Charles Darwin
Die Entstehung der Arten
durch natürliche Zuchtwahl
Reclam, 1999
Was ist drin?
Der größte Paukenschlag der Wissenschaftsgeschichte: Darwin legte die Grundlage für die moderne Biologie – und für das moderne Weltbild.
- Naturwissenschaften
- Moderne
Worum es geht
Das wissenschaftliche Buch der Bücher
Charles Darwin hat unser Welt- und Menschenbild für immer verändert. Seine Evolutionstheorie lieferte erstmals eine schlüssige Erklärung dafür, wie Arten aus anderen Arten entstehen, warum sie sich wandeln und wieder verschwinden. Als junger Mann hatte Darwin die Chance seines Lebens erhalten: Er durfte an einer Expedition auf der „Beagle“ teilnehmen, die ihn rund um die Welt führte und fast fünf Jahre dauerte. Seine Beobachtungen und Erkenntnisse summierten sich zu einem ungeheuren Wissensschatz, und bereits sein Reisebericht sorgte in England für Aufsehen. Darwins unermüdlicher Forscherdrang und die große Bandbreite seiner Themen machten ihn zu einem bedeutenden Biologen, die Evolutionstheorie, die er daraus gewann, zu einem der einflussreichsten Denker aller Zeiten. „Gott ist tot“, schrieb Friedrich Nietzsche gut 20 Jahre später. Nicht umsonst hatte Darwin beim Schreiben das Gefühl, „einen Mord zu begehen“.
Take-aways
- Die Entstehung der Arten von Charles Darwin ist das wichtigste und einflussreichste Buch in der Geschichte der Naturwissenschaften.
- Es bot erstmals eine überzeugende Erklärung zur Entwicklung der Vielfalt des Lebens.
- Inhalt: Tier- und Pflanzenarten verändern sich durch Variation und natürliche Selektion. Diejenigen Individuen, die am besten an ihre Lebensumstände angepasst sind, überleben. Ihre Merkmale werden vererbt und summieren sich im Lauf der Zeit zu neuen Arten.
- Darwin verbannte die Vorstellung eines Schöpfers, der alle Arten so geschaffen hat, wie sie heute noch sind, aus der Wissenschaft.
- Das Buch bietet eine enorme Materialfülle. Darwins eigene Beobachtungen werden mit Ergebnissen anderer Forscher verknüpft.
- Darwin war sich der Brisanz seiner Theorie bewusst; er zögerte viele Jahre mit der Veröffentlichung und sammelte immer neue Belege.
- Erst die Tatsache, dass Alfred Russel Wallace ähnliche Gedanken entwickelte, zwang ihn, das Werk zu publizieren.
- Das Buch war sofort ausverkauft und wurde von der Wissenschaft rasch anerkannt.
- Aus konservativ-religiösen Kreisen kam Protest, der bis heute andauert.
- Zitat: „Der Kampf ums Dasein ist die notwendige Folge des stark entwickelten Strebens aller Lebewesen, sich zu vermehren.“
Zusammenfassung
Ältere Vorstellungen von der Entstehung der Arten
In der Vergangenheit glaubte die große Mehrheit der Naturforscher, die verschiedenen Arten von Lebewesen seien unveränderlich geschaffen worden; nur wenige nahmen an, dass Arten sich wandeln könnten. Lamarck vertrat als Erster die Ansicht, dass sämtliche Veränderungen in der Natur, sowohl in der organischen wie der anorganischen, in jedem Fall die Folge von Naturgesetzen seien. Den Antrieb suchte er zum einen im unmittelbaren Einfluss der Umwelt, zum anderen in der Kreuzung bestehender Formen; einen großen Teil schrieb er dem Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe zu. Geoffroy Saint-Hilaire vermutete schon um 1795, dass alle Arten aus einer einzigen Ursprungsart heraus entstanden seien; er glaubte aber nicht, dass heute lebende Arten sich noch verändern würden. Auch mehrere Geologen und Botaniker haben die Ansicht geäußert, die Arten seien Veränderungen unterworfen.
