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Die Abstammung des Menschen

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Die Abstammung des Menschen

Kröner,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Dies ist nicht Darwins Hauptwerk – aber sein zweiter Streich, in dem er die Evolutionstheorie erstmals speziell auf den Menschen anwendet.


Literatur­klassiker

  • Naturwissenschaften
  • Moderne

Worum es geht

Der Mensch innerhalb der Evolutionstheorie

Charles Darwins Buch Die Entstehung der Arten war 1859 ein Paukenschlag, wie es ihn in der Geschichte der Wissenschaft vorher und nachher kaum gegeben hat. Seither spielt sich praktisch jede Diskussion unter Biologen vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie ab. Zahlreiche Wissenschaftler machten sich Darwins Thesen rasch zu eigen und vertraten sie energisch, während die Gegnerschaft sich vor allem aus weltanschaulichen Motiven speiste. Darwins Evolutionstheorie wurde, ohne dass er diese Möglichkeit besonders betont hätte, sofort auch auf den Menschen bezogen – und naturgemäß war dies der Punkt, an dem sich die Geister am erbittertsten schieden. Erst zwölf Jahre nach seinem Hauptwerk veröffentlichte Darwin Die Abstammung des Menschen. Das Buch ist die Anwendung der Evolutionstheorie auf die vermeintliche Krone der Schöpfung, aber Darwin erklärt darin nicht nur die physische Abstammung, sondern auch und sogar vorwiegend die des Verhaltens. Das Buch handelt vor allem davon, was den Menschen vom Tier unterscheidet und wo Ähnlichkeiten bestehen. Daher ist es auch für heutige Leser von Interesse. Darwin nimmt eine Einsicht vorweg, die sich erst in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt hat: Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist auf keinem Gebiet ein grundsätzlicher, sondern stets nur ein gradueller.

Take-aways

  • Die Abstammung des Menschen ist Charles Darwins Versuch, die Evolutionstheorie erstmals auf den Menschen anzuwenden.
  • In seinem Hauptwerk Die Entstehung der Arten klammert er den Menschen noch komplett aus.
  • Mit einer Fülle von Beobachtungen belegt Darwin seine These, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nie ein grundsätzlicher, sondern immer nur ein gradueller ist.
  • Die anatomischen Indizien dafür, dass der Mensch und höhere Tiere gemeinsame Vorfahren haben, sind erdrückend (Skelett, Organe, Muskel- und Nervenapparat).
  • Doch die Gemeinsamkeiten gelten nicht nur für körperliche Merkmale, sondern auch für geistige Eigenschaften.
  • So zeigen viele Tiere einen Schönheitssinn, der über die rein sexuelle Anziehung hinausgeht.
  • Tiere träumen und haben Gemütsbewegungen wie Ärger, Freude, Trauer, Wut, Neugier oder Ehrgeiz.
  • Tiere zeigen unterschiedliche Formen sozialen Verhaltens, was nahelegt, dass sie zumindest ansatzweise auch moralische Maßstäbe haben.
  • Manche Tiere weisen sogar Ansätze zu rein geistigen Fähigkeiten auf wie Ge-dächtnis, Sprach- und Abstraktionsvermögen.
  • Auch geistige Hervorbringungen des Menschen wie die Sprache zeigen verblüffende Parallelen zu den Mechanismen der Evolution.
  • Bei den zivilisierten Völkern ist die Wirkung der natürlichen Zuchtwahl laut Darwin inzwischen von kulturellen Elementen überlagert und aufgehoben worden.
  • Darwins Fazit: Zivilisierte Völker waren früher Barbaren, und der Mensch hat sich aus einer niederen Lebensform entwickelt.

