Meister Eckehart
Deutsche Predigten und Traktate
Hanser, 1995
Was ist drin?
Im 14. Jahrhundert wurde der Mystiker Eckehart als Ketzer verfolgt. Sein Werk inspiriert Theologen und Philosophen bis heute.
- Religion
- Mittelalter
Worum es geht
Ein unbequemer Mystiker
Zur Zeit der Kirchenspaltung im ausgehenden Mittelalter sehnten sich viele Menschen nach einer direkten Gotteserfahrung. Sie wandten sich der Mystik zu, dem Versuch, Gott durch religiöse Versenkung näherzukommen. Zu den bekanntesten Mystikern zählte an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert Meister Eckehart. In zahlreichen Schriften und Predigten formulierte er immer wieder die Kernsätze seiner Theologie und versuchte den Menschen seine Vorstellung von Gott zu vermitteln: Gott als höchstes, abstraktes Wesen, das dem Menschen liebevoll in seiner Seele begegnet, wenn er sich ganz auf ihn einlässt und von allem Irdischen frei wird. Diese Begegnung mit Gott ist für Eckehart das Beste, was dem Menschen geschehen kann; sie hilft ihm, sein Leben hier auf der Erde mit Gelassenheit zu führen. Eckeharts Theologie war aus kirchlicher Sicht nicht gerade linientreu und ließ ihn schließlich zu einem Opfer der Inquisition werden. Im Lauf der Jahrhunderte aber haben sich zahlreiche Philosophen von Meister Eckehart inspirieren lassen, dessen Lehren übrigens erstaunliche Parallelen zum Buddhismus aufweisen. Auch heute, in einer Zeit, in der Kontemplation für viele Menschen wieder wichtig ist, kommen Eckeharts Schriften dem Bedürfnis nach Lebensweisheit und Innerlichkeit entgegen.
Take-aways
- Meister Eckehart war ein Theologe und Philosoph an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, ein Hauptvertreter der Mystik.
- Im Zentrum seiner Theologie steht die Beziehung zwischen Mensch und Gott.
- Diese Beziehung ist das Wichtigste am Glauben, nicht gute Taten oder Rituale.
- Gott ist überall zu finden, und er möchte in jedem Menschen sein.
- Um Gott zu begegnen, muss der Mensch seine Seele ganz leer werden lassen und alle irdischen Dinge vergessen.
- Dadurch wird er im wahrsten Wortsinn „gelassen“.
- Wenn ein Mensch so von Gott erfüllt ist, kann er tun, was er will, es wird immer gut sein.
- Nicht jeder ist dazu bestimmt, ein Heiliger zu sein; deshalb hat es auch keinen Sinn, danach zu streben. Gott wirkt in jedem Menschen anders.
- Wenn man seinen eigenen Willen aufgibt und sich ganz demjenigen Gottes unterwirft, lässt sich alles leichter ertragen, auch das größte Leid.
- Gegen Ende seines Lebens musste sich Eckehart in einem Inquisitionsprozess verantworten. Er starb vor dessen Ende, seine Schriften wurden verboten.
- Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurde Eckehart wiederentdeckt. Schopenhauer, Bloch und Heidegger beriefen sich auf ihn.
- In manchen Punkten zeigt Eckeharts Theologie Parallelen zum Buddhismus, den er allerdings nicht kennen konnte.
Zusammenfassung
Die Begegnung mit Gott
Wenn ein Mensch inneren Frieden finden möchte, sollte er versuchen, Gott näherzukommen. Denn nur Gott kann wirklich Frieden schenken, und je mehr ein Mensch in Gott ist, umso mehr Frieden hat er in seiner Seele. Gott ist überall zu finden, und er möchte den Menschen begegnen. Deshalb ist es nicht nötig, sich an bestimmte Orte zu begeben oder bestimmten Ritualen zu folgen. Häufig steht sich der Mensch bei der Suche nach Gott selbst im Weg: Dann nämlich, wenn er mit so vielen Dingen beschäftigt ist, dass er die Stimme Gottes gar nicht mehr hören kann.
