Ivo Andrić
Die Brücke über die Drina
Eine Chronik aus Višegrad
Paul Zsolnay Verlag, 2011
Was ist drin?
Die Chronik eines Konflikts und zugleich ein Roman über die Chance auf Versöhnung.
- Roman
- Moderne
Worum es geht
Eine Brücke zwischen zwei Welten
Jahrhundertelang tobten auf dem Balkan Kämpfe zwischen Türken und Serben, Muslimen und Christen, Österreichern und Serben, Österreichern und Türken. Es scheint, als könnte diese Region einfach nicht zur Ruhe kommen. Auch noch nach der letzten großen Eskalation Anfang der 90er Jahre, dem Balkankrieg nach dem Zerfall Jugoslawiens, flammten immer wieder Auseinandersetzungen um Staatsgrenzen auf. Welche historischen Entwicklungen haben zu diesem instabilen Gefüge geführt? Ivo Andrićs Roman Die Brücke über die Drina bietet zwar keine endgültigen, aber doch eindrückliche Antworten auf diese Fragen. Er stellt ein geschichtsträchtiges Bauwerk in den Mittelpunkt und erzählt verschiedene Schicksale, die über die Jahrhunderte damit verbunden sind. Er erlaubt dem Leser einen tiefen Blick in die Psyche eines ganzen Landstrichs und in die Höhen und Tiefen von dessen Geschichte. Mit ihrer lebendigen und fesselnden Erzählweise ist Die Brücke über die Drina nicht nur die Chronik eines Konflikts, sondern vor allem ein lesenswertes Stück Literatur, aus dem immer auch die Hoffnung auf Versöhnung spricht.
Take-aways
- Die Brücke über die Drina ist der bekannteste Roman des jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andrić.
- Inhalt: Eine Brücke in der Stadt Višegrad verbindet über Jahrhunderte hinweg den Orient mit dem Okzident. Verschiedene Bevölkerungsgruppen leben dort mehr oder weniger friedlich nebeneinander. Doch die Konflikte zwischen ihnen nehmen zu. Schließlich wird die Brücke im Ersten Weltkrieg gesprengt.
- Das Buch ist kein Roman im eigentlichen Sinn, da es weder eine Hauptfigur noch eine kontinuierliche Entwicklung von Charakteren gibt. Die eigentliche Heldin ist die Brücke.
- Im Mittelpunkt des Romans steht der Versuch, die uralten Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Christentum und Islam, in Worte zu fassen.
- Die Chronik beruht auf historischen Tatsachen, die der Autor aber relativ frei gestaltet.
- Als Kroate geboren, in Bosnien aufgewachsen und später in Serbien wohnhaft, war Andrić zeit seines Lebens ein überzeugter Anhänger des jugoslawischen Staates.
- Er schrieb den Roman während der Besetzung Belgrads durch die Deutschen.
- Für die Niederschrift durchforstete er Unmengen an historischen Aufzeichnungen.
- 1961 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
- Zitat: „Und schnell und leicht fanden sie sich mit dem Gedanken ab, dass der Weg über die Brücke nicht mehr in die Welt führte und die Brücke nicht mehr war, was sie früher gewesen war: die Verbindung des Ostens mit dem Westen.“
Zusammenfassung
Die Brücke
Die Stadt Višegrad wird vom Fluss Drina in die Innenstadt und die Vorstadt geteilt. Die beiden Hälften sind durch eine steinerne Brücke verbunden, um die herum sich der Ort entwickelt hat. Die Brücke ist 250 Schritte lang und zehn Schritte breit, sie hat elf Bögen. In der Mitte weitet sie sich. Auf diesem Stück, der so genannten Kapija, spielt sich seit Jahrhunderten der Großteil des sozialen Lebens der Stadt ab. Alle Einwohner kennen die Geschichten, die sich um das Bauwerk ranken. Meist beruhen sie auf einem wahren Kern.
