Friedrich Schiller
Der Verbrecher aus verlorener Ehre
Reclam, 2011
Was ist drin?
Wie wird ein Mensch zum Mörder? Friedrich Schiller geht auf psychologische Spurensuche.
- Kurzprosa
- Weimarer Klassik
Worum es geht
Im Kopf des Täters
Verbrechen machen Menschen oft fassungslos: Was muss bloß in jemandem vorgehen, damit er zu einem kaltblütigen Mord fähig ist? Die erste Reaktion besteht meist in der Unterstellung, der Täter müsse ganz anders sein als wir. Diese Art von moralischer Überheblichkeit verurteilt Schiller scharf: In jedem steckt ein Ungeheuer, das durch äußere Bedingungen und starke Gefühlsregungen hervorgebracht werden kann. Bevor wir also vorschnell urteilen, sollten wir verstehen, wie aus gewöhnlichen Menschen Verbrecher werden. Wir müssen sie die Tat „nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen“, so Schiller. Sein Protagonist Christian Wolf gerät in eine aus seiner Sicht ausweglose Situation: Er wird für ein einfaches Vergehen viel zu hart bestraft und von der Gesellschaft verstoßen, was ihn schließlich zum Räuber und Mörder macht. Indem Schiller sachlich den Werdegang des Delinquenten und sein Schwanken zwischen Gewissensbissen und Hass, Rache und Reue begleitet, bringt er den Leser dazu, darüber nachzudenken, an welchen Wendepunkten Wolfs Leben eine andere Richtung hätte nehmen können. So schafft er ein Stück Literatur, das mit Eloquenz und moralischem Anspruch gleichermaßen überzeugt.
Take-aways
- Der Verbrecher aus verlorener Ehre gehört zu den wenigen Erzählungen des Dramatikers und Lyrikers Friedrich Schiller.
- Inhalt: Der Gastwirt Christian Wolf wird zum Wilddieb, weil er ein Mädchen beeindrucken will. Harte Gefängnisstrafen lassen ihn so weit abstumpfen, dass er aus Rache einen Mord begeht und später zum Anführer einer Diebesbande wird. Am Ende stellt er sich und wird hingerichtet.
- Die Erzählung beruht auf der wahren Geschichte des Kriminellen Friedrich Schwan, der 1760 zum Tod verurteilt wurde.
- Schiller erfuhr über seinen Lehrer Jakob Friedrich Abel von der Geschichte: Abels Vater hatte Schwan verhaftet.
- Die Erzählung wirft die Frage auf, ob und wie eine Resozialisierung von Straftätern möglich ist.
- Der Fall des Christian Wolf soll, gemäß Schillers Ausführungen in der Einleitung, als moralisches Lehrstück dienen und den Leser etwas über die menschliche Natur lehren.
- Schiller kritisiert das geltende Rechtssystem und setzt Standards für eine objektive Berichterstattung, die die Motive des Täters berücksichtigt.
- Schiller selbst maß seinen erzählerischen Werken keine große Bedeutung zu. Sie dienten dem Broterwerb.
- Heute sieht man in Schillers Erzählungen wichtige Vorläufer der großen deutschen Erzählliteratur etwa Heinrich von Kleists.
- Zitat: „Unsre Gelindigkeit fruchtet ihm nichts mehr, denn er starb durch des Henkers Hand – aber die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und – es ist möglich, auch die Gerechtigkeit.“
Zusammenfassung
Zwei Arten, über Verbrechen zu schreiben
Verbrechen geschehen in Augenblicken großer Leidenschaft und sollten genau untersucht werden. Wer sich näher mit den Hintergründen krimineller Taten beschäftigt, lernt die menschliche Psyche allgemein besser zu verstehen. Wie es im Innern des Menschen wirklich aussieht, lässt sich von außen kaum sagen.