„Wo der Mensch in Gehorsam aus seinem Ich herausgeht und sich des Seinen entschlägt, ebenda muss Gott notgedrungen hinwiederum eingehen; denn wenn einer für sich selbst nichts will, für den muss Gott in gleicher Weise wollen wie für sich selbst.“ (S. 53)
Der Ort, wo ein Mensch Gottes Stimme vernimmt, ist die Seele. Weil Gott in der Stille spricht, muss auch die Seele ganz still und leer sein, damit sie Gott wahrnehmen kann. Sie muss von allen anderen Dingen frei werden, d. h. der Mensch muss alles loslassen, was er in seiner Seele mit sich herumträgt, alle Bilder und Eindrücke. Am besten wäre es sogar, wenn er sich selbst vergessen, sich „lassen“ könnte. Erst wenn die Seele von allem frei geworden ist, kann Gott zu ihr sprechen. Dann füllt er unsere leere Seele mit seiner Gegenwart, und wir können ihm ähnlich werden. Wer sich auf diese Weise ganz aufgibt, erlangt Einheit mit Gott – mehr noch, er ist dann selbst Gott, denn er ist mit Gott eins geworden. Um Gott in der Seele zu finden, muss man also sozusagen unwissend werden. Dieses Unwissen hat nichts mit Dummheit zu tun, es geht vielmehr über alles Wissen hinaus. Um Gott zu begegnen, müssen wir vergessen, was wir wissen, und wieder so werden, wie wir ursprünglich waren.
Gott und die irdischen Dinge
Gott muss in unserem Leben an erster Stelle stehen, und alles, was zur Erde gehört, muss ihm untergeordnet sein. Wer sich von den irdischen Dingen distanzieren kann und ihnen weniger Wichtigkeit beimisst, der ist frei geworden, um Gott zu begegnen. Viele Menschen aber verleihen dem Irdischen jenen Rang, der eigentlich Gott zusteht. So verstellen sie sich den Zugang zu ihm. Die Welt und alles, was in ihr ist, wurde von Gott aus dem Nichts geschaffen. Folglich haftet das Nichts noch allen Dingen auf Erden an. Wer also das Geschaffene sucht, der sucht eigentlich das Nichts und braucht sich nicht zu wundern, wenn er auch nur das Nichts findet. Wer in seinem Leben hingegen nur Gott sucht, der wird ihm auch begegnen.
„Darum fang zuerst bei dir selbst an und lass dich!“ (S. 55)
Wenn wir uns nur Gott unterstellen, sind wir frei und dienen niemandem mehr. Wenn wir dagegen irgendetwas anderes über uns herrschen lassen, bedrückt es uns, und wir werden unfrei. Alles, was geschaffen ist, wird uns zur Last, wenn wir es über uns stellen – und alles ist geschaffen außer Gott. Deshalb können wir nur dann frei sein, wenn wir Gott und nur Gott als Herrn anerkennen.
Gottes Geburt in der Seele des Menschen
Die Seele steht zwischen Zeit und Ewigkeit. Sie lebt in der Zeit und der Vergänglichkeit, aber zugleich berührt sie Gott und damit die Ewigkeit. Wenn die Seele Gott berührt, dann vereint sie sich mit ihm und wird ihm ähnlich. Die Beziehung zwischen einem Menschen und Gott, die so entsteht, lässt sich am besten mit einem Spiegel vergleichen. Ein Spiegel gibt immer den Gegenstand wieder, der in ihm sichtbar wird. Das Spiegelbild hat überhaupt nichts Eigenes, es ist nur ein Abbild des Originals und ganz von ihm abhängig. Genauso soll der Mensch sich Gott gegenüber verhalten: nur von ihm her kommen, ihm gleich werden und von ihm abhängig sein. Wenn Gott eine Seele erfüllt, dann trägt sie sein Bild in sich wie ein Spiegel.