Individuelle Unterschiede
Jedes Einzelwesen jeder Art, egal ob Tier oder Pflanze, zeigt individuelle Eigenheiten. Dabei weisen die Exemplare unserer Haustiere und Kulturpflanzen eine viel größere Variationsbreite auf als die natürlich vorkommenden Arten. Das scheint u. a. damit zusammenzuhängen, dass in der Natur gleichförmigere Lebensbedingungen herrschen. In der Wildnis sind Lebewesen über viele Generationen hinweg wechselnden Lebensbedingungen ausgesetzt, bis sie merkliche Veränderungen zeigen. Wenn eine solche Veränderung aber einmal angefangen hat, dauert sie in der Regel auch an. Auch diejenigen Kulturpflanzen oder Haustiere, die der Mensch in historischer Zeit zu verändern begonnen hat, verändern sich unaufhörlich weiter.
„Bis vor Kurzem glaubte die große Mehrzahl der Naturforscher, die Arten seien unveränderlich und jede einzelne sei für sich erschaffen worden, eine Ansicht, die sehr geschickt verteidigt wurde.“ (S. 11)
Bei den meisten gezüchteten Tieren und Pflanzen wissen wir nicht mit Sicherheit, ob sie von einer oder von mehreren wilden Arten abstammen. Wenn man sich beispielsweise so unterschiedliche Hunderassen wie die Dänische Dogge oder den Pinscher ansieht, scheint es unwahrscheinlich, dass sie von ein und derselben Art abstammen – und tatsächlich wäre es interessant zu klären, ob das der Fall ist. Wenn dem so wäre, dann wäre dies ein Argument dafür, dass auch eng miteinander verwandte, aber durchaus unterschiedliche Arten, wie etwa die in verschiedenen Teilen der Welt vorkommenden Füchse, gemeinsamer Abstammung sind.
Varietäten als Grundlage der Artbildung
Die natürliche Zuchtwahl und der menschliche Züchter arbeiten mit demselben Material, nämlich den vielen kleinen Unterschieden, die sich bei Tieren derselben Art oder bei Nachkommen derselben Eltern zeigen. Aus diesem Material wählt die Züchtung aus. Viele Forscher sind der Ansicht, dass sich die Unterschiede in der Regel auf eher unwichtige Merkmale wie Körpergröße, Färbung, Schwanzlänge u. Ä. beschränken. In Wahrheit aber findet man sie auch in Teilen des Organismus, die unter physiologischen und klassifikatorischen Gesichtspunkten wesentlich sind. Ein Beispiel ist die Verzweigung der Hauptnerven am großen Zentralnervenknoten bei manchen Insekten. Wie an Schildläusen nachgewiesen wurde, ist dort der Hauptnerv in einem so hohen Maß variabel, dass die Darstellung dieser Varietäten der Verzweigung eines Baumes ähnelt. Eine ähnliche Variabilität wurde bei den Muskeln mancher Insektenlarven gefunden.
„In langen Zeiträumen erscheinen unter Millionen von Einzelwesen, die in demselben Lande aufwuchsen und fast gleich ernährt wurden, zuweilen so starke Abweichungen im Bau, dass man sie Monstrositäten nennen kann; diese können aber durch keine deutliche Grenzlinie von den geringfügigeren Abweichungen geschieden werden.“ (S. 33 f.)
Zwischen einer Art und einer Unterart, einer Unterart und einer Varietät, einer Varietät und einem Individuum gibt es grundsätzlich einen fließenden Übergang. Eine Art kann ebenso wenig wie eine Unterart oder eine Varietät exakt bestimmt werden. So entsteht mitunter Verwirrung, wenn der eine Forscher eine Erscheinungsform als Varietät ansieht, ein anderer diese aber als Art bezeichnet. So zählte Watson nicht weniger als 182 britische Pflanzen auf, die gewöhnlich als Varietäten, aber von Botanikern auch als eigene Arten bezeichnet werden. Manche Forscher glauben, dass Tiere überhaupt keine Varietäten bilden, und ordnen jede größere Abweichung einer neuen Art zu. So halten manche Ornithologen das Schottische Rothuhn für eine eigene Art, während andere es nur als eine Varietät des Norwegischen Schneehuhns ansehen. Solche Unsicherheiten gibt es viele.
„Die Gesetze, denen die Vererbung unterliegt, sind größtenteils unbekannt.“ (S. 39)
Individuelle Unterschiede können sich zu Varietäten und diese sich wiederum zu Unterarten und Arten weiterentwickeln. Dabei kann es sein, dass die Mutterart verdrängt wird; es ist aber auch möglich, dass die neue und die alte Art selbstständig nebeneinander bestehen. Varietäten müssen sich übrigens nicht notgedrungen zu eigenen Arten entwickeln, sie können auch aussterben oder als bloße Varietäten fortleben. Wie Forschungen gezeigt haben, variieren an Individuen zahlreiche und weit verbreitete Arten stärker, weil sie sehr unterschiedlichen Lebens- und Konkurrenzbedingungen ausgesetzt sind. Auch zeigen Arten, die zu größeren Gattungen gehören, eine stärkere Variabilität als Arten kleinerer Gattungen.