„In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung.“ (S. 5)
Die Leidenschaften werden durch Gesetze und Regeln eingeschränkt. Die Beschäftigung mit dem Thema Verbrechen ist deshalb so schwierig, weil sich der Leser in einem völlig anderen Gemütszustand als sein Gegenstand befindet: Er ist ruhig, der Täter dagegen von starken Gefühlen getrieben. Diese Lücke ist nur schwer zu schließen. Meist bleibt der Täter dem Leser fremd und der Leser kann aus dem Schicksal des Täters nichts lernen. Wenn solche Geschichten also mehr leisten sollen, als nur die Neugier des Publikums zu befriedigen, muss der Autor entweder dafür sorgen, dass der Leser „wärmer“ wird, oder er muss den Held „kälter“ werden lassen. Die erste Methode wird von Dichtern genutzt – diese rufen damit Gefühle beim Leser hervor und reißen ihn mit.
„Der Held muss kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh er handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen.“ (S. 7)
Der Historiker dagegen nutzt die zweite Methode: Er stellt die Beweggründe des Täters und die Vorgeschichte der Tat in allen Einzelheiten dar und zeichnet die psychologische Entwicklung nach. Wie ein Naturwissenschaftler, der den Ausbruch eines Vulkans untersucht, muss der Menschenforscher die Eigenschaften der menschlichen Psyche und alle Bedingungen, die zur Tat führten, genau betrachten. Wer sich auf diese Weise mit der Vorgeschichte einer Tat auseinandersetzt, wird schnell die Überheblichkeit verlieren, mit der Menschen oft auf Straftäter herabblicken. Stattdessen wird man größeres Verständnis aufbringen und vielleicht mehr Hoffnung haben, dass der Schuldige wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden kann.
Der Sonnenwirt
Hier soll die Geschichte von Christian Wolf erzählt werden, der für seine Verbrechen hingerichtet wurde. Ob er diese Strafe verdient hatte oder für ihn noch Hoffnung auf Besserung bestand, soll der Leser entscheiden. Eine genaue Untersuchung der Umstände, die zu seinen Taten führten, kann vielleicht lehrreich sein.
„Unsre Gelindigkeit fruchtet ihm nichts mehr, denn er starb durch des Henkers Hand – aber die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und – es ist möglich, auch die Gerechtigkeit.“ (über Wolf, S. 8)
Christian Wolf betreibt nach dem Tod seines Vaters zusammen mit seiner Mutter den Gasthof der Familie in einer kleinen Stadt. Die Geschäfte laufen schlecht, und Wolf vertreibt sich die Zeit, indem er Mädchen nachstellt. Er ist eher klein und nicht besonders ansehnlich. Diese Nachteile versucht er mit besonderem Engagement auszugleichen. Das Mädchen Johanne, in das er sich verliebt, ist eigentlich nicht an ihm interessiert. Aber sie ist arm – und das macht sich Wolf zunutze, indem er sie mit Geschenken überhäuft. Als er kein Geld mehr hat, beginnt er, unerlaubt im Wald des Landesherrn zu jagen und das erbeutete Fleisch zu verkaufen. Mit dem gewonnenen Geld versucht er weiter, Johanne zu beeindrucken. Doch bald zeigt sich, dass er einen Nebenbuhler hat: Der Jäger Robert hat sich ebenfalls in Johanne verliebt und beobachtet Wolfs Großzügigkeit misstrauisch. Bald findet Robert heraus, woher das Geld für die Geschenke stammt. Er verfolgt Wolf im Wald und ertappt ihn schließlich auf frischer Tat. Wolf muss eine schmerzhafte Geldstrafe zahlen. Doch er hat auch Johanne verloren, die sich für Robert entschieden hat. Wolf steckt nun nicht nur finanziell in der Klemme, auch der Liebeskummer und die Wut auf Robert lasten schwer auf ihm. Er jagt erneut – und wird wieder von Robert erwischt. Diesmal fällt die Strafe schwerer aus, da er keine Geldbuße zahlen kann und als Wiederholungstäter gilt.