„Die Leute brauchten nicht so viel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie wären.“ (S. 57)
Maria hat Jesus zur Welt gebracht und damit Gott geboren. Diese Geburt war wichtig – aber noch wichtiger ist es, dass Gott in der Seele eines jeden Menschen zur Welt kommen kann. Das geschieht dann, wenn der Mensch Gott begegnet und seine Stimme hört. Gott möchte mit jedem Menschen Gemeinschaft haben und dessen Seele ganz ausfüllen. Entscheidend ist, dass der Mensch sich dieser Nähe auch bewusst wird. Sonst wäre das wie bei einem König, der von seinem Rang nichts weiß: Dem nützt sein Königtum nichts. Ein wirklicher König kann er erst dann sein, wenn er sich seiner Rolle bewusst ist. Entsprechend ist Gott allen Menschen nahe, aber nur diejenigen, die das wissen, können seine Nähe auch spüren. Alle anderen – darunter insbesondere die schlechten Menschen – können Gott in ihrer Seele nicht wahrnehmen.
„Drum, willst du getröstet werden, so vergiss derer, denen es besser geht, und gedenk’ immerzu derer, die übler daran sind.“ (S. 107)
Um die Geburt Gottes in der Seele zu fühlen und Nutzen davon zu haben, müssen wir uns sammeln. Unsere Kräfte dürfen nicht zu sehr nach außen fließen, auch nicht in religiösen Aktivitäten wie z. B. guten Werken. Stattdessen müssen wir unsere Energie ganz auf Gott konzentrieren. Um seine Stimme zu hören, soll der Mensch sich nicht anstrengen, nicht versuchen, selbst etwas zu tun, sondern Gott einfach wirken lassen. Gott hat vor allem den Wunsch, uns etwas zu geben. Er gibt uns unbegrenzt, und ebenso kann die Seele unbegrenzt seine Gaben empfangen.
„Wisse, wenn immer du irgendwie das Deine suchst, so findest du Gott nimmer, weil du nicht Gott ausschließlich suchst.“ (S. 170 f.)
Über Gott kann man eigentlich nichts aussagen. Wenn wir ihn als gut oder weise bezeichnen, trifft das im Kern nicht zu, denn wenn etwas gut oder weise ist, kann es auch noch besser oder noch weiser werden, und das ist bei Gott nicht der Fall. Gott steht über allem, deshalb ist es am besten, wenn man nicht von ihm spricht, sondern schweigt. Auch ein bestimmtes Bild soll man sich von ihm nicht machen, denn Gott ist das höchste Sein und steht auch über unserer Vorstellung. Wir sollen ihn losgelöst von allen Bildern lieben.
Sein statt tun
Für den Glauben sind nicht in erster Linie bestimmte Rituale oder gute Taten wichtig, sondern die unmittelbare Beziehung zu Gott. Der Mensch kann selbst gar keine guten Werke schaffen: Ob ein Werk gut oder schlecht ist, hängt von seiner Beziehung zu Gott ab. Wenn ein Mensch sich ganz Gott zuwendet und ihn über alles andere stellt, dann ist auch alles gut, was er tut, ohne dass er sich besonders darum bemühen muss. Wenn dagegen die Beziehung zu Gott nicht stimmt, helfen auch alle guten Taten und alle frommen Anstrengungen nicht. Im Gegenteil, für den Glauben ist es eher schädlich, sich zu bemühen und bewusst gute Taten tun zu wollen. Denn der Mensch erfährt Gottes Gegenwart nicht dadurch, dass er etwas tut, sondern dadurch, dass er sich bewusst dieser Gegenwart aussetzt. Dann wird er von Gott und seinem Willen erfüllt. Wenn wir so mit Gott Gemeinschaft haben, können wir einfach tun, was uns richtig erscheint, und müssen nicht noch erst fragen, ob es auch Gottes Wille ist, was wir tun – denn es ist Gottes Wille.