Der Kampf ums Dasein
Die Tatsache, dass es individuelle Unterschiede und Varietäten gibt, beantwortet noch nicht die Frage, wie sich all die wunderbaren Anpassungen entwickelt haben, die wir in der Natur bestaunen. Wie kommt es, dass sich Varietäten über einen so langen Zeitraum weiterentwickeln, bis endlich neue Arten aus ihnen geworden sind? Das alles ist eine Folge des Kampfes ums Dasein.
„Der Kampf ums Dasein ist die notwendige Folge des stark entwickelten Strebens aller Lebewesen, sich zu vermehren.“ (S. 102)
Jedes Lebewesen bringt mehr Nachkommen hervor, als überleben können. Wenn nicht der größte Teil der Nachkommen stets vernichtet würde, würden sich alle Lebewesen exponentiell verbreiten. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Organismus eine hundert- oder tausendköpfige Nachkommenschaft hervorbringt, wie es bei vielen Fischen, Lurchen oder Insekten der Fall ist, oder ob er wie der Eissturmvogel jeweils nur ein einziges Ei legt. Selbst von einem Tier, das sich so langsam vermehrt wie der Elefant, würde es nach 750 Jahren etwa 19 Millionen Nachkommen eines Paares geben. Es gibt Fälle, in denen man eine solche ungebremste Vermehrung für einige Zeit tatsächlich beobachten kann, nämlich dann, wenn neue Arten auf Inseln eingeschleppt werden, wo sie keine natürlichen Feinde haben, und sich dort explosionsartig verbreiten.
„Es gibt keine Ausnahme von der Regel, dass sich jedes organische Wesen auf natürlichem Wege so stark vermehrt, dass, wenn es nicht der Vernichtung ausgesetzt wäre, die Erde bald von den Nachkommen eines einzigen Paares erfüllt sein würde.“ (S. 103)
Im Kampf ums Dasein trägt jede Veränderung, die für ein Individuum vorteilhaft ist, zu seiner Erhaltung bei und vererbt sich auf seine Nachkommen. Herbert Spencer hat dafür den bekannten Ausdruck „survival of the fittest“ („Überleben der Tüchtigsten“) geprägt. Der Begriff „Kampf ums Dasein“ gilt übrigens in einem weiten Sinn: Er beschreibt nicht nur die Konkurrenzsituation der Lebewesen untereinander – z. B. die Konkurrenz um Nahrung −, sondern auch den einsamen Kampf eines Individuums gegen die eigenen Lebensumstände, etwa das Ringen einer Wüstenpflanze um Feuchtigkeit. Der Begriff umfasst alle Beziehungen von Lebewesen untereinander oder zu ihrer Umwelt, die durch Veränderungen positiv oder negativ beeinflusst werden können.
Natürliche Zuchtwahl
Die individuell unterschiedlichen Eigenschaften, die die Nachkommen eines Lebewesens besitzen, zeigen sich in vielfältiger Weise, sowohl in der Beziehung zur Umwelt als auch in Bezug auf die anderen Lebewesen. Nützt ein derartiger Unterschied dem betreffenden Organismus, so hat er bessere Chancen im Kampf ums Dasein. Er wird diese Eigenschaft an seine Nachkommen weitergeben, und diese werden gleichfalls Nachkommen haben, die zahlreicher und besser an ihre Lebensbedingungen angepasst sind. Dieses Prinzip, nach dem die jeweils Tüchtigsten oder am besten Angepassten überleben, wird als natürliche Zuchtwahl bezeichnet. In Kombination mit dem Kampf ums Dasein ist die natürliche Zuchtwahl der wesentliche Antrieb bei der Entstehung der Arten und der Entwicklung der Lebewesen. Sie führt zu einer schrittweisen Höherentwicklung der Lebewesen gegenüber ihren Lebensbedingungen. Trotzdem können auch niedere Lebensformen sehr lange Bestand haben, sofern sie an ihre Umweltbedingungen gut angepasst sind.