Zusammenfassung

Wie sich der Mensch aus tiefer stehenden Formen entwickelt hat

Wer herausfinden will, ob sich der Mensch aus früheren Lebensformen entwickelt und entsprechend verändert hat, der wird zunächst untersuchen, ob für eine solche Abstammung und Entwicklung Indizien vorhanden sind, ob es Übereinstimmungen zwischen dem Menschen und dem Tierreich gibt. Also z. B., ob innerhalb der Art eine nennenswerte Variationsbreite vorhanden ist, sowohl im Hinblick auf den Körperbau als auch auf die geistigen Fähigkeiten, ob diese Abweichungen auch bei den Nachkommen auftreten und schließlich ob manche dieser Abweichungen, Missbildungen usw. sich als Rückschlag auf einen älteren Typus deuten lassen. Weiterhin gilt es zu untersuchen, ob der Mensch ebenso wie die Tiere sich in so starkem Maß vermehrt, dass daraus ein Kampf um die Existenz entsteht, ob nützliche Variationen, körperlicher oder geistiger Art, eher erhalten bleiben als schädliche und ob aus diesen Prozessen letzten Endes neue Rassen oder Arten hervorgehen können. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es wird sich zeigen, dass all diese Fragen für den Menschen in gleichem Maß bejaht werden können wie für die Tiere.

Körperbau

Der Mensch besitzt offensichtlich denselben Bauplan wie die anderen Säugetiere. Die Knochen seines Skeletts haben mit wenigen Ausnahmen ihre Entsprechung im Skelett eines Affen, einer Fledermaus oder eines Delfins; das Gleiche gilt für Blutgefäße, Nerven, Muskeln, innere Organe und das Gehirn. All dies deutet auf eine gemeinsame Abstammung. Dabei ist es interessant, noch auf einige Aspekte hinzuweisen, die weniger augenfällig sind als der Körperbau. So werden viele Tiere, nicht nur Affen, von denselben Krankheiten befallen wie der Mensch, was die große Ähnlichkeit von Blut und Gewebe beweist. Das gilt nicht nur für ansteckende Krankheiten, die vom Menschen auf das Tier überspringen und umgekehrt, sondern auch für Beschwerden wie Katarrh, Bauchfellentzündung oder den grauen Star. Auch haben berauschende Getränke, Tabak und andere Drogen bei vielen Tieren dieselbe Wirkung wie beim Menschen.

„Es ist oft mit größter Entschiedenheit behauptet worden, der Ursprung des Menschen werde immer in Dunkel gehüllt bleiben. Allein, Entschiedenheit wurzelt häufiger in Unwissenheit als im Wissen.“ (S. 3)

Ein starkes Argument für eine gemeinsame Abstammung sind weiterhin die Rudimente, die praktisch jedes höher entwickelte Tier besitzt, etwa die Brustdrüsen bei männlichen Vierfüßern oder die Körperbehaarung und die Weisheitszähne beim Menschen. Solche Rudimente entstehen dadurch, dass ein ursprünglich einmal notwendiges Organ nicht mehr gebraucht wird. Im menschlichen Körper befinden sich mehrere rudimentäre Muskeln, z. B. der Stirnmuskel, mit dem sich die Augenbrauen hochziehen lassen. Auch der Geruchssinn, der beim Menschen allgemein nur noch sehr schwach, aber mit starken individuellen Unterschieden entwickelt ist, ist ein Rudiment. All diese Phänomene sind nur so erklärlich, dass sich der Mensch aus einer früheren Form, die er mit anderen höheren Tieren teilt, entwickelt hat.

Die geistigen Fähigkeiten bei Mensch und Tier

Die Tatsache, dass der Mensch in seinen körperlichen Anlagen den Tieren so sehr ähnelt, wird nach Ansicht vieler damit wettgemacht, dass er sich in seinem Geist von den Tieren fundamental unterscheide. Es lässt sich jedoch zeigen, dass ein grundsätzlicher Unterschied dieser Art nicht besteht. Bei allen Tieren, auch bei den nie-dersten, ist zu beobachten, dass die Individuen in ihren geistigen Eigenschaften sehr stark voneinander abweichen; diese Variabilität ist eine der Grundvoraussetzungen für die natürliche Zuchtwahl und für die Entwicklung neuer Arten. Auch erleben viele Tiere bestimmte Gemütsbewegungen offensichtlich auf ähnliche Weise wie der Mensch: Freude und Schmerz, Glück und Trauer. Die meisten Tiere sind dankbar für Unterhaltung und Anregung und leiden unter Langeweile. Alle Tiere zeigen Ver-wunderung, viele auch Neugierde; Letztere gerät ihnen durchaus auch zum Nachteil, z. B. wenn sie sich von den Kunststücken anlocken lassen, die ein Jäger vorführt, um sie zu fangen.