Werke und Gerechtigkeit
Viele Menschen vollbringen gute Werke, weil sie vor Gott etwas erreichen wollen. Auf diese Weise versuchen sie, mit Gott zu handeln, und das ist nicht gut. Wer mit Gott handelt, zeigt nur, dass ihm irdische Dinge noch wichtiger sind als Gott; er gebraucht Gott als Werkzeug, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Wenn wir so denken, ist unsere Seele vom Irdischen noch nicht frei geworden, und wir sind Gott nicht wirklich begegnet. Solange wir nur deshalb fromm sind, weil wir durch den Glauben irgendetwas anderes gewinnen wollen – etwa Ehre oder Andacht – und Gott als Mittel zum Zweck einsetzen, können wir ihn nicht finden. Auch gute Werke, die wir aus dieser Motivation heraus vollbringen, sind nichts wert. Erst wenn es uns nur noch darum geht, Gott selbst zu begegnen, und uns nichts mehr wichtig ist außer ihm, können wir ihn finden. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Freundschaft und Liebe zwischen Menschen: Solange wir einen Menschen deshalb lieben, weil wir uns davon Vorteile erhoffen, ist es keine echte Liebe. Wir lieben erst dann wirklich, wenn wir den anderen für das lieben, was er ist. So soll auch unsere Liebe zu Gott sein.
„Wenn ich rein nur nach Gott strebte, sodass nichts über mir wäre als Gott, so wäre mir nichts schwer und würde ich nicht so schnell betrübt.“ (S. 209)
Überhaupt ist die innere Einstellung am wichtigsten: Es kommt nicht darauf an, was man tut, sondern darauf, was man will. Es ist nicht schlimm, wenn jemand sündigt; schlimm ist nur, wenn er die Sünde gewollt hat. Wenn jemand gute Taten tun will, aber nicht die Möglichkeit dazu hat, ist das ebenso gut, wie wenn er sie getan hätte.
„Wer das Nichts sucht, dass der das Nichts findet, wem kann er das klagen? Er fand, was er suchte.“ (S. 211)
Wenn jemand bemerkt, dass er nicht in der Lage ist, wie ein Heiliger zu leben, soll er sich keine großen Gedanken machen. Denn darauf kommt es nicht an, sondern allein auf die Beziehung zu Gott, und diese Beziehung kann jeder Mensch haben. Außerdem ist nicht jeder dazu berufen, ein Heiliger zu sein – manche Menschen können so leben, andere nicht. Es gibt viele verschiedene Wege zu Gott. Jeder Mensch soll ihm auf die Weise nachfolgen, die seiner eigenen Art entspricht, und sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, was er nicht kann. Umgekehrt müssen wir auch akzeptieren, dass andere Menschen Gott anders dienen als wir selbst. Wir sollten uns nicht mit ihnen vergleichen und nicht neidisch auf das sein, was Gott an anderen Christen wirkt. Gott handelt mit jedem Menschen anders. Am besten ist es, das einfach hinzunehmen.
Armut und Freiheit
Die Bibel fordert uns auf, in Armut zu leben. Wirklich arm ist ein Mensch dann, wenn er gar nichts mehr will, weiß oder hat. Viele Christen meinen, nichts mehr zu wollen würde bedeuten, dass sie ihren eigenen Willen dem Gottes unterordnen müssten. Aber solange sie ihn überhaupt unterordnen wollen, bedeutet das ja gerade, dass sie noch einen eigenen Willen haben. In Wahrheit geht es um viel mehr: Nichts zu wollen bedeutet, dass man seinen eigenen Willen ganz aufgibt und sich damit in den Zustand zurückversetzt, in dem man war, bevor man auf der Erde lebte. Ein wirklich armer Mensch darf auch gar nichts mehr wissen, nicht einmal von Gott selbst – er soll einfach in Gott existieren, weiter nichts. Und schließlich darf er auch nichts besitzen. Damit ist nicht unbedingt materielle Armut gemeint. Vielmehr soll der Mensch in seiner Seele nichts mehr haben, was er Gott bieten kann. Dann ist seine Seele leer, und Gott kommt hinein und wirkt in ihr.
