoll, das Land zu loben.“ Der Rex gibt ihm das erste Wort vor, Franz notiert es fehlerfrei. Weiter kann er nicht, auch nicht mündlich. Der Rex sagt den Satz ungeduldig selbst. Franz schreibt immerhin einige Wörter fehlerfrei im griechischen Alphabet, was der Rex spöttisch kommentiert. Bei einem besonders langen Wort wendet sich der Rex an die Klasse, um wieder über die Grammatik herzuziehen.
„(…) beim Militär würde dir schon beigebracht werden, was Disziplin heißt.“ (der Direktor zu Konrad, S. 49)
Hier schaltet sich der ansonsten stumme Kandlbinder ein, von seiner Philologenehre angestachelt. Der Rex reagiert gelassen, aber bestimmt: Der Unterschied zwischen Adverb und Adverbiale sei ja ohnehin erst in der Obertertia dran – die übrigens Franz, wie der Rex meint, nicht erreichen werde. Franz ist irgendwie erleichtert, als er erkennt, dass das Abfragen nun ein Ende hat. Der Rex wirft ihm vor, nicht lernen zu wollen, denn er könnte ja doch, wenn er wollte. Er fragt ihn nach seinem Berufswunsch. Franz antwortet: Schriftsteller. Der Rex ist perplex. Auf seine Nachfrage antwortet Franz wahrheitsgemäß, dass er noch nicht wisse, was für Bücher er einst schreiben werde. Seine Lieblingslektüre sei Karl May. Das nun bezeichnet der Rex als „Gift“ – da ist er der gleichen Meinung wie Franz’ Vater. Dann äußert er sein Unverständnis darüber, dass sich Franz, bei einem solchen Berufswunsch, keine Mühe in Latein und Griechisch gibt. Franz stellt innerlich fest, dass er tatsächlich auf gar nichts in der Schule Lust hat, alles dort langweilt ihn.
Franz fliegt
Franz will zurück auf seinen Platz, doch der Rex hält ihn auf: Er müsse noch die Akzente setzen. Durch Andeutungen des Rex und durch logisches Kombinieren erschließt er sich einige Akzente richtig, andere wiederum nicht. Der Rex fragt Franz, was er eigentlich im Unterricht gemacht habe, und fordert Hugo Aletter auf, in Franz’ Pult nachzusehen, ob da nicht ein Karl-May-Schmöker versteckt sei. Tatsächlich liegt da einer, aber Hugo verrät Franz nicht. Der Rex schreibt eine Tabelle der verschiedenen Akzenttypen an die Tafel und fordert Franz auf, sie zu definieren. Kandlbinder weist den Rex erneut auf eine fachliche Unsauberkeit hin. Da platzt dem Rex der Kragen und er ruft wütend, Kandlbinder solle schweigen, schließlich habe er gerade einem Schüler seiner Klasse nachgewiesen, dass er überhaupt nichts vom bisherigen Griechischunterricht aufgenommen habe, ohne dass Kandlbinder es bemerkt habe. Damit ist der Lehrer vernichtet. Dann wendet der Rex sich wieder an Franz und fordert ihn auf, die Akzentregeln, die an der Tafel stehen, auswendig aufzusagen. Franz kann es tatsächlich. Der Rex registriert befriedigt, dass seine Methode funktioniert, und gibt Franz verschwörerisch den Tipp, er solle sich mit Auswendiglernen behelfen. Intelligente Schüler täten das.
„(…) München leuchtete, der Rex leuchtete, und doch dachten alle, was Franz dachte: Jetzt sucht er sich ein neues Opfer aus.“ (S. 64)
Der Rex fragt Kandlbinder, was er im Falle Kien vorschlage. Nachhilfe, antwortet Kandlbinder, aber das geht laut Rex nicht, weil Kiens Vater kein Geld dafür hat; man habe ihm schon eine Schulgeldbefreiung gewährt, obwohl das gegen die Regeln sei, weil das eigentlich nur hervorragenden Schülern zustehe. Kien hasst den Rex für diese Bloßstellung seiner Familie. Leider, so fährt dieser fort, danke der Sohn es der Schule und seinem Vater schlecht. Er, der Direktor, hätte ihn schon die letzten Schuljahre nicht weiter aufsteigen lassen dürfen, aber nun sei das nicht mehr zu verantworten, denn es sei zu klar, dass es auf ein Sitzenbleiben hinauslaufen würde. Franz versteht: Das war der Rausschmiss. Er ist erleichtert, hat nur Angst vor der Reaktion seines Vaters. Der Rex sagt, dass auch Franz’ Bruder Karl es eigentlich zu Unrecht in die Untersekunda geschafft habe, und fragt perfiderweise noch, wie es Kiens Vater gehe. Als er erfährt, dass es diesem schlecht geht, setzt er hinzu, er werde kaum begeistert sein, vom schulischen Versagen seiner Söhne zu erfahren.