Selbstbewusstsein und Abstraktionsfähigkeit

Inwieweit Tiere zur Abstraktion, zum Gebrauch von Symbolen und zu Selbstbe-wusstsein fähig sind, ist schwer zu entscheiden, weil wir keine Vorstellung davon haben, was in der Seele eines Tieres wirklich vorgeht. Zwar kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass kein Tier bewusst darüber nachdenkt, wer oder was es ist, ob es ein Leben nach dem Tod gibt und dergleichen; es bestehen aber Hinweise darauf, dass solche Fähigkeiten bei einigen Tieren zumindest in Ansätzen vorhanden sind. Tiere können andere Individuen erkennen und unterscheiden, d. h. sie haben einen gewissen Begriff von Individualität; Tiere besitzen ein Gedächtnis und können träumen, d. h. sie sind zu rein geistigen Erlebnissen fähig; Tiere verfügen über zumindest unbewusste Vorstellungen von Territorium, Besitz, Recht und Unrecht; und sie können planvoll vorgehen, was man z. B. an im Rudel jagenden Raubtieren sieht. Aus der Tatsache, dass die meisten dieser Fähigkeiten bei bestimmten Tieren trainiert und entwickelt werden können, lässt sich schließen, dass sie sich auch beim Menschen auf natürlichem Weg aus niederen Formen entwickelt haben können.

Sprache

Die Sprache gilt als etwas, was den Menschen vom Tier fundamental unterscheidet. Doch ist der Mensch nicht das einzige Lebewesen, das so etwas wie eine Sprache benutzt. Affen äußern sich mit einer Vielzahl verschiedener Laute, die spezifische Bedeutungen haben. Hunde können auf unterschiedliche Arten bellen und sich damit gezielt ausdrücken. Viele Tiere, vor allem Vögel und Affen, können Laute nachahmen, um Artgenossen zu warnen. Man kann sich vorstellen, dass diese Fähigkeit eines intelligenten affenähnlichen Tieres, das etwa das Brüllen eines Raubtieres nachahmte, um seine Gefährten vor der Bedrohung zu warnen, der Beginn der Sprache war. Erstaunlicherweise gibt es zahlreiche Parallelen zwischen der Herausbildung der verschiedenen Sprachen und der Entstehung der Arten. So beobachtet man bei Sprachen wie bei Arten sowohl Homologien, also Abänderungen eines Bauplans, als auch Analogien, also Anpassungen an spezielle Bedingungen. Bei Sprachen wie bei Arten finden wir die Verdoppelung als Anzeichen fortgesetzten Gebrauchs sowie Rudimente als Relikte einstigen Gebrauchs. Weitere Parallelen: Dominierende Sprachen und Dia-lekte tendieren dazu, sich weiter zu verbreiten, wodurch andere Sprachen aussterben. Ebenso wie die Sprachen untereinander einen Kampf ums Dasein führen, führen diesen innerhalb einer Sprache die einzelnen Wörter: Ständig tauchen neue Wörter auf, während andere verschwinden und wieder andere sehr beständig sind. Und: Eine Sprache, die einmal ausgestorben ist, kann ebenso wenig wieder zum Leben erweckt werden wie eine ausgestorbene Art.