„Wer in der Gerechtigkeit ist, der ist in Gott und ist Gott.“ (S. 268)
Wer in solcher Armut lebt, ist frei von allem, was ihn bedrücken könnte. Er lebt so, wie er vor seiner Geburt bei Gott existiert hat. Diese Existenz ist ewig und kann ihm nicht mehr genommen werden – das ist das ewige Leben im Unterschied zum Leben auf der Erde. Wenn ein Mensch diese Freiheit erreicht hat, wird er eins mit Gott, und Gott kann in ihm wirken: Er gibt ihm die Kraft, allen irdischen Dingen gelassen gegenüberzustehen. Sie sind dann einfach nicht mehr wichtig für ihn.
Leiden und Trost
Wer nichts mehr als wichtig erachtet außer Gott, kann Leid leichter ertragen. Leid kann jedem Menschen begegnen, etwa in Form von materiellen Verlusten oder Unglücken, die ihm selbst oder anderen zustoßen. Wir können dem Leid in unserem Leben nicht entkommen, aber wir können lernen, damit umzugehen. Wie wir das tun, hängt wiederum von unserer Beziehung zu Gott ab. In Gott selbst ist kein Leid. Das heißt, je enger unsere Beziehung zu Gott ist, umso weniger Leid werden wir empfinden, wenn uns ein Unglück zustößt. Setzt jemandem ein Unglück sehr zu, dann ist das ein Zeichen dafür, dass er noch zu stark an irdischen Dingen hängt. Man kann das mit einer Geburt vergleichen: Solange die Mutter Wehen hat und leidet, ist das Kind noch nicht geboren. Wer aber am Ziel ist und Gott gefunden hat, der hat kein Leid mehr in sich. Um nicht mehr zu leiden, muss der Mensch also seine Beziehung zu Gott vertiefen, dann wird er inneren Frieden finden, und alles Unglück kann ihm nichts mehr anhaben.
„Alles das, was in der Gottheit ist, das ist eins, und davon kann man nicht reden.“ (S. 273)
Wenn wir Gott lieben und uns seinem Willen unterordnen, müssen wir alles, was uns geschieht, annehmen als etwas, das von Gott kommt und von ihm so gewollt ist. Denn Gott ist vollkommen und liebt uns. Deshalb gibt er uns nur Gutes, auch wenn es uns zuerst schlecht erscheinen mag. Was von Gott kommt, ist gut – folglich ist alles, was uns im Leben geschieht, das Beste, was uns passieren konnte. Wenn jemand stirbt, der uns nahesteht, nützt es nichts, darüber zu trauern, denn es ist nicht mehr zu ändern. Wenn wir uns klarmachen, dass dieser Tod Gottes Wille war, können wir ihn leichter ertragen. Ein guter Umgang mit Leid zeichnet sich auch dadurch aus, dass man nicht auf den Verlust schaut und über ihn klagt, sondern sich bewusst macht, dass es vielen Menschen noch schlechter geht, und sich an den Dingen freut, die einem geblieben sind. Oft erkennen wir erst im Leid, wie gut es uns vorher ging; dann können wir Gott auch für das frühere Glück danken. Auf jeden Fall aber sollten wir Trost in Gott suchen, denn nur er kann uns wirklich trösten, und er leidet immer mit uns.