Die Reaktion des Vaters
Franz’ Vater reagiert überraschend ruhig. Er sagt zunächst gar nichts und meint dann, dass der Direktor sich nur deshalb nach seinem Befinden erkundigt habe, weil er den Tapferkeitsorden hat. Franz denkt, dass das sein kann, weil Etappenhengste wie der Direktor generell neidisch auf Frontkämpfer sind oder sogar Angst vor ihnen haben. Dann sagt der Vater noch etwas, was Franz als gründlichen Irrtum empfindet: Der alte Himmler wolle es sich mit ihm nicht verderben, weil sein Sohn, der junge Himmler, sein Kamerad „in der Reichskriegsflagge“ sei.
Zum Text
Aufbau und Stil
In Der Vater eines Mörders gibt Andersch eine Schulstunde in allen Details wieder. Die Geschichte ist aus einem Guss, es gibt keine Kapiteleinteilung. Andersch erzählt aus auktorialer Perspektive. Dabei fokussiert er sich auf die Hauptfigur Franz Kien, in dritter Person, dessen Gedanken und Erinnerungen die äußere Handlung ergänzen und deuten. Einige wenige Passagen gehen auch über Franz’ Horizont hinaus, aber nie über den zeitlichen Horizont, in dem der Text angesiedelt ist. Neben Beobachtungen und Reflexionen gibt es viel wörtliche Rede, was das Geschilderte sehr lebendig wirken lässt. Die Erzählung weist überdies eine gewisse Nähe zum klassischen Drama auf: Die Figurenkonstellation kennt einen Helden und dessen Gegenspieler, und der Text verwirklicht die aristotelische Forderung, Zeit, Ort und Handlung müssten je einheitlich sein. Alfred Andersch hat dem Text ein Nachwort beigegeben, in dem er seine autobiografische Methode erläutert.
Interpretationsansätze
- Mit der Figur des Direktors liefert Andersch eine Analogie zum Willkürsystem der Nazis. Der Name „Rex“, lateinisch für „König“, unterstreicht die absolute Macht dieses Mannes. Himmler senior bestimmt nach Belieben über Schüler und Lehrer. Zwar trägt er die Maske des besorgten Pädagogen, dahinter jedoch exerziert er ein Unrechtssystem, das an den NS-Staat erinnert.
- Andersch zeichnet das Gymnasium als Spiegel der Gesellschaft in der ausgehenden Weimarer Republik. Das Menschenbild ist autoritätsgläubig. Die Tugenden, die von den Schülern erwartet werden, sind Fleiß, der nicht nach dem Sinn des Gelernten fragt, und blinde Unterordnung unter die Autoritäten. Wer dem nicht entspricht, wie die Schüler Konrad von Greiff oder Franz Kien, wird bestraft. Auch zum Denunzieren von Mitschülern wird aufgerufen.
- Der Text ist überdies eine Kritik am humanistischen Bildungsideal, wie es seinerzeit in den Bildungseinrichtungen, vor allem in altsprachlichen Gymnasien, zum Ausdruck kam. Andersch sieht eine fatale Nähe zwischen diesen eigentlich lobenswerten Idealen und der perversen Ideologie der Nazis. Im Nachwort bringt er dieses Problem auf den Punkt: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“
- Der Vater eines Mörders ist eine Erkundung der Ursachen des Dritten Reichs. Andersch lässt offen, worin genau der Zusammenhang zwischen der Tyrannei des Vaters und der Nazi-Karriere des Sohnes Heinrich besteht. „Musste aus einem solchen Vater mit Naturnotwendigkeit ein solcher Sohn hervorgehen?“, fragt er im Nachwort und antwortet, dass er es nicht wisse, ja, dass er das Buch nicht geschrieben hätte, wenn er es wüsste.
