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Die Frau von dreißig Jahren

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Die Frau von dreißig Jahren

Diogenes Verlag,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Balzacs feinfühliger Roman über eine frustrierte Ehefrau bewegt bis heute.


Literatur­klassiker

  • Psychologischer Roman
  • Realismus

Worum es geht

Die Ehe, ein Hort des Unglücks

Die bezaubernde, junge Julie schlägt die Warnungen ihres Vaters in den Wind, heiratet den Marquis von Aiglemont – und ihr lebenslanges Unglück nimmt seinen Lauf. Die Ehe mit dem anständigen, aber erzlangweiligen Offizier wird zum Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Zwar lässt sich Julie auf mehrere Liebschaften ein, aus denen z. T. sogar Kinder hervorgehen, doch mehr als vorübergehende Linderung verschafft ihr dies nicht. Sie ist das Opfer ihrer eigenen Glücksbedürfnisse und die Leidtragende einer Gesellschaft, die Frauen in ein enges Korsett aus herzlosen Konventionen steckt. Julie verliert ihre Tochter an einen Verbrecher und wird am Ende ihres Lebens vom Glauben überwältigt, alles falsch gemacht zu haben. Das 1842 erschienene Werk gehört zu Balzacs großartigem Romanzyklus Die menschliche Komödie. Es ist ein vielschichtiges, ergreifendes Psychodrama, das zahlreiche literarische Grundthemen des 19. Jahrhunderts aufgreift und in lose verbundenen Szenen die Stationen eines verzweifelten Lebens schildert. Mit seinen feministischen Zügen ist Die Frau von dreißig Jahren bis heute ein äußerst lesenswertes, modern anmutendes Werk geblieben.

Take-aways

  • Mit Die Frau von dreißig Jahren führte Balzac ein neues Thema in die Literatur ein: die unglückliche Ehegattin.
  • Die junge Julie missachtet die Warnungen ihres Vaters und heiratet den Langweiler Marquis von Aiglemont.
  • Gefangen in der unglücklichen Ehe, lässt sie sich auf eine Affäre mit einem jungen Engländer ein.
  • Dieser opfert sein Leben, um die Ehre seiner Geliebten zu retten.
  • Neben ihrer legitimen Tochter Helene hat Julie mehrere Kinder von einem späteren Liebhaber.
  • Eines Nachts flieht Helene mit einem gesuchten Mörder, weil sie das eintönige Familienleben nicht länger aushält.
  • Jahre später trifft der Marquis Helene auf einem Piratenschiff wieder, wo sie, glücklich verheiratet, ein dramatisch-romantisches Leben führt.
  • Doch ihre Existenz nimmt ein bitteres Ende: Nachdem das Schiff ihres Mannes gekentert ist, erkrankt sie und wirft ihrer Mutter auf dem Sterbebett mangelnde Liebe vor.
  • Frühzeitig gealtert und verhöhnt von ihrer anderen Tochter Moïna, stirbt Julie an gebrochenem Herzen.
  • Balzac gilt als Begründer des realistischen, psychologisch feinfühligen Erzählens.
  • Die Frau von dreißig Jahren trug wesentlich zu seinem Ruhm bei – nicht zuletzt bei den lesenden Frauen.
  • Kritisiert wurde die Uneinheitlichkeit des Romans, der u. a. aus materiellen Gründen veröffentlicht wurde.

Zusammenfassung

Vergebliche Warnungen

Paris im April 1813. Ein älterer, kränklich und verwelkt aussehender Mann geht an einem Sonntag mit seiner reizenden Tochter spazieren. Der Name des Mädchens ist Julie. Die beiden begeben sich zu den Tuilerien, um sich ein Manöver der napoleonischen Armee anzusehen. Julie ist ungeduldig und fröhlich, ihr alter Vater dagegen voller Sorge, denn er bemerkt, dass seine Tochter in den Oberst Victor d’Aiglemont verliebt ist, der durch seine Eleganz und seine stolze Haltung aus den Soldaten hervorsticht. Während die Menge vor dem defilierenden Kaiser in Ehrfurcht erstarrt, beobachtet der Vater den verliebten Glanz, den Victor d’Aiglemont auf Julies Gesicht zaubert. Der alte Mann warnt seine Tochter davor, sich jugendlichem Leichtsinn und romantischen Fantasiegebilden hinzugeben. Außerdem sei Victor nicht zartfühlend, sondern verwöhnt und tyrannisch veranlagt. Eine Ehe mit ihm würde unweigerlich im Unglück enden. Julie ist über die väterlichen Sorgen erstaunt und belustigt, doch als dem Greis die Tränen über die Wangen laufen, gibt sie ihm ein Versprechen: Sie werde so lange auf eine Heirat mit Victor d’Aiglemont verzichten, bis der Vater seine Vorurteile gegen ihn überwunden habe.