Der Bau der Brücke
Das Schicksal der Stadtbewohner ist seit Jahrhunderten mit der Brücke verbunden. Deren Geschichte beginnt im Jahr 1516. Zu dieser Zeit muss man noch mit einer Fähre zum anderen Ufer übersetzen. Eines Tages kommt eine Gruppe Janitscharen mit in Ostbosnien entführten christlichen Kindern an, die dem Sultan dienen sollen. Unter ihnen ist auch ein Junge, der im türkischen Reich als Großwesir Mehmedpaša Sokoli Karriere machen und den Bau der Brücke in Auftrag geben wird, um den Osten mit seiner Heimat Bosnien zu verbinden. Die Aufsicht über den Bau übernimmt der unnachgiebige Abidaga, der die Anwohner zur Fronarbeit zwingt und sie so sehr auslaugt, dass einige Višegrader die Brücke zu sabotieren beginnen. Sie setzen das Gerücht in die Welt, die Wassernixe wolle den Bau verhindern. Abidaga erteilt den Befehl, den Schuldigen zu finden. Die Wachen ertappen schließlich den Bauern Radisav auf frischer Tat. Abidaga statuiert ein Exempel, indem er ihn mitten auf der Brücke pfählen lässt.
„An dieser Stelle, wo die Drina mit dem ganzen Gewicht ihrer Wassermassen, grün und schäumend, aus dem scheinbar geschlossenen Massiv der schwarzen und steilen Berge hervorbricht, steht eine große, gleichmäßig geschnittene Brücke aus Stein mit elf weit gespannten Bögen.“ (S. 1)
Das allgemeine Entsetzen über die grausame Hinrichtung führt jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis: Radisav wird zum Märtyrer, um den sich bald zahlreiche Legenden ranken. Schließlich reist Abidaga für den Winter ab – und kehrt nicht wieder zurück. Sein Auftraggeber hat von seinen Untaten erfahren, ihn verbannt und einen neuen Aufseher ernannt. Nach fünf Jahren ist der Bau abgeschlossen und die Brücke wird mit einem großen Fest eröffnet. Mehmedpaša Sokoli aber wird sein Werk nie sehen: Kurz nach dessen Fertigstellung wird er in Istanbul erstochen.
Hochwasser
Die Drina tritt zwar regelmäßig über die Ufer, doch nur alle 20 bis 30 Jahre sucht ein verheerendes Hochwasser die Stadt heim. Diese Ereignisse prägen sich allerdings so sehr im kollektiven Gedächtnis ein, dass sie zu Fixpunkten der Geschichte werden, die man zu späteren Ereignissen in Beziehung setzt. Ein solches Hochwasser gibt es auch Ende des 18. Jahrhunderts. Alle Einwohner retten sich auf den Hügel in den höher gelegenen Teil der Stadt und finden Zuflucht in den Häusern ihrer Mitbürger – ganz gleich, ob sie Moslems, Christen oder Juden sind. Sie verbringen die Nacht, indem sie sich gegenseitig mit komischen Geschichten ablenken. Am nächsten Morgen sehen sie, dass das Wasser beinahe die gesamte Stadt zerstört hat. Nur die Brücke ist völlig unbeschadet.
Das Blockhaus
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kommt es in Serbien zu Aufständen gegen die türkische Herrschaft, die schließlich bis nach Višegrad reichen, wo Türken und Serben bisher mehr oder weniger friedlich zusammengelebt haben. Soldaten werden in der Stadt stationiert und errichten auf der Brücke ein Blockhaus, um Reisende zu kontrollieren und Aufrührer zu fassen. Gleich am ersten Tag nach Errichtung des Blockhauses nehmen die Wachen einen Betbruder fest, der den Fehler macht, den Soldaten von seiner Hoffnung auf ein serbisches Reich zu erzählen. Er wird zusammen mit einem Müllersohn, der ein verbotenes Lied gesungen hat, als erstes Opfer des Blockhauses hingerichtet und ihre Köpfe werden auf der Brücke aufgespießt – genau wie unzählige weitere in den folgenden Jahren. Erst lange nach dem Abklingen der Unruhen wird das Blockhaus durch ein Feuer zerstört und auf der Kapija zieht wieder Leben ein.