„Die Arbeit war hart und tyrannisch, mein Körper kränklich; ich brauchte Beistand, und wenn ich’s aufrichtig sagen soll, ich brauchte Bedaurung, und diese musste ich mit dem letzten Überrest meines Gewissens erkaufen.“ (Wolf, S. 12)
Ein Jahr lang muss Wolf ins Gefängnis. Während seiner Haft steigert er sich in seinen Hass und seine Eifersucht hinein. Als er später in seinen Heimatort zurückkehrt, gehen ihm die Menschen aus dem Weg. Er versucht, Arbeit als Tagelöhner zu bekommen, doch keiner will ihn einstellen. Nicht einmal als Schweinehirt findet er Arbeit. Wieder sieht er keinen anderen Ausweg, als zu wildern – und wieder wird er gefasst. Die Richter, die sich mehr für den Gesetzestext als für Christians Motive interessieren, wollen an dem Wilddieb ein Exempel statuieren und verurteilen ihn zu drei Jahren Zwangsarbeit in der Festung. Auch diese Haftstrafe geht schließlich vorüber – doch Christian Wolf ist nun ein anderer Mann. Er beschreibt die Haft und die folgenden Ereignisse gegenüber dem Gericht.
Wolfs Bericht
Wolf wurde in der Festung mit 23 Schwerverbrechern zusammengesperrt, die sich über seine verbliebenen moralischen Überzeugungen lustig machten. Der Umgang mit seinen Mitgefangenen ließ ihn abstumpfen. Anfangs versuchte er, sich so gut wie möglich von ihnen fernzuhalten, doch schließlich wollte er nicht mehr auf menschliche Gesellschaft verzichten. Je mehr Skrupel er verlor, desto größer wurde sein Rachehunger. Die Freiheit und das Glück anderer Menschen kamen ihm wie eine persönliche Beleidigung vor – er sah sich als Opfer der willkürlichen Richter. Als er die Festung verließ, kannte er nur noch ein Ziel: sich für die ungerechte Behandlung in seiner Heimatstadt und überhaupt an allen Menschen zu rächen. Als er der Stadt näherkam, brachen alle alten Wunden wieder auf, und er freute sich schon darauf, seine Feinde in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Einwohner waren gerade auf dem Weg zur Kirche, als Wolf auf dem Marktplatz ankam. Man ging ihm aus dem Weg, und als er einem kleinen Jungen eine Münze schenken wollte, warf der ihm das Geldstück an den Kopf. Tief gedemütigt machte sich Wolf auf die Suche nach einer Unterkunft und traf dabei auf Johanne: Sie war die Erste, die sich wirklich zu freuen schien, ihn zu sehen. Sie war krank und offenbar zur Prostitution gezwungen. Für Wolf war das die erste gute Nachricht – er war froh, dass es ihr noch schlechter ging als ihm.
„Ich hatte niemand und nichts mehr. Alle Welt floh mich wie einen Giftigen, aber ich hatte endlich verlernt, mich zu schämen.“ (Wolf, S. 14)
Wolfs Mutter war inzwischen gestorben, das Haus hatte er verkauft, um die Schulden zu bezahlen. Wolf fühlte sich völlig allein und von allen verachtet. Er hatte nichts mehr zu verlieren und längst keine Skrupel mehr. Er war so geworden, wie ihn die anderen schon lange sahen. Natürlich hätte er in eine andere Stadt gehen und ganz neu anfangen können, doch dazu fehlte ihm die Kraft. Also beschloss er, auf seine Ehre zu verzichten, die Gesetze nicht mehr zu achten und nur zum Spaß Böses zu tun.