Gemeinsame Abstammung
Aus diesen Prinzipien lässt sich auch die Verwandtschaft zwischen den unterschiedlichen Lebewesen erklären. Tiere und Pflanzen aller Zeiten und aller Orte sind auf eine Weise miteinander verwandt, dass sie Gruppen bilden, die wiederum Untergruppen bilden und gleichzeitig übergeordneten Gruppen angehören. Wären alle Arten unabhängig voneinander geschaffen worden, so wäre diese Anordnung nicht zu erklären. Sie ergibt sich aus der langen Geschichte des Aussterbens und der Aufspaltung der Arten.
„Man kann im bildlichen Sinne sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich dabei, allüberall in der Welt die geringsten Veränderungen aufzuspüren und sie zu verwerfen, sobald sie schlecht sind, zu erhalten und zu vermehren, sobald sie gut sind (...)“ (S. 125 f.)
Für dieses Verhältnis der Abstammung und Verwandtschaft wird oft das Bild eines Stammbaums gewählt. Die grünen Zweige stellen die heute noch bestehenden Arten dar. Von den vielen Zweigen, die früher einmal geblüht haben, als der Baum noch ein Strauch war, sind die meisten zugrunde gegangen. Nur zwei oder drei dieser Zweige sind übrig geblieben − allerdings als starke Äste, die die Zweige von heute tragen. Hier und da gibt es noch ein Zweiglein, das tief unten am Stamm entspringt und, vom Zufall begünstigt, bis heute Bestand hat.
Einwände gegen die Theorie
Es gibt einige berechtigte Einwände gegen diese Theorie der Abstammung. Einer betrifft die Frage, warum wir nicht überall Übergangsformen finden, wenn doch die Arten durch unmerkliche Übergänge entstanden sind. Warum besteht in der Natur statt der klar voneinander abgegrenzten Arten nicht ein wirres Durcheinander von Formen? Zunächst muss gesagt werden, dass die Überlieferung der geologischen Funde sehr viel lückenhafter ist, als allgemein geglaubt wird. Die Hauptursache jedoch, warum wir so wenig Übergangsformen finden, liegt in der Natur des Vorgangs selbst. Denn wenn sich eine günstige Modifikation durchsetzt, wird sie innerhalb kürzester Zeit die alte Art, aus der sie hervorgegangen ist, verdrängt haben, sodass wir von dieser keine Spuren mehr finden. Und dort, wo die Gebiete zweier Arten sich überlappen, finden wir in der Übergangszone weniger eine Mischform als vielmehr beide Arten nebeneinander.
„Unsere Unkenntnis der Gesetze der Abänderung ist groß. Kaum in einem von hundert Fällen können wir sagen, wir wüssten den Grund, warum eigentlich dieser oder jener Teil sich verändert.“ (S. 226)
Außerdem werden Zwischenformen, wenn sie in geringerer Zahl vorkommen, sehr viel eher ausgerottet als die aus ihnen hervorgehenden, stabileren Formen. Wenn wir zwei sehr unterschiedliche Formen betrachten, etwa Pferd und Tapir, so haben wir keinen Grund zu der Annahme, dass es jemals ein direktes Bindeglied zwischen ihnen gab – wohl aber muss es eines zwischen jedem von ihnen und einer unbekannten gemeinsamen Stammform gegeben haben. Diese muss eine große Ähnlichkeit sowohl mit dem Pferd als auch mit dem Tapir gehabt haben, sie muss aber in vielen Einzelheiten auch von ihnen abgewichen sein, u. U. sogar mehr, als Pferd und Tapir heute voneinander abweichen. Über diese Stammform ließe sich nur dann mehr sagen, wenn wir eine lückenlose Kette von Zwischengliedern besäßen.
„Wer an besondere Schöpfungsakte glaubt, muss überrascht sein, wenn er Tiere findet, deren Bau und Lebensgewohnheiten nicht übereinstimmen.“ (S. 243 f.)