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Textsammlung Deutsche Predigten und Traktate beinhaltet die Schriften Meister Eckeharts, die er nicht auf Lateinisch, sondern in deutscher Sprache verfasste; zur damaligen Zeit war dies das Mittelhochdeutsche. Den größten Teil des Buches machen die 59 Predigten aus; dazu kommen die Traktate Reden der Unterweisung, Das Buch der göttlichen Tröstung und Vom edlen Menschen. Einige Eckehart-Legenden und der Text der Bulle von Papst Johannes XXII., mit der er Eckeharts Schriften verurteilte, ergänzen die Sammlung. Bei den Reden der Unterweisung, die auf Gespräche mit Mönchen zurückgehen, ist z. T. die ursprüngliche Dialogstruktur noch erkennbar. Die Predigten haben in der Regel einen Bibelvers als Grundlage, und manchmal bezieht sich Eckehart gar nur auf einzelne Begriffe des jeweiligen Verses. In seinen kühnen, gelegentlich provokativen Auslegungen argumentiert Eckehart auf hohem theologischem Niveau. Entsprechend schwer verständlich ist manchmal seine Sprache, die zu überbordender Bildhaftigkeit sowie zu Wiederholungen neigt. In den Predigten spricht Eckehart seine Zuhörer direkt an und erweist sich als Meister der Rhetorik. Er zitiert zahlreiche Bibelstellen, andere Theologen wie Albertus Magnus, aber auch antike Philosophen. Bei manchen Aussagen bezieht er sich auch einfach auf „Meister“, ohne deren Namen zu nennen.
Interpretationsansätze
- Meister Eckeharts Vorstellung von Gott ist abstrakt. Er weist alle Bilder von Gott zurück und sieht ihn allgemein als Urgrund allen Seins an. Damit distanziert sich der Autor von der im Christentum üblichen Darstellung Gottes als älteren Mann mit Rauschebart.
- Eckehart ist die persönliche Beziehung zwischen Gott und Mensch wichtig, die sich in der Seele des Menschen entwickelt. Verhaltensregeln oder Rituale spielen dabei kaum eine Rolle – auch dies eine klare Absage an die offiziellen Gebräuche der Religionsausübung. Eckehart löst sich von allem äußeren Kult, ja fast sogar von einer bestimmten Religion.
- Eckeharts Haltung steht in krassem Gegensatz zur offiziellen Theologie der katholischen Kirche in jener Zeit, die Sakramenten, Ritualen und Verhaltensregeln größte Bedeutung zumaß.
- Eckeharts Theologie wirkt streng und radikal bis zur Selbstaufgabe. Seine Betonung der Hingabe in Gottes Willen hat aber nichts mit Selbstkasteiung zu tun. Die damals besonders von den Franziskanern gelebte Askese lehnte der Dominikaner Eckehart ab.
- In seiner vordergründig strengen Theologie steckt ein großes Maß an Lebensweisheit: Eckehart geht es darum, durch Selbstaufgabe zu mehr Gelassenheit zu finden und damit das Leben besser meistern zu können.
- Das Leerwerden der Seele und die Abwendung von allem Irdischen sieht er als zentrale Punkte auf dem Weg zu Gott an. Darin steht Eckehart der Philosophie des Buddhismus nahe, obwohl er diese mit Sicherheit nicht gekannt hat.