Mord an Robert
Wolf begann wieder zu jagen – nicht nur, um zu überleben, sondern auch aus Freude daran, sich über das Gesetz zu stellen. Nach mehreren Monaten hatte er sich einen schlechten Ruf erworben, doch das kümmerte ihn nicht. Eines Tages traf er im Wald auf seinen alten Widersacher Robert. Von seinem Hass schier überwältigt, erschoss Wolf den Jäger. Schockiert von der eigenen Tat beobachtete er, wie Robert starb. Ihm wurde klar, dass dieser Mord alles verändern würde: Bisher hatte er sich einreden können, dass er eine viel zu lange Strafe verbüßt und gewissermaßen noch einige Wilddiebstähle gutgehabt hatte. Doch nun hatte sich etwas ganz Grundsätzliches geändert: Er konnte sich nicht erinnern, aus welchem Grund er die schreckliche Tat begangen hatte. Wolf blieb lange Zeit starr neben der Leiche stehen, bis ihn entfernte Geräusche aufschreckten. Dann floh er – nicht ohne noch einmal zur Leiche zurückzugehen und etwas Geld sowie die Uhr des Toten an sich zu nehmen. Erst mit etwas Abstand wurde ihm das ganze Ausmaß der möglichen Folgen bewusst – er musste nicht nur irdische Strafen fürchten, über ihm schwebte auch die Drohung, in die Hölle zu kommen. Seine Verzweiflung wurde immer größer. Leben und Tod hielten gleichermaßen Schrecken bereit.
König der Diebe
Sechs Stunden dauerte die Flucht schon, als Wolf von einer furchteinflößenden Gestalt aufgehalten wurde. Der Mann, bewaffnet mit einer Keule, einem Messer und einer Pistole, wollte wissen, wer Wolf sei und wohin er gehe. Wolf erkannte in seinem Gegenüber einen Verbrecher, wie er selbst einer war, und trat ihm deswegen ohne Angst entgegen. Wolf wollte schon weitergehen, doch der Mann bot ihm etwas zu trinken an. Die Freundlichkeit und die Erfrischung gaben Wolf neuen Mut und Hoffnung. Wolf gestand, dass er im Geschäft des Mordens noch neu sei, aber sein Gegenüber schien Erfahrung damit zu haben. Als er dem Fremden mitteilte, dass er der Sonnenwirt und bekannte Wilddieb Wolf sei, reagierte dieser erfreut: Er habe schon viel von ihm gehört und lange auf ihn gewartet. Der Fremde hatte einen völlig anderen Blickwinkel auf Wolfs Taten: Ihm zufolge war Wolf zu Unrecht für eine lässliche Sünde verurteilt worden, man hatte ihm seine Wirtschaft weggenommen und ihn schlechter als Vieh behandelt. Er lud Wolf ein, mit ihm zu kommen.
„Eine unsichtbare fürchterliche Hand schwebte über mir, der Stundenweiser meines Schicksals zeigte unwiderruflich auf diese schwarze Minute. (…) Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewann’s, und der Jäger lag tot am Boden.“ (Wolf, S. 16)
Sie kamen zu einem Abhang, den sie über eine Leiter hinunterstiegen. Unten fand sich ein Lager mit rund 20 Menschen, die um ein Feuer saßen und den ehemaligen Sonnenwirt freudig begrüßten. Er fühlte sich unter Freunden, die ihn herzlich in ihrer Mitte willkommen hießen. Sie aßen und tranken zusammen, und zwei der Frauen, Margarete und Marie, zeigten ihm besondere Aufmerksamkeit. Nach einiger Zeit schlug der Mann Wolf vor, er solle an seiner Stelle Anführer werden. Betrunken vom Wein und begeistert von der freundlichen Aufnahme sagte Wolf zu. Als Bedingung nannte er lediglich, dass Marie ab sofort ihm gehören solle. So wurde Wolf der Anführer einer Diebesbande und verübte in den folgenden Monaten mit seinen Spießgesellen zahlreiche Verbrechen.