Eine neue Zeit bricht an
Die alte Verwaltungsbezirksgrenze in der Nähe der Stadt beginnt sich Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend in eine Staatsgrenze zu verwandeln, als sich das türkische Reich immer weiter zurückzieht. Nun wird auch den Višegradern klar, dass ihnen große Veränderungen bevorstehen. Im Jahr 1878 hat es den Anschein, als wolle der Sultan Bosnien kampflos den Österreichern überlassen. In der Bevölkerung regt sich Widerstand. Aufständische unter der Führung des hitzigen Osman Efendi Karamanlija suchen in Višegrad nach Unterstützern. Dort treffen sie jedoch auf den wortgewandten Geschäftsmann Alihodža, der überzeugt ist, dass Karamanlija sie alle in einen sinnlosen Tod führen wird. Alihodža setzt sich durch und die Aufständischen verlassen die Stadt, als sich die Österreicher dem Fluss nähern. Karamanlija lässt jedoch zuvor Alihodža festnehmen und ihn am Ohr an der Brücke festnageln, damit er die Fremden so empfangen kann. Alihodža wird schließlich von Sanitätern des Roten Kreuzes befreit. Bosnien wird offiziell vom österreichischen Kaiser in Besitz genommen und der örtliche Befehlshaber lässt sich von den Vertretern der drei Religionen zusichern, dass die Stadt kooperiert. Der Bevölkerung wird in einer Proklamation garantiert, dass, solange sie sich ruhig verhält, niemandem geschadet wird.
„Daher ist die Erzählung vom Werden und Geschick der Brücke gleichzeitig auch eine Erzählung vom Leben der Stadt und ihrer Menschen, von Generation zu Generation (...).“ (S. 20 f.)
Die Stadt verändert sich unter den Besatzern, die von den Einwohnern nur „Schwaben“ genannt werden, merklich. Die Neuankömmlinge vermessen und planen, später reißen sie Gebäude ab und errichten neue, effizientere Bauten. Dieses Verhalten widerspricht völlig der althergebrachten Lebensweise. Diese wird nun in neue Verordnungen gepresst. Auch das Leben auf der Brücke ändert sich: Sie wird nun täglich gefegt und nachts wird sie von einer Laterne erleuchtet. Es kommt sogar immer öfter vor, dass Frauen auf der Kapija verweilen, die bisher den Männern vorbehalten war. Dann lassen die Besatzer die Häuser nummerieren und die Bevölkerung zählen. Die Višegrader macht das misstrauisch. Sie leisten passiven Widerstand, indem sie die Hausnummern überstreichen oder ein falsches Alter angeben. Zwei Jahre später beginnt die Rekrutierung. Als die Männer nach zweijähriger Dienstzeit in gutem Zustand zurückkehren, schwindet der anfängliche Widerstand gegen den Wehrdienst.
„Bunt gemischt Muslime, Christen und Juden. Die Naturgewalt und die Last des gemeinsamen Unglücks brachten diese Männer einander näher und überbrückten wenigstens für diese Nacht die Kluft, die den einen Glauben vom anderen trennte (...)“ (S. 106)
Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts bringt Österreich eine Phase der Stabilität und des Wohlstands. Die Untertanen bekommen das Gefühl, ein freieres und luxuriöseres Leben zu führen. In Višegrad eröffnen neue Geschäfte und ein zugezogener Jude baut an der Brücke ein Hotel, das von seiner tatkräftigen und schönen Schwägerin, der Witwe Lottika, geführt wird. Hier treffen sich die Jugend und die wohlhabenderen Bewohner der Stadt. Lottika hat alles fest im Griff, verdient gut und unterstützt mit dem erwirtschafteten Geld ihre Familie und Bedürftige.
Große Veränderungen
Etwa 20 Jahre nach Beginn der Besatzung fangen die Österreicher damit an, die Brücke von Grund auf zu sanieren. Die meisten Einwohner halten nicht viel von der Sanierung, am wenigsten der verbitterte Alihodža, der überzeugt ist, dass die Ausbesserung nur böse Folgen haben kann. Nach dem Ende der Arbeiten wird eine neue Wasserleitung gelegt und schließlich eine Eisenbahnlinie gebaut. Diese macht die alte Straße nach Sarajevo und damit die Brücke überflüssig. Ihre Rolle als beispielhafte Verbindung zwischen Ost und West ist Geschichte.