Schönheitssinn

Dass bei vielen Tieren eine Art Schönheitssinn existiert, ist unbestritten. Man muss nur sehen, wie männliche Vögel den Weibchen ihr prächtiges Gefieder präsentieren oder wie manche Vögel, etwa Kolibris oder Kragenvögel, ihre Nester liebevoll ausschmücken. Allerdings scheint sich bei den meisten anderen Tieren die Wahrnehmung des Schönen auf die sexuellen Reize zu beschränken. Ob Vogelweibchen, die männliche Werbegesänge hören, eine Art von Vergnügen empfinden, ist schwer zu entscheiden. Unzweifelhaft ist aber, dass sie darauf reagieren, denn sonst wäre die Mühe des Männchens umsonst, und das lässt sich schwerlich an-nehmen. Auf jeden Fall lassen sich gewisse Gemeinsamkeiten darin finden, was Tiere und Menschen als schön empfinden: bestimmte Farben, bestimmte Gerüche, bestimmte Töne, ferner Symmetrie und regelmäßige Muster. Zweifellos aber ist kein Tier dazu fähig, eine schöne Aussicht, den Sternenhimmel oder ein ausgefeiltes Musikstück zu bewundern; dies ist die Folge von Kultur und Erziehung sowie von der Fähigkeit zu komplexen Assoziationen.

Religion

Wenn man unter Religion nicht nur festgelegte Rituale und den Glauben an einen personalisierten Gott, sondern im weiteren Sinn einen allgemeinen Glauben an höhere Kräfte versteht, lässt sie sich in Ansätzen schon bei den „Wilden“ ausmachen – womit man auch vermuten kann, wie Religion beim zivilisierten Menschen entstanden ist. Ebenso kann man das Verhältnis eines Hundes zu seinem Herrn ähnlich deuten wie das Verhältnis eines gläubigen Menschen zu Gott – es ist die völlige Unterordnung. In einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung wird der Mensch erstmals versucht haben zu begreifen, was um ihn herum geschieht. Und er wird natürlicherweise die Erscheinungen der Natur, wie er sie in den Tieren, den Pflanzen, dem Wetter usw. erlebte, als von Kräften beseelt empfunden haben, die im Wesentlichen dieselben Eigenschaften aufweisen wie er selbst: also Leidenschaft, Zorn, Ehrgeiz, Rachsucht usw. Je mehr er die Naturkräfte als mit diesen menschlichen Eigenschaften beseelt erlebte, umso stärker wird er sie auch mit personalisierten Kräften in Verbindung gebracht haben: mit einem oder mehreren Göttern.

Moral und soziale Tugenden

Es sind zweifellos die moralischen Fähigkeiten, die den Menschen am stärksten von den Tieren unterscheiden. Das Interessante dabei ist aber, dass die Vorstufen zur Moral – wie Brutpflege, Aufopferungsbereitschaft, Gerechtigkeitssinn – bei allen sozial lebenden Tieren in der einen oder anderen Weise zu beobachten sind. Es sind aber erst die intellektuellen Kräfte sowie die Möglichkeit, diese durch Sprache mit anderen zu teilen, die eine entwickelte Moral hervorbringen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde jedes Tier, das soziales Verhalten zeigt, auch moralische Maßstäbe und so etwas wie ein Gewissen entwickeln, wenn es dieselben intellektuellen Fähigkeiten erlangte wie der Mensch.

„Der Mensch ist ganz augenscheinlich nach demselben Typus gebaut wie die anderen Säugetiere. Alle Knochen seines Skelettes können verglichen werden mit den entsprechenden Knochen eines Affen, einer Fledermaus oder eines Seehundes. Ebenso ist es mit seinen Muskeln, Nerven, Blutgefäßen und Eingeweiden.“ (S. 5)

Die Tugenden, die es den Urmenschen ermöglicht haben, in Verbänden zusammenzu-leben, sind dieselben, die wir auch heute noch als die wichtigsten ansehen; dazu gehören vor allem der Verzicht auf Mord, Raub und Verrat. Dabei gelten diese Tugenden bei heutigen primitiven Stämmen – und das lässt sich auch von den Urstämmen annehmen – meist nur innerhalb des eigenen Stammes und nicht gegenüber Fremden. So ist es z. B. auch zu erklären, dass die Sklaverei, die für uns eindeutig ein Verbrechen ist, bis in die jüngste Zeit hinein auch von manchen hoch entwickelten Völkern als normal angesehen wurde. Der Grund liegt darin, dass die Sklaven meist anderen Rassen angehörten als die Herren. Das Beispiel zeigt deutlich, dass auch moralische Maßstäbe einer Entwicklung unterliegen.