Wie aber kann es sein, dass durch Modifikationen aus einem Tier ein neues mit komplett anderer Lebensweise und anderem Körperbau hervorgeht? Wie kann z. B. aus einem Wasserraubtier ein Landraubtier entstehen? Die Antwort: Erstens gibt es viel mehr Übergangsformen, als man auf den ersten Blick denken könnte. Der amerikanische Nerz ist im Prinzip eine solche Übergangsform: Im Sommer fängt er Fische, und während des langen Winters jagt er an Land und lebt von Mäusen und anderen Kleintieren. Zudem sind bei unzähligen Arten die Verhaltensweisen sehr viel flexibler, als man meint. Es gibt z. B. Crustaceen und Mollusken, die statt im Wasser an Land leben, Spechte, die sich der baumlosen Ebene der Pampa angepasst haben, Hochlandenten, die ihre mit Schwimmhäuten versehenen Füße nicht zum Schwimmen nutzen, und zahlreiche andere Vögel, die ihre Flügel nicht zum Fliegen gebrauchen.
„Sobald ich irgendwelche zwei Formen betrachtete, stellte ich mir unwillkürlich die direkten Zwischenglieder vor, aber das war ein Fehler; man muss vielmehr nach Formen suchen, die zwischen den Arten und ihrem unbekannten gemeinsamen Vorfahren stehen, und dieser wird in der Regel in vielfacher Hinsicht von seinen Nachkommen abweichen.“ (S. 430)
Schließlich muss man die Dynamik der Artbildung berücksichtigen. Wenn wir irgendein Organ vollkommen ausgebildet finden, z. B. den Flügel eines Vogels, so müssen wir bedenken, dass sich Tiere, bei denen sich das Organ noch im Anfangsstadium befand, sehr selten bis heute erhalten haben, denn sie wurden von ihren besser angepassten Nachfolgern verdrängt. Diese Flexibilität vieler Tiere hinsichtlich der Anpassung an ihre Umwelt ist ein schlagendes Argument gegen die Meinung, dass die Arten in einem einzigen Schöpfungsakt geschaffen worden seien.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Entstehung der Arten besticht durch die Kombination aus genialer Grundidee, kluger Argumentation und überbordender Materialfülle. Obwohl Darwin mehrfach betont, dass das Buch nur ein Auszug aus einem für später geplanten, umfassenden Werk sei, ist der Umfang beeindruckend. Im ersten Drittel wird die Theorie im Grunde schon ausführlichst erklärt, die restlichen Teile bieten in erster Linie neue Belege und Argumente – Darwin selbst bezeichnete das Buch als „one long argument“. Überzeugend vermittelt er den Eindruck, dass es ihm nicht darum geht, ein tradiertes Weltbild in Schutt und Asche zu legen, sondern dass er einzig an Erkenntnis interessiert ist. Geschickt führt er im Prolog 24 Naturforscher auf, die sich bereits vor ihm zu Evolution und Artenwandel geäußert haben. In einigen Kapiteln widmet er sich den Schwächen seiner Theorie, und zwar sowohl den Argumenten der Kritiker als auch jenen Punkten, die sich aufgrund mangelnder Belege noch nicht beweisen lassen. Mehrfach schildert er seinen Erkenntnisgang, äußert Zweifel an Sachverhalten oder aber die Überzeugung, dass sich eine Frage in naher Zukunft sicherlich klären werde.
Interpretationsansätze
- Die Entstehung der Arten stellt mit seiner vollkommen neuen Erklärung zur Entstehung der vielfältigen Lebensformen einen Paradigmenwechsel dar: Die Tatsache, dass für Darwin der Mensch nicht mehr die Krone der Schöpfung ist, sondern zwischen die anderen Spezies eingereiht werden kann, hat weit reichende philosophische Implikationen: Sie bildet u. a. das geistig-moralische Fundament für den Tierschutz.
- Die Lehre vom „Kampf ums Dasein“ hat ein völlig neues Licht auf das menschliche Zusammenleben geworfen: Heute geht die Verhaltensbiologie davon aus, dass sich auch „altruistische“ Verhaltensweisen im Zuge der Evolution bewähren mussten. Mithin können sie ebenso gut als egoistisch bezeichnet werden: Sie begünstigen die Weitergabe des individuellen Erbguts.
- Auch wenn Darwins Theorie das Fundament für den Sozialdarwinismus legte, der die Weiterentwicklung der Menschheit mittels „natürlicher Selektion“ postulierte, sucht man entsprechende Ansätze in seinem Werk vergebens. Eugenische Maßnahmen, wie sie später z. B. im Dritten Reich propagiert und umgesetzt wurden, hätte Darwin kaum befürwortet: Man könne das Mitleid mit anderen nicht ausschalten, „ohne den edelsten Teil unserer Natur herabzusetzen“, schrieb er 1871 in Die Abstammung des Menschen.