Das Gewissen meldet sich zurück
Bald waren Wolf und seine Bande überall in der Umgebung bekannt. Sie verübten Einbrüche und verbreiteten das Gerücht, dass Wolf im Bund mit dem Teufel stehe – damit es niemand wagte, ihn an die Obrigkeit zu verraten. Als sich aber bei Wolf die erste Begeisterung über die neue Gemeinschaft legte, begann er an seinem Tun zu zweifeln. Die Diebe mussten oft hungern und innerhalb der Gruppe herrschten Neid und Misstrauen. Wolf musste ständig fürchten, hintergangen zu werden. Auf seinen Kopf war eine hohe Belohnung ausgesetzt – dieser Versuchung würden die Diebe bestimmt nicht lange widerstehen können. Wolf schlief kaum noch und wurde von seinem Gewissen geplagt. Statt andere zu hassen, richtete sich seine Wut nun auf ihn selbst: Er bereute seine Taten und wünschte sich, noch einmal von vorn anfangen zu können. Er war sicher, dass aus ihm noch ein rechtschaffener Mann werden könnte, wenn er nur die Chance dazu bekäme.
„Meine Rechnung war völlig, die Zeit der Reue war dahin, mein begangener Mord lag hinter mir aufgetürmt wie ein Fels und sperrte meine Rückkehr auf ewig.“ (Wolf, S. 23)
Als der Siebenjährige Krieg ausbrach, sah Wolf endlich einen Ausweg. Er schrieb einen Brief an seinen Landesherrn: Er wolle sich freiwillig stellen und sein Leben im Dienst seines Landes beenden. Er wolle mit seinem Einsatz als Soldat Wiedergutmachung leisten. Wolf bat in dem Schreiben um Gnade und wies darauf hin, dass der ungerechte harte Urteilsspruch ihn damals erst auf die schiefe Bahn gebracht habe. Wenn der Fürst einverstanden sei, so solle er einen Aushang verteilen lassen, und Wolf werde sich stellen.
Flucht nach Preußen
Auf dieses Schreiben wie auch auf zwei weitere erhielt Wolf jedoch keine Antwort. Also beschloss er, das Land zu verlassen und sich in den Dienst des Königs von Preußen zu begeben. Er verließ seine Bande und kam auf seinem Weg durch eine kleine Stadt, wo er plante, die Nacht zu verbringen. Als er das Tor passieren wollte, wurde der Wächter wegen Wolfs seltsamer Kleidung und seines mageren Pferdes misstrauisch. Er verlangte Wolfs Ausweis. Der Flüchtige konnte den gestohlenen Pass eines Händlers vorzeigen, doch der Wächter blieb skeptisch. Er informierte den Oberamtmann, der sich freute, einen weit gereisten Besucher zu haben, der ihm vielleicht Neuigkeiten vom Kriegsgeschehen berichten konnte. Er lud Wolf zu sich ein, doch der witterte eine Falle und versuchte zu fliehen. Damit machte er sich verdächtig – sofort wurde er von einer wütenden Menge verfolgt. Wolf versuchte, über Nebenstraßen zu entkommen, doch er landete in einer Sackgasse und wurde überwältigt.