„Die Vorfahren des Menschen müssen auch wie alle anderen Tiere die Neigung gehabt haben, über das Maß ihrer Existenzmittel hinaus sich zu vermehren; sie müssen daher gelegentlich einem Kampfe um die Existenz ausgesetzt gewesen sein, und infolgedessen dem strengen Gesetz der natürlichen Zuchtwahl.“ (S. 54)

Als Fazit lässt sich Folgendes festhalten: In dem Maße, in dem der Mensch in der Kultur fortschreitet und sich kleinere Stämme zu größeren Gemeinwesen vereinigen, kommt jeder Einzelne leicht zu der Überzeugung, dass seine sozialen Instinkte und Sympathien allen Mitgliedern seines Volkes zu gelten haben, auch denen, die er nicht persönlich kennt. Und das führt weiter zu der Überzeugung, dass diese Regung natürlicherweise auch auf die Menschen aller Rassen und aller Nationen auszudehnen ist.

Die natürliche Zuchtwahl bei zivilisierten Völkern

In einem Punkt unterscheiden sich die zivilisierten Völker von allen Tieren und von den meisten Primitiven: Sie setzen die natürliche Auslese außer Kraft. Sie bauen Heime für ihre Behinderten und versuchen auch das Leben der Schwachen so weit wie möglich zu verlängern; sie impfen sich gegen Krankheiten und verhindern dadurch, dass die Widerstandsfähigsten sich auf Kosten der Schwächeren durchsetzen. Diese Hilfe, die wir zivilisierten Menschen den Hilflosen angedeihen lassen, entspringt vor allem dem Instinkt der Sympathie; sie hat sich aber inzwischen auf eine Weise verselbstständigt, dass wir gar nicht mehr grob gegen sie verstoßen könnten, selbst wenn wir es wollten, oder nur, wenn dadurch ein größerer Schaden abzuwenden wäre.

„Da der Mensch dieselben Sinne wie die Tiere besitzt, müssen auch seine fundamentalen Empfindungen dieselben sein.“ (S. 80)

Im zivilisierten Stadium gibt es eine Menge widerstreitender Tendenzen, die den Gang der natürlichen Zuchtwahl in der einen oder anderen Richtung korrigieren und in der Summe meist aufheben. So werden z. B. gerade die besten und kräftigsten jungen Män-ner zum Militär eingezogen, dadurch dem Risiko eines frühen Todes ausgesetzt und im besten Alter am Heiraten gehindert, während die Schwächeren sich fortpflanzen können. Und Reiche und Erfolgreiche vererben ihren Kindern zwar mehr als andere, dafür aber gelangen die Kinder der Armen und Kurzlebigen schneller an ihr Erbe und haben dadurch wieder mehr Chancen usw. Interessanterweise scheint die natürliche Zuchtwahl bei den zivilisierten Völkern keinen Fortschritt der sozialen Tugenden mehr zu bewirken (das ist dann Sache der Kultur), obwohl diese doch ursprünglich so erworben worden sind. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass alle Völker, die wir heute als zivilisiert ansehen, aus barbarischen Vorstufen hervorgegangen sind. Und der Mensch als solcher hat sich, darauf weisen alle angeführten Indizien hin, aus einer niederen Lebensform entwickelt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Abstammung des Menschen umfasste ursprünglich drei Bände. Der erste befasste sich mit der allgemeinen Entwicklung des Menschen, der zweite erläuterte die geschlechtliche Zuchtwahl generell und der dritte speziell die des Menschen. Die vorliegende Ausgabe enthält nur den ersten Band. Darwin verkettete die geschlechtliche Auslese (d. h., dass Weibchen die stärksten Männchen zu Fortpflanzungszwecken auswählen) direkt mit seiner Theorie über die Abstammung des Menschen. Das ist heute so nicht mehr haltbar: Die von Generation zu Generation zunehmende Anpassung an den jeweiligen Lebensraum (die natürliche Auslese) spielt nach aktuellem Stand eine entscheidende Rolle. Der erste Band besteht aus sieben Kapiteln. Originell daran ist, dass Darwin sich nur zu einem kleineren Teil mit den körperlichen Aspekten der menschlichen Abstammung beschäftigt; hauptsächlich widmet er sich den sozialen, kognitiven und psychologischen Aspekten, also dem Verhalten. Der Stil ist recht modern und sachlich, die Gedanken werden meist sorgfältig entwickelt. Zwar wirkt die Argu-mentation bisweilen etwas umständlich und weitschweifig, dafür finden sich dann aber auch wieder glasklare Passagen. Dass Darwin in der Argumentation weniger auf statistische Daten als auf Beispiele und Beobachtungen zurückgreift (was die moderne Wissenschaft oft als „anekdotisch“ bezeichnet und entsprechend gering schätzt), entspricht dem damaligen Stand, denn die Biologie war seinerzeit als systematische Wissenschaft noch kaum entwickelt. In anderem jedoch wirkt Darwin sehr modern – nicht zuletzt in der Selbstverständlichkeit, mit der er Formulierungen wie „der Mensch und alle anderen Tiere“ gebraucht. Seine Theorie belegt er mit zahlreichen Fußnoten.