- Neben seinen Grundgedanken ist das bis heute Beeindruckendste an dem Buch Darwins umfassender naturkundlicher Ansatz. Er sammelte Belege aus allen Teilen der Welt und von zahlreichen Kollegen; er experimentierte selbst, züchtete, pflanzte, prüfte nach, rechnete Beispiele durch und wog das Für und Wider gegeneinander ab. Insgesamt griff er dabei immer wieder auf den Erfahrungsschatz seiner fünf Jahre dauernden „Beagle“-Expedition zurück.
- Hätte es eine Evolutionstheorie ohne Darwin geben können? Die Tatsache, dass Alfred Russell Wallace von sich aus und in kürzerer Zeit als Darwin auf ähnliche Gedanken kam wie dieser, legt den Schluss nahe, dass das Thema in der Luft lag. Darwin selbst begriff die Wissenschaft als unaufhaltsamen Prozess.
Historischer Hintergrund
Die Frage nach der Entwicklung des Lebens
Die Naturwissenschaften machten im 19. Jahrhundert einen tief greifenden Wandel durch. Das Zeitalter der wissenschaftlichen Expeditionen im Stil von James Cook und Alexander von Humboldt begann sich dem Ende zuzuneigen. Die Weltumseglung als Weg zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis, wie ihn die fünfjährige Expedition mit dem Forschungsschiff „Beagle“ noch einmal eindrucksvoll demonstrierte, trat aufgrund der zunehmenden Spezialisierung und Professionalisierung in den Hintergrund. In der Frage nach der Entstehung und Entwicklung des Lebens mehrten sich die Zweifel an der wissenschaftlichen Gültigkeit des biblischen Schöpfungsberichts. Insbesondere die Geologen begannen das angebliche Erdalter von wenigen Tausend Jahren massiv infrage zu stellen. Mehrere Naturforscher stellten eine Veränderung der Arten, auch Transmutation genannt, zur Diskussion (das Wort „Evolution“ gab es in diesem Zusammenhang noch nicht). 1844 publizierte der Autor und Verleger Robert Chambers anonym ein Buch, das großes Aufsehen erregte, weil es vehement den Schöpfungsgedanken in Abrede stellte und eine Evolution der Lebewesen vertrat: Vestiges of the Natural History of Creation. Die Schrift wurde sowohl wegen ihrer wissenschaftlichen Fehler als auch wegen ihrer politischen Tendenzen massiv kritisiert, war aber ein Verkaufserfolg. Die Evolution avancierte zum populärwissenschaftlichen Thema mit politischer Sprengkraft. Erst Darwin beförderte sie allerdings in den Bereich der seriösen Wissenschaft.
Entstehung
Fast 30 Jahre lang arbeitete Darwin an seinem Hauptwerk. Nach der Rückkehr von der Expedition mit der „Beagle“ notierte er 1837 seine ersten Gedanken zum Artenwandel. Bis 1844 entstand ein Manuskript mit über 200 Seiten, das er aber nicht zu veröffentlichen wagte, da er die gesellschaftliche Sprengkraft seiner Erkenntnisse fürchtete. In einem Brief an den Botaniker Joseph Hooker bekannte er, das Schreiben seiner Theorie fühle sich an, „wie einen Mord zu begehen“. Die missglückten politischen Aufstände von 1848 und die heftige öffentliche Kritik an dem Buch Vestiges of the Natural History of Creation bestärkten ihn in seinen Befürchtungen. Er sammelte weiter Material, forschte und publizierte andere Schriften.
Dann überschlugen sich die Ereignisse: 1858 erreichte ihn aus Südostasien ein Brief des Naturforschers Alfred Russell Wallace, der schon zuvor einen Artikel über den Artenwandel veröffentlicht hatte und jetzt unabhängig von Darwin auf den Mechanismus der natürlichen Auslese gestoßen war. Darwin war vor den Kopf geschlagen und spielte mit dem Gedanken, sein Werk aufzugeben. Freunde um Hooker und den Geologen Charles Lyell, der Darwin schon seit Jahren zur Veröffentlichung gedrängt hatte, veranlassten, dass auf einer Sitzung der Naturforscher-Gesellschaft Linnean Society am 1. Juli 1858 drei Texte vorgelesen wurden: der Brief von Wallace, Teile aus Darwins Manuskript von 1844 und ein Brief Darwins, aus dem seine Urheberschaft der Ideen zusätzlich hervorging. Der Druck auf Darwin wurde so groß, dass er nach einem Jahr fieberhafter Arbeit das Buch fertigstellte und veröffentlichte.