Ohne Ausweg
Wolf wurde erneut vor den Oberamtmann gebracht. Als der ihn streng und unhöflich befragte, erklärte Wolf, er verweigere jede weitere Aussage, bis man freundlicher mit ihm spreche. Er wurde über Nacht im Turm inhaftiert. Als er am nächsten Tag wieder vor den Richter geführt wurde, erklärte dieser, dass er sein Verhalten überdacht habe. Er befragte Wolf erneut, diesmal freundlicher. Wolf wollte wissen, was ihn erwarte, wenn er nicht nachweisen könne, dass er ein unbescholtener Kaufmann sei. Als man ihm sagte, dass er dann so lange in Haft bleiben müsse, bis seine Identität festgestellt sei, bat er darum, kurz allein mit dem Oberamtmann sprechen zu dürfen. Wolf gab seiner Hoffnung Ausdruck, mit seinem folgenden Geständnis auf Menschlichkeit und Nachsicht zu treffen. Dann bat er den alten Richter, dass er Nachricht an den Fürsten schicken solle: Der gesuchte Sonnenwirt habe sich gestellt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die nur rund 30 Seiten starke Erzählung ist eine Mischung aus philosophischer Abhandlung, Tatsachenbericht und literarischer Erzählung. Nach einer Einleitung folgt die Vorstellung des Protagonisten Christian Wolf, der kurz darauf selbst zu Wort kommt, indem er seinen Lebensweg schildert. Nach einem kurzen Einschub eines auktorialen Erzählers, der Wolfs Zeit bei der Diebesbande zusammenfasst, folgt ein Brief, der vollständig zitiert wird und von Wolf selbst stammen soll. Damit erweckt Schiller den Eindruck von Authentizität. Am Anfang der Erzählung wird das vollzogene Todesurteil erwähnt, die Geschichte endet jedoch mit Wolfs Selbstauslieferung – die eigentliche Gerichtsverhandlung lässt Schiller aus und weist dadurch dem Leser die Rolle des Richters zu. Der Schluss der Erzählung ist wieder aus der Sicht eines allwissenden Erzählers verfasst; man erhält den Eindruck, der Berichtende sei am Tag der Verhandlung dabei gewesen. Die Grenzen zwischen den Erzählformen verschwimmen in mehrfacher Hinsicht: So wirkt der Bericht des Wilddiebs erstaunlich eloquent und auch sein Brief zeugt von einer argumentativen Begabung, die man als Leser anzweifeln möchte. Im Übrigen bleibt die Sprache kühl und sachlich – ein Stilmittel Schillers, mit dessen Hilfe er dem Leser einen möglichst neutralen und unverstellten Blick auf die psychische Entwicklung Wolfs ermöglichen wollte.
Interpretationsansätze
- Der Fall des Christian Wolf soll gemäß den Ausführungen in der Einleitung als moralisches Lehrstück dienen und dem Leser die menschliche Natur nahebringen. Die Geschichte erläutert im Detail, wie Wolf zum Verbrecher wurde. Indem der Leser die Entwicklung nachvollzieht, muss er sich fragen: Wurde Wolf zu Recht bestraft? Oder hätte man ihn retten können? Die damit zusammenhängende Frage nach Handlungs- und Willensfreiheit wird im Text mehrfach aufgeworfen.
- Schillers Skepsis gegenüber dem geltenden Strafrecht wird im Text deutlich. Er wirft den Richtern vor, sich mehr für den Gesetzestext zu interessieren als für den Menschen, der vor ihnen steht. Ein menschlicheres Strafsystem müsse nicht nur die Tat selbst, sondern auch den Weg dorthin berücksichtigen. Mit seinen Forderungen nimmt Schiller viele heute geltende Standards wie objektive Berichterstattung und Resozialisierung vorweg.
- Damit steht das Werk in der Tradition des Humanismus, der den Menschen in den Mittelpunkt philosophischer und auch rechtlicher Überlegungen stellt.
- Die Erzählung ist aber auch eine Kriminalgeschichte, die den Leser ganz nah an das Denken des Täters heranführt – und damit ein Vorläufer moderner Krimis rund um Profiler, die sich in die Psyche von Straftätern versetzen. Die psychologischen Hintergründe der Tat will Schiller mit einer „Leichenöffnung des Lasters“ untersuchen.
- Das fiktionale Werk, das sich als Tatsachenbericht ausgibt, wirft die Frage auf, ob Geschichtsschreibung immer teilweise Fiktion ist. Schiller selbst geht in der Einleitung zu seiner Erzählung auf diesen Punkt ein, wenn er feststellt, dass eine schier unüberwindliche Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem aktuellen Leser besteht. Diese muss durch eine aktive Leistung des Historikers oder Literaten überbrückt werden.