Historischer Hintergrund
Leben und Glauben im späten Mittelalter
Meister Eckeharts Leben und Schaffen fällt in eine Zeit des Umbruchs. 1250 starb der letzte Stauferkaiser Friedrich II., und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation erlebte eine Phase politischer Unsicherheit. Innerhalb weniger Jahre wurden mehrere Könige eingesetzt, die ihre Machtansprüche jedoch nicht durchsetzen konnten. Mit der Wahl Rudolfs von Habsburg 1273 stabilisierte sich die Lage, aber schon seine Nachfolge im Jahr 1291 löste wieder einen heftigen Kampf aus. Adolf von Nassau wurde bald abgesetzt, sein Nachfolger Albrecht I. 1308 ermordet. Nach Heinrich VII., der 1313 starb, regierte Ludwig IV., der jedoch in ständigem Konflikt mit dem Papst stand: Das Kirchenoberhaupt wollte ihn aus machtpolitischen Gründen nicht als König anerkennen, worauf Ludwig seinerseits einen Gegenpapst ernannte. Der Kampf zwischen weltlicher und kirchlicher Macht war voll entbrannt. Auch der französische König Philipp IV. versuchte Anfang des 14. Jahrhunderts Einfluss auf den Papst und damit die Kirche zu nehmen. Als mit Clemens V. dann ein Franzose Papst wurde, hatte er sein Ziel erreicht: 1309 verlegte Clemens den Sitz der Päpste von Rom nach Avignon; erst ab 1377 residierten sie wieder in Rom. In dieser unruhigen Zeit suchten viele Menschen nach persönlicher Gotteserfahrung; vor allem in den Klöstern wurde ein zunehmend mystischer Glaube gepflegt. Daneben bildeten sich zahlreiche Laienbewegungen, die oft schwärmerisch geprägt waren und kaum noch der gängigen Theologie des Spätmittelalters entsprachen. Im Kampf gegen solche Glaubensströmungen und mögliche Irrlehren griff die Kirche verstärkt zum Instrument der Inquisition. Ab Anfang des 13. Jahrhunderts gab es eigens dafür eingesetzte Inquisitoren, und ab 1252 war im Rahmen der Ketzerverfolgung auch die Folter erlaubt.
Entstehung
Der Traktat Reden der Unterweisung entstand vermutlich Ende der 1290er Jahre, als Meister Eckehart Prior des Klosters in Erfurt war. Grundlage des Texts sind Gespräche mit den Klosterbrüdern, die wohl von Eckehart selbst anschließend aufgezeichnet wurden. Das Buch der göttlichen Tröstung mit dem dazugehörigen Traktat Vom edlen Menschen verfasste Eckehart um 1310 während seiner Zeit als Generalvikar seines Ordens in Straßburg. Vermutlich schrieb er den Text für Agnes, die Tochter König Albrechts I. von Habsburg. Agnes verlor ihren Mann als sehr junge Frau, wenige Jahre später wurde ihr Vater ermordet. Daraufhin stiftete sie das Kloster Königsfelden und verbrachte dort den Rest ihres Lebens. Im Text selbst wird sie nicht genannt, Das Buch der göttlichen Tröstung beschäftigt sich nur allgemein mit dem Umgang mit Leid. Während Eckeharts Zeit in Straßburg entstanden vermutlich auch die meisten seiner noch erhaltenen Predigten. Seine Theologie weist Bezüge zum Kirchenvater Augustinus auf, aber auch zu den Überphilosophen der Scholastik wie Aristoteles oder Platon. Von den deutschen Texten Eckeharts sind keine Originale erhalten, sondern nur Abschriften aus den folgenden Jahrhunderten. Wenn man berücksichtigt, dass die Predigten wohl von Zuhörern mitgeschrieben wurden, kann man davon ausgehen, dass die Texte sicherlich fehlerhaft überliefert wurden. Bei manchen Schriften lässt sich nicht einmal mehr eindeutig klären, ob sie wirklich von Eckehart stammen.