„Solche Menschen, von denen man singt und spricht, werden bald von ihrem besonderen Schicksal davongetragen und hinterlassen statt eines erfüllten Lebens Lieder und Legenden.“ (S. 148 f.)
Auf zwei Regimewechsel in Serbien und der Türkei folgt eine Proklamation des Kaisers: Bosnien und Herzegowina werden endgültig dem Kaiserreich unterstellt, sie erhalten eine eigene Landesvertretung und Verfassung, und ihre Einwohner sollen in ihren Rechten allen anderen Bürgern gleichgestellt werden. Bald darauf treffen Truppen in der Stadt ein, die neue Befestigungen bauen und in die Mitte der Brücke ein Loch hauen. Dort wird offenbar Sprengstoff deponiert, damit die Brücke im Kriegsfall zerstört werden kann. Alihodža will das zunächst nicht glauben – schließlich ist die Brücke ein unantastbares Vermächtnis des Wesirs an die Allgemeinheit –, doch ein Soldat bestätigt seine Befürchtung.
Politik
Mit der Eisenbahn und der zunehmenden Beschleunigung des Alltags machen sich auch neue Ideen in der Stadt breit. Die jungen Leute treffen sich auf der Brücke, unter ihnen auch der Student und Redner Stiković, ein leidenschaftlicher Nationalist, und der einfache Schreiber Glasinčanin, der meist ruhig zuhört. Glasinčanin ist in die Lehrerin Zorka verliebt, die eine Affäre mit Stiković hat. Nach einer Diskussion auf der Brücke mit mehreren anderen bleiben Stiković und Glasinčanin zurück. Stiković doziert über die nationale Bewegung, die er mit Feuereifer vertritt, während Glasinčanin meint, dass der Streit der Intellektuellen völlig am Leben und Alltag der Menschen vorbeigehe und dass Stikovićs Eifer keinem höheren Ziel, sondern nur seiner eigenen Eitelkeit diene.
„Der Mufti wusste, dass die Višegrader niemals den Ruhm genossen hatten, begeisterte Krieger zu sein, und dass sie ein verrücktes Leben einem verrückten Sterben vorzogen (...)“ (S. 162)
Lottika führt das Hotel an der Brücke nun schon seit mehr als 20 Jahren, doch seit einiger Zeit laufen die Geschäfte schlecht. Die alten Gesetze der Wirtschaft und des Lebens gelten nicht mehr. Die neuen, komplizierten Verhältnisse werden von vielen unter dem Begriff „Politik“ zusammengefasst. Lottika hat bei Aktiengeschäften Geld verloren und kann im Unterschied zu früher die Bedürftigen nicht mehr unterstützen. Ihre Investitionen in die arme Verwandtschaft blieben auch erfolglos: Eine junge Pianistin hat sich das Leben genommen und ein Anwalt wurde Sozialist. Lottika ist alt und müde, dennoch leitet, organisiert, hilft und berät sie weiter.
Kriegsbeginn
Das Jahr 1914 ist von allen Jahren, die die Brücke über die Jahrhunderte sieht, das ungewöhnlichste und unvergesslichste. Der Sommer dieses Jahres ist wunderschön und besonders ertragreich. Das Višegrader Tal strotzt nur so vor Fruchtbarkeit. Die Lehrerin Zorka muss einsehen, dass ihr Traum von einer Beziehung zu Stiković eine falsche Hoffnung war, und findet Trost in der wieder aufgenommenen Freundschaft zu Glasinčanin, der sie noch immer liebt und geduldig auf sie wartet.
„Wohin führt das und wo wird es ein Ende haben? Wer sind und was wollen diese Fremden, die, so scheint es, weder Ruhe noch Atempause, noch Maß und Grenzen kennen?“ (über die Österreicher, S. 200)
Im Juni treffen sich die serbischen Vereine zu einem Fest. Plötzlich wird die Feier von Gendarmen unterbrochen, mit der Nachricht, dass in Sarajevo der österreichische Thronfolger und seine Frau ermordet wurden. Glasinčanin verlässt heimlich Višegrad, um sich den serbischen Truppen anzuschließen. Zorka weiß, dass sie ohnehin keine gemeinsame Zukunft gehabt hätten. Österreich erklärt Serbien den Krieg und ein Schutzkorps aus Trunkenbolden und Tagedieben wird eingerichtet, um die Serben zu verfolgen. Bald darauf finden die ersten Hinrichtungen auf dem Markt statt. Ständig kommen neue Truppen in die Stadt – dann fallen die ersten Granaten.