Wirkungsgeschichte
Die Entstehung der Arten war ein Paukenschlag, wie ihn die Wissenschaftsgeschichte weder vorher noch nachher jemals erlebt hat. Die Startauflage von 1250 Exemplaren war bereits komplett durch Vorbestellungen ausverkauft. Die Materialfülle des Buches, die Brisanz der Theorie, die Reputation des Verfassers, die Überzeugungskraft der Argumente und die Eleganz der dargelegten natürlichen Mechanismen verwandelten ein bis dahin eher obskures Thema schlagartig in einen zentralen Wissenschaftszweig. Die meisten Naturforscher erkannten sofort, dass hier eine stimmige Erklärung für eine der großen Fragen des Lebens vorlag. Bereits 1865 wurde die Evolutionstheorie Prüfungsstoff an der Universität Cambridge.
Die weltanschaulichen Konsequenzen der Theorie provozierten dagegen wütende Ablehnung. Viele Menschen taten (und tun) sich schwer mit der Vorstellung, dass sich das Leben ohne Zutun eines Schöpfers entwickelt haben sollte. Sigmund Freud bezeichnete diese Preisgabe der Sonderstellung des Menschen später als „eine der drei großen Kränkungen“, die die Wissenschaft dem Selbstverständnis des modernen Menschen bereitet habe (neben den Kränkungen von Kopernikus und von Freud selbst). Darwin nahm alle fachlichen Einwände und Korrekturen an seiner Theorie ernst und versuchte, sie nach Möglichkeit in späteren Auflagen zu berücksichtigen.
Seit dem Erscheinen des Buches ist die Biologie ohne Evolutionstheorie nicht mehr denkbar. Berühmt wurde der Satz des Populationsgenetikers Theodosius Dobzhansky: „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, wenn man es nicht unter dem Blickwinkel der Evolution betrachtet.“
Über den Autor
Charles Darwin wird am 12. Februar 1809 in der Nähe von Shrewsbury in Mittelengland geboren. Der junge Charles beschäftigt sich viel mit der Natur, etwa indem er mit Hingabe Käfer sammelt. Ab 1825 studiert er in Edinburgh Medizin, gibt das Studium aber bald wieder auf und wechselt nach Cambridge zur theologischen Fakultät. Dort studiert er jedoch vor allem Naturwissenschaften, u. a. bei dem Botaniker John Stevens Henslow. Dieser empfiehlt den begabten, aber als Forscher weitgehend unerfahrenen Darwin für die Weltreise mit der „HMS Beagle“. Sie hat den Auftrag, vor allem die südamerikanischen Küsten zu erforschen. Die Reise der „Beagle“ dauert von Dezember 1831 bis Oktober 1836. Darwin nutzt jede Gelegenheit, an Land zu gehen, geologische Studien zu betreiben, Fossilien zu sammeln, die Tierwelt zu erforschen und Proben aller Art mitzunehmen. Nach der Rückkehr steht die Auswertung des reichhaltigen Materials an. Darwin veröffentlicht 1839 zunächst einen wissenschaftlichen Bericht über die Reise der „Beagle“. Im selben Jahr heiratet er seine Kusine Emma Wedgwood. Sie haben zehn Kinder, von denen drei noch im Kindesalter sterben. Darwins geerbter Wohlstand erlaubt es ihm, sich ganz seiner Arbeit zu widmen. Während mehr als 20 Jahren entsteht allmählich seine Evolutionstheorie. Darwin häuft Indiz auf Indiz und schreckt doch davor zurück, seine Erkenntnisse zu veröffentlichen: Sie würden zweifellos einen Skandal verursachen. Erst als der junge Naturforscher Alfred Russell Wallace in Südostasien zu den gleichen Schlussfolgerungen kommt wie Darwin, sieht dieser sein Lebenswerk in Gefahr und entschließt sich zur Publikation. Die Entstehung der Arten erscheint 1859 und schlägt ein wie eine Bombe. Kirchen und konservative Kreise sind entsetzt, während viele Naturforscher die neue Lehre relativ rasch annehmen, kritisch hinterfragen und weiterzuentwickeln versuchen. Darwin stirbt am 19. April 1882 in Downe (heute zu London gehörig) und wird in der Westminster Abbey begraben.
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