Wirkungsgeschichte
Meister Eckehart polarisierte schon zu Lebzeiten. Seine kühnen Bibelauslegungen und seine eigenwillige Theologie, in der er sich wenig um kirchliche Lehrsätze oder religiöse Traditionen scherte, begeisterten viele Zuhörer, riefen jedoch ebenso viel Kritik hervor. Dass er seine oft sehr abstrakten Predigten nicht nur auf Latein vor anderen Theologen oder Mönchen hielt, sondern auch auf Deutsch vor dem einfachen Volk, erregte den Unmut mancher Scholastiker. Man warf ihm vor, die Menschen nur zu verwirren, denn verstehen könnten sie ihn sowieso nicht. Schließlich musste er sich gar in einem Inquisitionsverfahren rechtfertigen, das nach seinem Tod weitergeführt wurde: 1329 verurteilte Papst Johannes XXII. die wesentlichen Aussagen Eckeharts in seiner Bulle In agro dominico. Diese Verurteilung war wohl der Hauptgrund dafür, dass das Werk Eckeharts bei anderen Mystikern der Zeit auf Ablehnung stieß; seine Texte waren fast nur noch im Geheimen lesbar. Sein Schüler Heinrich Seuse verteidigte ihn, wurde aber zurechtgewiesen, und in der Folge geriet Meister Eckehart weitgehend in Vergessenheit. Wenn Texte von ihm veröffentlicht oder zitiert wurden, dann ohne Angabe des Autors oder unter anderem Namen. Einige Schriften wurden unter dem Namen des Mystikers Johannes Tauler verbreitet. Vermutlich hat Martin Luther, dessen Theologie sich in einigen Punkten an Eckehart anlehnt, diese Texte gekannt.
Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurde Eckehart wiederentdeckt. Arthur Schopenhauer, Ernst Bloch und Martin Heidegger schätzten seine Lehren und knüpften an sie an. Bald wurde der Theologe auch von unterschiedlichsten politischen Strömungen vereinnahmt: Kommunistische Denker lobten seine Schriften, und von den Nazis, die das von Eckehart geforderte Aufgeben des eigenen Willens in ihrem Sinne umdeuteten, wurde er gar als der „größte Apostel des nordischen Abendlandes“ bezeichnet.
Über den Autor
Meister Eckehart wird wahrscheinlich um 1260 im thüringischen Hochheim geboren. Das genaue Geburtsdatum liegt ebenso im Dunkeln wie viele andere seiner Lebensdaten, die sich nur annähernd bestimmen lassen. Möglicherweise aus einer adligen Familie stammend, tritt Eckehart als Jugendlicher vermutlich in das Erfurter Dominikanerkloster ein und erhält dort seine weitere Ausbildung. Man geht davon aus, dass er in Köln ab 1280 an der Hochschule der Dominikaner studiert; vielleicht wird er dort sogar noch von Albertus Magnus unterrichtet. Um 1300 schickt ihn sein Orden an die Universität von Paris. Dort erwirbt er 1302 den Magistertitel in Theologie, bevor er nach Erfurt zurückkehrt. Eckehart wird Prior seines Klosters und zugleich Provinzial der sächsischen Ordensprovinz. In dieser Funktion ist er für die Überwachung aller Klöster des zugeordneten Gebiets verantwortlich. Um 1312 wird er wieder an die Pariser Universität berufen, wo er für ein Jahr einen Lehrstuhl innehat – eine große Ehre für einen Nichtfranzosen. In Straßburg wird Eckehart zum Generalvikar für die böhmische Provinz ernannt. 1323 beruft man ihn auf den theologischen Lehrstuhl der Ordenshochschule in Köln. Doch dort ereilt ihn sein Schicksal: Zwei Mitbrüder denunzieren ihn beim Kölner Erzbischof, dieser eröffnet im Sommer 1326 ein Inquisitionsverfahren gegen ihn. Grund: angeblich häretische (ketzerische) Aussagen. Eckehart verteidigt sich, kann seine Gegner aber nicht überzeugen. So legt er Berufung beim Papst selbst ein und reist persönlich zu ihm nach Avignon. Er widerruft öffentlich alle Irrtümer, die in seinen Schriften enthalten sein könnten, doch das Verfahren gegen ihn wird fortgesetzt – selbst nach Eckeharts Tod, der meist auf den Anfang des Jahres 1328 datiert wird. Erst im folgenden Jahr, am 27. März 1329, verkündet Papst Johannes XXII. das Urteil über Eckeharts Theologie: In der Bulle In agro dominico werden einige Thesen Eckeharts als Irrlehren verdammt, andere als „überaus übel klingend“ abgestempelt.
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