Rückzug
Die Menschen ziehen sich in die höher gelegenen Viertel zurück, wie beim Hochwasser, nur dass Serben und Muslime jetzt streng getrennt sind. Die Stadt ist wie ausgestorben, die Läden sind nur selten geöffnet. Die Serben finden sich stumm vor Entsetzen zusammen, etwa im Haus von Mihailo Ristić, der sie alle zu beruhigen und aufzuheitern versucht. Lottika hat derweil mit ihrer Familie das Hotel verlassen: Sie ziehen in ein leer stehendes Haus am anderen Ufer der Drina. Dort verliert sie kurz darauf den Verstand. Der angesehene Pavle Rancović wird, wie andere Serben auch, als Geisel genommen. Der Befehl lautet, Pavle zu erschießen, sollte jemand versuchen, die Brücke zu beschädigen. Er kann nicht fassen, dass das der Lohn für ein Leben voller Rechtschaffenheit, harter Arbeit und Sparsamkeit sein soll. Ende September werden die Bewohner aufgefordert, die Stadt zu verlassen, dann zieht sich auch das Militär zurück.
Der Angriff auf die Brücke
Die Österreicher haben die Stadt beinahe vollständig verlassen; eine letzte Patrouille trifft Alihodža vor seinem Laden. Er verspricht, auch bald zu gehen, schließt sich dann aber in seiner Kammer ein, wohin er sich schon seit Jahren gern zurückzieht. Kurz darauf kommt es zu einer Explosion, das Haus wird von einem Felsbrocken getroffen und der Laden verwüstet. Alihodža kann sich aus den Trümmern befreien und erkennt, dass die Brücke gesprengt wurde. Die serbischen Truppen haben die Stadt übernommen. Alihodža ist tief erschüttert und fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt. Er wundert sich, was für Menschen etwas so Schönes und Nützliches wie die Brücke zerstören können. Alihodža macht sich auf den Weg zu seinem Haus auf den Hügel, doch er wird es nicht erreichen: Sein Herz versagt, bevor er ankommt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Ivo Andrić erzählt in Die Brücke über die Drina die Geschichte der Stadt Višegrad, die seit dem 16. Jahrhundert untrennbar mit der Geschichte der Brücke verbunden ist. In 24 Kapiteln entfaltet der Autor verschiedene Episoden aus rund 400 Jahren, wobei der Schwerpunkt klar auf der Zeitspanne zwischen der vorletzten Jahrhundertwende und 1914 liegt. Ausgangspunkt für die verschiedenen Erzählungen sind meist in der Gegend bekannte Legenden, deren Ursprung der Autor offenlegt. In drastischen Bildern führt er vor, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, wie sie sich gegenseitig mit ihrem Hass anstecken und die Gesetze der Moral verwerfen, aber auch, wie selbst in dieser von Konflikten zerrissenen Gegend Gesten der Menschlichkeit und Versöhnung möglich sind. Etliche der zahlreichen Figuren bleiben dem Leser in Erinnerung. Die Brücke über die Drina ist, wie der Untertitel schon ankündigt, eher eine Chronik als ein Roman im eigentlichen Sinn: Es gibt weder eine Hauptfigur noch eine kontinuierliche Entwicklung von Charakteren. Die Kontinuität wird jedoch durch die eigentliche Heldin des Werks, die Brücke, geschaffen: Sie verbindet die schillernden Persönlichkeiten und bewegenden Geschichten aus vier Jahrhunderten.
Interpretationsansätze
- Im Mittelpunkt des Romans steht der Versuch, die jahrhundertealten Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident, zwischen Christentum und Islam, greifbar zu machen. Die Brücke symbolisiert das Verbindende zwischen diesen Kulturen – bis sich am Ende mit ihrer Zerstörung das Trennende durchsetzt.