- Andersch spielt mit dem Bezug der Erzählung zur geschichtlichen Wirklichkeit, wird aber nirgends explizit. Gerade durch diese Offenheit, durch das Ungesagte hinter der Perspektive des 14-Jährigen von 1928 entsteht die Spannung des Textes. Andersch beschränkt sich konsequent auf den Zeithorizont der Erzählung – einzig der Titel Der Vater eines Mörders spielt auf Himmlers spätere Verbrechen an. Franz Kien findet Heinrich Himmler allein deshalb sympathisch, weil er offensichtlich gegen seinen Vater rebelliert. Der Leser weiß natürlich, was später aus ihm wurde.
Historischer Hintergrund
Glanz und Elend der Weimarer Republik
Die Zeit zwischen den Weltkriegen, vor allem die Periode zwischen 1924 und 1929, brachte zwar die sogenannten Goldenen Zwanziger hervor, aber das war weder eine wirtschaftliche noch eine politische Blütezeit, nur eine kulturelle. In vielen Bereichen der Kunst und der Wissenschaft gab es bahnbrechende Neuerungen, auch entstanden in diesen wenigen Jahren zahlreiche literarische Klassiker. Allerdings war dies ein reines Elitenphänomen, nur eine geringe Zahl von Künstlern und Denkern hatte an diesem kulturellen Aufschwung teil, nur wenige Menschen rezipierten ihre Produkte. Der Normalfall waren völkisch-reaktionär gesinnte Multiplikatoren, die ihre chauvinistische Weltsicht als Journalisten, Lehrer oder Pfarrer weitergaben. Nicht nur sie misstrauten der neuen Staatsform einer demokratischen Republik, dies taten auch Monarchisten, Sozialisten und nicht zuletzt die bessergestellten Bürger, denen die Inflation von 1923 ihre Ersparnisse vernichtet hatte.
Die NSDAP, 1921 von Adolf Hitler gegründet und ganz auf ihn zugeschnitten, trat auf wie eine Sekte, die die Bedürfnisse und Frustrationen der Menschen in einer kruden Mischung aller massenwirksamen Ideen der Zeit aufnahm und benutzte. Das vage sozialromantisch klingende Schlagwort vom „nationalen Sozialismus“ zielte auf die Arbeiterschaft und übersteigerte zugleich den Traum von der starken, dominanten Nation. Mit dem Antisemitismus kam ein Feindbild hinzu, das für diverse Gruppen als gemeinsamer Nenner funktionierte. Zu Anfang war der Nationalsozialismus vor allem eine Jugendbewegung: Während das katholisch oder protestantisch geprägte Großbürgertum, das sich auf weniger aggressive Werte stützte, längere Zeit immun blieb, strömten dessen Söhne und Töchter Hitler bereits in Scharen zu.
Entstehung
Alfred Andersch begann im Mai 1979 seine Erzählung zu schreiben. Er war zu dieser Zeit schon sehr krank, Augenprobleme machten ihm das Schreiben zeitweise unmöglich. Er schrieb mit Bleistift auf sehr weichem Papier, eine wirkliche Verbesserung brachte dann eine Schreibmaschine mit extragroßen Tasten. Im Januar 1980 war das Werk beendet. Kurz danach starb Andersch in seinem schweizerischen Wohnort Berzona an einem Nierenleiden.
Der Vater eines Mörders war sein sechster Text, in dem er die Hauptfigur Franz Kien verwendete, und im Nachwort lüftete er das Geheimnis um den autobiografischen Gehalt dieser Texte und bekannte: „Franz Kien bin ich selbst.“ Ihm selbst also war jener Rausschmiss durch den Direktor Himmler widerfahren. Die dritte Person und das Pseudonym ermöglichten es ihm, ohne dass er den genauen Grund dafür angeben konnte, das Geschehen noch authentischer zu beschreiben. Die einzige Veränderung am realen Ablauf der Schulstunde war laut Andersch, dass sich die Episode um Konrad von Greiff nicht bei diesem Unterrichtsbesuch des Direktors zugetragen habe, sondern bei anderer Gelegenheit. Und die einzig erfundene Information sei die, dass der Direktor selbst das Erzbischöfliche Gymnasium in Freising besucht habe – Andersch war davon überzeugt, Himmler müsse aus einer der konservativen katholischen Kaderschmieden hervorgegangen sein. Andere Informationen musste er sich verkneifen, weil ihm für die Offenheit der Erzählung die Beschränkung der historischen und persönlichen Perspektive von 1928 wichtig war, etwa die Tatsache, dass Himmler senior sich später mit seinem Sohn versöhnte, als dieser der zweitmächtigste Mann des Dritten Reichs geworden war.