Historischer Hintergrund
Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert
Deutschland war im 18. Jahrhundert eine Ansammlung von Kleinstaaten unter der Führung der beiden Großmächte Österreich und Preußen. Diese Kleinstaaten wurden meist von absolutistischen Herrschern regiert. Preußen hingegen wurde zum Vorbild für eine neue, aufgeklärte Form der Monarchie. Der Staat stieg im 18. Jahrhundert unter Friedrich dem Großen vom zersplitterten Kleinstaat zu einer der fünf Großmächte Europas auf. Friedrich führte zahlreiche Reformen durch: Er schaffte die Folter ab, schränkte die Zensur ein und stand für eine Politik der Religionsfreiheit. Außerdem vergrößerte er mit den beiden Schlesischen Kriegen (1740 bis 1745) und dem Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763) sein Reich. Im absolutistischen Europa galt das Recht des Stärkeren: Das zeigte sich besonders deutlich an der ersten Teilung Polens 1772, als Friedrich der Große, Katharina die Große von Russland und Joseph II. von Österreich das wehrlose Land kurzerhand unter sich aufteilten. Der preußische Staat, der aus verschiedenen Völkern bestand und seine geografische Ausdehnung mehrfach änderte, funktionierte dank einer straffen Organisation und einer mächtigen Obrigkeit, die die Gesellschaft nach ihrem Willen formte.
Kulturell war das späte 18. Jahrhundert eine wahre Blütezeit, nicht nur im deutschen Raum, sondern in ganz Europa. In der Philosophie waren die Ideen der Aufklärung prägend, die Anfang des Jahrhunderts vor allem aus England und Frankreich nach Deutschland kamen. Johann Gottfried Herder entwickelte seine Kulturphilosophie, die die Geisteswissenschaften nachhaltig beeinflusste. Untrennbar verbunden mit dieser Epoche bleibt jedoch vor allem der Name Immanuel Kant. Der preußische Philosoph veröffentlichte auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie und der praktischen Philosophie bahnbrechende Schriften. In der Literatur brachte das ausgehende 18. Jahrhundert einige bedeutende Namen hervor: Gotthold Ephraim Lessing und Christoph Martin Wieland bildeten den Anfang – und die Weimarer Klassik um Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe den Höhepunkt einer der vielseitigsten literarischen Epochen der deutschen Geschichte.
Entstehung
Friedrich Schiller schrieb in den frühen Jahren seiner Laufbahn mehrere Erzählungen, um sich damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Texte behandelten historische Themen und wurden in Zeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht. Er selbst hatte keine hohe Meinung von diesen Arbeiten. Sie hatten seiner Ansicht nach weniger ästhetischen Wert als etwa sein lyrisches Werk und genügten auch wissenschaftlich keinem allzu hohen Anspruch. Anders als bei seinen Dramen, blieb Schiller hier viel näher an den historischen Quellen – wohl auch, um weniger kreative Energie aufwenden zu müssen: „Die Geschichte ist ein Feld, wo alle meine Kräfte ins Spiel kommen, und wo ich doch nicht immer aus mir selber schöpfen muss“, schrieb er in einem Brief an Christian Gottfried Körner.
Bei der Auswahl der Stoffe interessierten ihn vor allem psychologische Grenzfälle. Verbrecher standen immer wieder im Mittelpunkt seiner Werke: In den 1782 uraufgeführten Räubern gerät die Hauptfigur Karl Moor in einen Teufelskreis der Gewalt. So auch der Protagonist in Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Die Erzählung beruht auf der realen Lebensgeschichte des „Sonnenwirts“ Friedrich Schwan aus Ebersbach. Dieser wurde von dem Oberamtmann Konrad Ludwig Abel verhaftet und 1760 für seine Vergehen hingerichtet. Abels Sohn, Jakob Friedrich Abel, war Schillers Lehrer. Er unterrichtete Philosophie an einer militärischen Kaderschule, der späteren Karlsschule, und hatte großen Einfluss auf den jungen Schiller. Abel veröffentlichte Schwans Geschichte 1787 in seinem Werk Sammlung und Erklärung merkwürdiger Erscheinungen aus dem menschlichen Leben.