- Andrić gibt dem Leser eine Deutungshilfe für die noch immer andauernden Konflikte auf dem Balkan an die Hand und erklärt, wie es zu diesem instabilen Gefüge kam, zu diesem, wie es im Roman heißt, „großen und seltsamen Kampf, der in Bosnien jahrhundertelang zwischen beiden Religionen und, unter dem Deckmantel der Religion, um das Land, die Macht und die eigene Lebensauffassung und Weltordnung geführt wurde“.
- Die Sympathien des Autors gehören der orientalisch geprägten Lebensart, dem Laisser-faire der alten Zeiten, denen die bürokratische Pedanterie und der Arbeitseifer der westlichen Besatzer gegenübergestellt werden. Die meisten durch die österreichische Besatzung angestoßenen Veränderungen werden aus der Sicht des muslimischen Kaufmanns Alihodža beschrieben.
- Statt aber die orientalische oder die österreichische Phase zu verklären oder zu verdammen, stellt Andrić Vor- und Nachteile beider „Besatzer“ einander gegenüber. Dabei zeigt er sich immer als Befürworter einer multiethnischen Staatslösung, argumentiert also bereits mit Hinblick auf den jugoslawischen Staat, in dem er selbst lebte.
- Die Chronik beruht auf historischen Tatsachen, die der Autor aber mehr oder weniger frei gestaltet. Vor allem im ersten Teil des Buches, der die Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert umfasst, bilden häufig lokale Legenden und märchenhafte Erzählungen die Grundlage für seine Berichte, so etwa das Kindermärchen vom schwarzen Mann in der Brücke. Dieser entpuppt sich als Arbeiter afrikanischer Herkunft, der beim Bau der Brücke umgekommen ist. Immer wieder geht es im Roman um die Entstehung von Legenden und um die Frage: Wie verarbeiten die Menschen Erlebnisse und wie gehen diese ins kollektive Gedächtnis über?
Historischer Hintergrund
Bosnien und Herzegowina 1463–1914
Bosnien-Herzegowina befindet sich auf der Westseite der Balkanhalbinsel und grenzt an die Nachbarstaaten Kroatien, Serbien und Montenegro. Die ursprünglich slawisch besiedelte Region wurde 1463 vom Osmanischen Reich erobert und stand als eine seiner wichtigsten Provinzen bis ins späte 19. Jahrhundert unter seiner Aufsicht. Indem Moslems angesiedelt und Übertritte zum Islam gefördert wurden, stieg der Anteil der muslimischen Bürger rasant. Dennoch blieb etwa die Hälfte der Bewohner serbisch-orthodox. Daneben lebten immer auch katholische und jüdische Minderheiten in dem Gebiet. Die Möglichkeit von Aufstiegschancen am Hof und in der Verwaltung des Sultans beförderte die Verbreitung der orientalischen Kultur.
Nachdem Österreich bereits mehrfach vergeblich versucht hatte, die Gegend zu erobern, bekam das Kaiserreich schließlich Ende des 19. Jahrhunderts seine Chance: Der Niedergang des Osmanischen Reiches und seine Schwächung durch mehrere Aufstände der bosnischen Serben ermöglichten es, das Land zu besetzen und den Widerstand muslimischer Partisanen zu zerschlagen. Auf dem Berliner Kongress 1878 wurden Bosnien und Herzegowina zusammen mit anderen Gebieten der Herrschaft des österreich-ungarischen Kaiserreichs unterstellt. Das Schulwesen wurde ausgebaut, neue Verkehrswege wurden geschaffen und die medizinische Versorgung wurde verbessert. Die Bodenschätze und die Wälder der Region wurden gewinnbringend genutzt. Es gab zwar in Bosnien immer wieder Bestrebungen, einen eigenständigen Staat aufzubauen, diesen Plänen fehlte jedoch der Rückhalt in der äußerst heterogenen Bevölkerung.
Der militante Nationalist Gavrilo Princip erschoss 1914 in Sarajevo den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie: Dieses Attentat gilt heute als Auslöser des Ersten Weltkriegs. Nach dessen Ende wurden Bosnien und Herzegowina dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dem späteren Jugoslawien, einverleibt.