Interpretationsansätze

  • Die Abstammung des Menschen kann nicht ohne die zwölf Jahre zuvor erschienene Entstehung der Arten gesehen werden. Diese hatte die Biologie revolutioniert und Darwin heftigen persönlichen Angriffen ausgesetzt. In dem späteren Werk unternahm er den Versuch, die Evolutionstheorie speziell auf den Menschen anzuwenden.
  • Darwin musste erleben, dass die Theorie der natürlichen Auslese gegen seinen Willen auf das Gesellschaftsleben übertragen wurde, im so genannten „Sozialdarwinismus“. Davon grenzt sich Darwin klar ab, indem er feststellt, dass beim Menschen ab einem bestimmten Punkt die Kultur für die Arterhaltung und Entwicklung ausschlaggebend ist, nicht mehr die natürliche Auslese.
  • Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, dass Darwin die geistige Entwicklung des Menschen – Moral, Tugend, soziale Beziehungen, geistige Fähigkeiten – so ausführlich behandelt.
  • Großen Eindruck hinterlässt Darwins kompromisslose Haltung, dem Men-schen die angestammte Sonderrolle in der Schöpfung streitig zu machen und mit einer Fülle von Argumenten zu betonen, dass der Unterschied zwischen dem Menschen und den höheren Tieren nur ein gradueller und kein prinzipieller sei.
  • Darwin legte damit das geistig-moralische Fundament für den Tierschutz. Dieser humanitäre (bzw. eher „organismische“, weil auf alle Lebewesen bezogene) Aspekt seines Denkens wird wegen der missverständlichen Fixierung auf den „Kampf ums Dasein“ meist nicht wahrgenommen.
  • Was die Erforschung des Wann und Wie, der konkreten Abstammung des Menschen angeht, blieb das Werk relativ einflusslos, was aber vor allem an der geringen Zahl der damals bekannten Fossilfunde liegt, die keine sicheren Schlüsse zuließen.