Wirkungsgeschichte
Schillers Erzählung wurde erstmals 1786 unter dem Titel Verbrecher aus Infamie, eine wahre Geschichte in der Zeitschrift Thalia veröffentlicht. 1792 brachte Schiller sie erneut, diesmal unter dem Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in der Sammlung Kleinere prosaische Schriften heraus. Unter seinen Zeitgenossen waren Schillers Erzählwerke bekannt und wurden zum Teil begeisterter aufgenommen als seine Dramen. Bald nach ihrem Erscheinen wurde die Erzählung auch für die Bühne adaptiert. Im 19. Jahrhundert griff Herrmann Kurz den Stoff für seinen Roman Der Sonnenwirt auf.
Die Forschung sieht in Schillers frühem Prosawerk heute eine wichtige Vorbereitung für die spätere deutsche Erzählkunst etwa von Heinrich von Kleist. Der Schriftsteller Rudolf Borchardt bewertete Schillers Arbeiten vollmundig als „die größte deutsche Kunstprosa, die es gegeben hat, die reichste, weder überboten noch erreicht von irgend einer, die es nachher gegeben hat.“
Über den Autor
Friedrich Schiller wird am 10. November 1759 in Marbach am Neckar als Sohn eines Offiziers geboren. Auf Befehl des württembergischen Landesherrn Karl Eugen wird er in dessen Eliteschule in Stuttgart aufgenommen. Schiller behagt der militärische Drill im Internat überhaupt nicht, wenngleich die Lehrkräfte und die Ausbildung hervorragend sind. Er studiert zunächst Jura und dann Medizin. Viel stärker lockt den jungen Mann aber die Schriftstellerei. Mehr oder weniger heimlich schreibt er sein erstes Drama Die Räuber, das 1782 in Mannheim uraufgeführt wird. Als er gegen den Willen Karl Eugens die Landesgrenzen überschreitet, wird er mit Haft und Schreibverbot bestraft. Schiller entzieht sich dem Zwang durch neuerliche Flucht und setzt seine schriftstellerische Arbeit fort. Die frühen Dramen erscheinen: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) und Kabale und Liebe (1784). Unter ständiger Geldnot leidend, zieht er 1785 zu seinem Freund und Gönner Christian Gottfried Körner nach Sachsen, wo er unter anderem die durch Beethovens Vertonung bekannt gewordene Ode An die Freude sowie den Dom Karlos (1787) schreibt. Aufgrund seiner viel beachteten Studie Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung schlägt Goethe ihn 1788 für den Lehrstuhl für Geschichte in Jena vor. Hier verfasst Schiller seine ästhetischen und historischen Schriften und heiratet 1790 Charlotte von Lengefeld. Nach seinem Umzug nach Weimar im Jahr 1799 schließt Schiller Freundschaft mit Goethe. Daraus ergibt sich eine der fruchtbarsten Dichterbekanntschaften aller Zeiten: In der Nähe Goethes beendet Schiller sein erstes klassisches Geschichtsdrama, die Wallenstein-Trilogie. Es folgen Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans (beide 1801), Die Braut von Messina (1803) und Wilhelm Tell (1804), aber auch ein umfangreiches lyrisches Werk. 1802 erhält er den Adelstitel. Seine schlechte körperliche Konstitution zwingt ihn immer wieder aufs Krankenlager. Am 9. Mai 1805 stirbt Schiller in Weimar.
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