Entstehung
Ivo Andrić schrieb Die Brücke über die Drina während des Zweiten Weltkriegs, in den Jahren nach dem Einmarsch der Deutschen in Jugoslawien. Er legte das Werk zusammen mit zwei weiteren, der Chronik Wesire und Konsuln und dem Roman Das Fräulein, kurz nach der Gründung des jugoslawischen Staates 1945 vor.
Seine Informationen fand Andrić in uralten Aufzeichnungen, Kirchenbüchern und osmanischen Verwaltungsakten, die er z. T. schon für seine Dissertation im Jahr 1924 studiert hatte. Für den zweiten Teil des Buches, der die Jahrhundertwende und die Zeit bis 1914 umfasst, konnte er sich zweifelsohne auf genauere Daten stützen, die seiner Ausgestaltung engere Grenzen setzten.
Wirkungsgeschichte
Die Brücke über die Drina ist Andrićs wohl bekanntestes Werk. Es erfüllt seinen lebenslangen Anspruch, sowohl die Unterschiede der Balkanvölker herauszustellen, als auch ihre Versöhnung zu fördern, am eindrücklichsten. Andrić wurde für sein Werk in Jugoslawien mehrfach geehrt und zählt heute zu den bekanntesten Autoren der Region. Die neuere Forschung sieht das Bild der Türken in Andrićs Werken, insbesondere vor dem Hintergrund abfälliger Äußerungen in seiner Dissertation, kritisch. Eine endgültige Klärung steht noch aus. Man mag argumentieren, dass Andrić zumindest in Die Brücke über die Drina die versöhnlichen Töne überwiegen lässt.
1961 wurde der Autor für sein Werk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Die Drinabrücke, die 1940 repariert wurde, steht seit 2007 auf der Unesco-Weltkulturerbe-Liste. Die bisher schlimmste Eskalation der Gewalt auf dem Balkan, den Bosnienkrieg 1992–1995, musste der Autor selbst nicht mehr miterleben.
Der Filmregisseur Emir Kusturica setzte Ivo Andrić mit seinem Kunstprojekt in der Nähe von Višegrad, dem Nachbau einer mittelalterlichen serbischen Stadt mit dem Namen Andrićgrad, ein umstrittenes Denkmal. In einem Interview sagte er: „Den Balkan kann man heute ohne Andrić nicht begreifen. Andrić ist jemand, der die Geschichte und den philosophischen Kontext des Balkans nicht in ein Trugbild verzerrt.“
Über den Autor
Ivo Andrić wird am 9. Oktober 1892 in Travnik in eine katholische Handwerkerfamilie geboren und wächst in der bosnischen Stadt Višegrad auf. Später zieht er nach Belgrad, seinerzeit Hauptstadt des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Andrić sieht sich selbst als Wanderer zwischen den Völkern. Für seine national-revolutionären Bestrebungen wird er während des Ersten Weltkriegs inhaftiert. Dann studiert er Philosophie, Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Graz und Krakau, um später in den Dienst des jugoslawischen Staates zu treten. Ab 1920 ist er 21 Jahre lang als Berufsdiplomat u. a. in Bukarest, Paris, Brüssel und Genf tätig. 1924 promoviert er in Graz mit einer Dissertation unter dem Titel Die Entwicklung des geistigen Lebens ins Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft. 1939 geht er als jugoslawischer Gesandter nach Berlin, also in die Hauptstadt des Landes, das gerade den Einmarsch in seiner Heimat plant. Als es so weit ist, am 6. April 1941, kehrt Andrić nach Belgrad zurück, zieht sich zurück und beginnt zu schreiben. In dieser für sein Land so schrecklichen Phase hat er seine fruchtbarste Zeit als Schriftsteller: Die Brücke über die Drina, Wesire und Konsuln und Das Fräulein entstehen in der Zeit bis zur Gründung der Volkrepublik Jugoslawien unter Josip Broz Tito im Jahr 1945. Am Partisanenkampf gegen die Deutschen ist er nicht beteiligt und in seiner Überzeugung auch kein Sozialist, doch er dient dem neuen Staat genauso wie dem alten Königreich. Andrić wird Präsident des jugoslawischen Schriftstellerverbandes und Abgeordneter des Parlaments. 1961 wird er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er stirbt am 13. März 1975 in Belgrad.
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