Historischer Hintergrund

Der Streit um die Herkunft des Menschen

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts galten drei Dinge in Bezug auf die Schöpfung als ausgemacht. Erstens: Die Tier- und Pflanzenarten sind unveränderlich, nämlich so wie sie geschaffen wurden. Zweitens: Sie wurden von Gott geschaffen. Und drittens: Der Mensch hat eine ihm von Gott zugewiesene Sonderrolle. Alle drei Gewissheiten erschütterte Darwin nachhaltig mit seinem 1859 erschienenen Buch Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, in dem er mit der natürlichen Auslese erstmals einen überzeugenden Evolutionsmechanismus vorstellte. Die Folge waren gesellschaftliche und politische Verwerfungen beträchtlichen Ausmaßes, galt doch die christliche Schöpfungslehre nicht nur in Großbritannien als geistig-moralisches Fundament der Gesellschaft. In den Folgejahren legten mehrere andere Naturforscher Bücher vor, die sich mit der Abstammung und Entwicklung des Menschen befassten und die stark von der Evolutionstheorie beeinflusst waren. Die bekanntesten dieser Autoren waren in England der Geologe Charles Lyell, einer von Darwins Lehrern, und der Biologe Thomas Henry Huxley (auch bekannt als „Darwins Bulldogge“), einer der energischsten Kämpfer für die neue Lehre. In Deutschland exponierten sich zum Thema Abstammung des Menschen besonders der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel und der Biologe Carl Vogt. Sie bereiteten den Boden für Darwins Werk im deutschsprachigen Raum. Dieses unterscheidet sich jedoch von denjenigen der anderen Autoren durch einen eigenen Blickwinkel und einen breiteren Ansatz; so erklärt Darwin nicht nur die physische Abstammung, sondern auch die Evolution des Verhal-tens.

Entstehung

Charles Darwin hatte der Herkunft des Menschen seit mehreren Jahren eher nebenbei seine Aufmerksamkeit gewidmet – dabei drängte sich das Thema als besonderer Aspekt seiner Evolutionstheorie förmlich auf. Doch er war nach der Publikation seines Hauptwerks Die Entstehung der Arten im Jahr 1859 von den öffentlichen Anfeindungen verunsichert, weshalb er sich mit weiteren Veröffentlichungen zunächst zurückhielt. In der Einleitung zu Die Abstammung des Menschen bekennt er: „Viele Jahre hindurch habe ich Notizen über den Ursprung oder die Abstammung des Menschen gesammelt, ohne die Absicht, etwas darüber zu veröffentlichen; ich war im Gegenteil entschlossen, nichts davon in die Öffentlichkeit zu bringen, weil ich fürchtete, damit nur die Vorurteile gegen meine Ansichten zu vermehren.“ Er lässt dann aber durchblicken, dass die enorme Wirkung seines Hauptwerks sowie die Tatsache, dass andere Autoren Bücher zum Thema vorgelegt hatten, seine Entscheidung beschleunigt hätten. Auch der wirtschaftliche Erfolg seines Erstlings ließ eine Fortsetzung angeraten scheinen. Dies alles führte zur Veröffentlichung von Die Abstammung des Menschen im Jahr 1871.

Wirkungsgeschichte

Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, dass Darwin ein eigenes Buch zur Abstammung des Menschen vorlegte, wo doch schon Die Entstehung der Arten die Herkunft des Menschen implizierte – was auch von aller Welt so aufgefasst wurde, man denke nur an die unzähligen Karikaturen, die Darwin selbst als Affen zeigen. Tatsächlich aber spricht Darwin das Thema in seinem Hauptwerk nur mit einem einzigen lakonischen Satz an: „Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte.“ Dennoch lässt sich die Wirkung, die Die Abstammung des Menschen entfaltete, nicht von dem seit 1859 tobenden Dauerstreit um die Evolutionstheorie trennen; Gegner und Anhänger waren jeweils dieselben. Die Frage, die die Gemüter bei beiden Büchern am meisten bewegte, war ja eben die, ob der Mensch nun von einem affenähnlichen Vorfahren abstamme oder nicht. Ein wichtiger Kritikpunkt der Gegner lag in der Tatsache, dass Darwins Evolution keinen göttlichen Plan brauchte und den Menschen nicht als Ziel einer gewollten Entwicklung sah, sondern als mehr oder weniger zufälliges Zwi-schenprodukt. Wie bereits Die Entstehung der Arten wirkte auch Die Abstammung des Menschen stark auf einige zeitgenössische Naturforscher.