Wirkungsgeschichte
Die Erzählung erschien kurz nach Anderschs Tod, was ihre Wirkung noch erhöhte – sie wurde dadurch zu seinem literarisch-politischem Vermächtnis. Die Resonanz in der Öffentlichkeit war groß und anders als bei früheren, umstritteneren Texten des Autors überwiegend positiv. Das Buch wurde ein Bestseller. Die meisten Rezensionen gingen der Verbindung zwischen dem sadistischen Direktor und dem massenmörderischen Sohn nach und schrieben, es gebe hier viel darüber zu lernen, wie es zu Hitler und Himmler kommen konnte.
Viele Zeitzeugen gaben Andersch Recht, was das Porträt des Gymnasialdirektors Himmler betrifft. Einer von Anderschs ehemaligen Mitschülern aber, der Rechtshistoriker Otto Gritschneder, widersprach der Darstellung entschieden und schrieb, dass in „Anderschens Märchen“ Tatsachen verdreht worden seien. Er bezeichnete Andersch selbst als „Rufmörder eines Vaters“, der kein „Pädago-Sadist“ gewesen sei, sondern „hochanständig“ und „völlig normal“ wie die ganze Familie Himmler außer Heinrich, dem schwarzen Schaf.
Schon kurz nach ihrer Veröffentlichung wurde die Erzählung zur Schulpflichtlektüre, die von den Entstehungsbedingungen des Nationalsozialismus handelt. Sie gehört noch heute zum festen Lektürekanon im Fach Deutsch.
Über den Autor
Alfred Andersch wird am 4. Februar 1914 in ein rechtskonservatives, kleinbürgerliches Elternhaus in München hineingeboren. 1928 verlässt er das Gymnasium, macht eine Buchhändlerlehre und tritt 1930 in den Kommunistischen Jugendverband ein. 1933 sitzt er dafür ein paar Monate im Konzentrationslager Dachau ein. Als er ein zweites Mal verhaftet wird, wendet er sich von der Politik ab. 1935 heiratet er die Halbjüdin Angelika Albert. 1938 zieht die Familie nach Hamburg, wo Andersch als Werbeleiter in einer Fotopapierfabrik arbeitet, zusammen mit seinem Schwager, der 1938 auf Druck von Göring entlassen wird und daraufhin einen Herzinfarkt erleidet. In dieser Phase der „totalen Introversion“ verfasst Andersch erste literarische Skizzen. 1940 wird er zum Militär einberufen. Andersch drängt seine Frau zur Scheidung, da die Ehe seit einiger Zeit zerrüttet ist und er sich dadurch erhofft, endlich als Schriftsteller etwas veröffentlichen zu können. Damit überlässt er seine Frau und die gemeinsame Tochter ihrem Schicksal, der Deportation. Im Mai 1944 wird Andersch nach Italien an die Front geschickt, am 6. Juni 1944 desertiert er. Auf diesen Erlebnissen basiert die Erzählung Die Kirschen der Freiheit, die 1952 ein gewaltiges Erdbeben im deutschen Nachkriegsfeuilleton verursacht. Während der Kriegsgefangenschaft in den USA arbeitet er an der Lagerzeitung Der Ruf mit, die er später zusammen mit Hans Werner Richter wieder neu gründet. Mit ihm ruft er 1947 auch die Schriftstellervereinigung Gruppe 47 ins Leben. Andersch ist jahrelang Leiter des Abendstudios Frankfurt und setzt sich in seinen Radioessays für junge unbekannte Autoren ein, darunter Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Arno Schmidt. 1957 erscheint der Roman Sansibar oder der letzte Grund. Desillusioniert durch die westdeutsche Nachkriegspolitik unter Konrad Adenauer siedelt Andersch 1958 in die Schweiz über. 1960 erscheint der Roman Die Rote. Am 21. Februar 1980 stirbt Alfred Andersch im schweizerischen Berzona.
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