Worin das Buch bis zum heutigen Tag Maßstäbe gesetzt hat, ist die differenzierte Argumentation, dass zwischen dem Menschen und den Tieren keine unüberwindliche Grenze besteht, sondern nur ein gradueller Unterschied. In welchem Bereich auch immer eine Sonderrolle des Menschen postuliert wurde – Werkzeuggebrauch, Kultur, Sprachvermögen, Selbstbewusstsein, Transzendenz –, stets hat sich herausgestellt, dass Tiere über alle diese Fähigkeiten zumindest in Ansätzen auch verfügen. Es ist Darwins Verdienst, dies als Erster überzeugend dargestellt zu haben. Er legte das geistig-moralische und argumentative Fundament für den Tierschutz und die Tierrechtsdebatte. Dass Tiere heute nicht mehr ausschließlich als Sache betrachtet werden und der Tierschutz in manchen Staaten mittlerweile sogar in der Verfassung verankert ist, geht letzten Endes auf Darwin zurück. Seine Theorie enthält auch politischen Zündstoff. In den USA schwelt seit Jahrzehnten ein erbitterter Streit darüber, ob die Evolutionstheorie in den öffentlichen Schulen gelehrt werden dürfe oder nicht. Konservative Politiker präsentieren als Alternative die – unwissenschaftliche – Theorie des „intelligenten Designs“: ein höheres Wesen (z. B. ein Gott) habe den Menschen erschaffen. Darwin wird noch lange polarisieren.

Über den Autor

Charles Darwin wird am 12. Februar 1809 in der Nähe von Shrewsbury in Mittelengland geboren. Der junge Charles beschäftigt sich viel mit der Natur, etwa indem er mit Hingabe Käfer sammelt. Ab 1825 studiert er in Edinburgh Medizin, gibt das Stu-dium aber bald wieder auf und wechselt nach Cambridge zur theologischen Fakultät. Dort studiert er jedoch vor allem Naturwissenschaften, u. a. bei dem Botaniker John Stevens Henslow. Dieser empfiehlt den begabten, aber als Forscher weitgehend unerfahrenen Darwin für die Weltreise mit der „HMS Beagle“. Sie hat den Auftrag, vor allem die südamerikanischen Küsten zu erforschen. Die Reise der „Beagle“ dauert von Dezember 1831 bis Oktober 1836. Darwin nutzt jede Gelegenheit, an Land zu gehen, geologische Studien zu betreiben, Fossilien zu sammeln, die Tierwelt zu erforschen und Proben aller Art mitzunehmen. Nach der Rückkehr steht die Auswertung des reichhaltigen Materials an. Darwin veröffentlicht 1839 zunächst einen wis-senschaftlichen Bericht über die Reise der „Beagle“. Im selben Jahr heiratet er seine Kusine Emma Wedgwood. Sie haben zehn Kinder, von denen drei noch im Kindesalter sterben. Darwins geerbter Wohlstand erlaubt es ihm, sich ganz seiner Arbeit zu widmen. Während mehr als 20 Jahren entsteht allmählich seine Evolutionstheorie. Darwin häuft Indiz auf Indiz und schreckt doch davor zurück, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen: Sie würden zweifellos einen Skandal verursachen. Erst als der junge Naturforscher Alfred Russell Wallace in Südostasien zu den gleichen Schlussfolgerungen kommt wie Darwin, sieht dieser sein Lebenswerk in Gefahr und entschließt sich zur Publikation. The Origin of Species (Die Entstehung der Arten) erscheint 1859 und schlägt ein wie eine Bombe. Kirchen und konservative Kreise sind entsetzt, während viele Naturforscher die neue Lehre relativ rasch annehmen, kritisch hinterfragen und weiterzuentwickeln versuchen. Darwin stirbt am 19. April 1882 in Downe (heute zu London gehörig) und wird in der Westminster Abbey begraben.

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    S. D. vor 5 Jahren
    Gut geschrieben das Abstract, aber hat Darwin in dem Buch wirklich schon übers Impfen oder Behindertenheime geschrieben? Das scheint mir vielleicht eher der Fantasie des Schreibers oder der Schreiberin zu entstammen, aber ich lasse mich gerne anders überzeugen. <br> <br>Nur habe ich häufiger das Gefühl, dass nicht wirklich so eng am Text gearbeitet wird, sondern häufig auch malfrei interpretiert

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