„Greise sind geneigt, die Zukunft der jungen Menschen mit ihren Schmerzen auszustatten.“ (S. 11)

Ein Jahr später hat Julie ihren Schwur bereits gebrochen. Die junge Frau hat ihren Heiratswunsch durchgesetzt, nun sitzt sie als Julie d’Aiglemont mit ihrem Ehemann in einer Kutsche und fährt durch die wunderschöne Landschaft der Touraine. Doch Julie hat dafür keine Augen, denn die väterlichen Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Ihr Gesicht ist bleich und ausgezehrt, sie wirkt unglücklich, und statt mit dem Oberst zu sprechen, möchte sie schlafen. Plötzlich fällt ihr Blick auf einen jungen Engländer, der beim Vorbeireiten einen Moment lang in die Kutsche späht und von der melancholischen Ausstrahlung der jungen Frau fasziniert ist. In sicherem Abstand folgt er dem Gefährt. Das Ziel des Paares ist die Stadt Tours, wo der Oberst seine junge Gattin bei einer Tante unterbringen will. Paris ist wegen der Kriegswirren zu unsicher geworden.

Trost von der Tante und von einem Engländer

Die Tante ist eine elegante alte Dame, die der vornapoleonischen Monarchie nachtrauert. Sie erkennt nach einiger Zeit, dass die Beziehung zwischen ihrem Neffen und Julie unglücklich ist. Die beiden Frauen werden zu unzertrennlichen Freundinnen, was Julie wieder etwas aufleben lässt. Zweimal täglich reitet der junge Engländer Arthur Ormond unter den Fenstern des Wohnsitzes vorbei, doch als die Tante Julie neckisch darauf hinweist, muss sie feststellen, dass deren Herz für die Liebe verschlossen ist – nicht nur für jene ihres Gatten, sondern für die Liebe überhaupt. Es kommt zu vertraulichen Gesprächen, bei denen Julie der Tante ungehemmt ihr eheliches Unglück schildert. Die lebenserfahrene Frau versucht sie zu trösten und verspricht, ihr wo immer möglich zu helfen. Kurz darauf trifft ein Kammerdiener des Obersts ein und berichtet, Napoleon sei gestürzt worden, Julie solle sofort nach Orléans reisen, um dort ihren Ehemann zu treffen. Als sie unterwegs von preußischen Soldaten aufgehalten wird, kommt ihr Arthur Ormond zu Hilfe und stattet sie mit den notwendigen Passierscheinen aus. In Paris ist Julies Ehemann Victor dank bester Beziehungen mittlerweile zum General ernannt worden, obwohl er unter dem vertriebenen Napoleon gekämpft hat – und obwohl er ein Hohlkopf und Kleingeist ist, der die sensible Julie tagtäglich langweilt. Dabei erkennt er ihre Überlegenheit an und gehorcht ihr aufs Wort; die Frau im Haus bestimmt seine Handlungen und verwaltet sein Vermögen. Julies Trauer erklärt sich der Oberst mit ihrer angeblichen Kränklichkeit; er beklagt sein Schicksal, an eine überempfindliche Gattin gekettet zu sein.

„Es gibt viele Männer, deren Herz schon durch den Anblick des Leidens bei einer Frau heftig erregt wird. Für sie ist der Schmerz ein Versprechen von Beständigkeit oder Liebe.“ (S. 33)

Im Jahr 1817 bekommt Julie ihre erste Tochter, Helene, die sie für einige Zeit von ihrem Kummer ablenkt. Doch schon bald ist die Trübsal mit aller Macht zurück. Die einzig angenehme Erinnerung der vergangenen Jahre ist für die Unglückliche das Bild des verliebten, ihrer Kutsche nachreitenden Engländers. Ihr Elend verschlimmert sich, als sie bemerkt, dass Victor eine Geliebte hat. Doch Julie reißt sich zusammen, erscheint in tadelloser Kleidung zu einem Fest ihrer Nebenbuhlerin und verzaubert die Anwesenden mit einer herausragenden Gesangsdarbietung. Auch Arthur ist unter den Gästen; die Gefühle zwischen den beiden flammen wieder auf. Der junge Engländer bietet Victor an, seine medizinischen Kenntnisse in den Dienst der offensichtlich leidenden Julie zu stellen. So haben die heimlich Liebenden einen Vorwand, sich regelmäßig zu sehen.

„Eines Tages zeigte Julie ihrer erstaunten Tante gegenüber ein vollkommenes Vergessen ihrer Ehe, war ganz ein leichtsinniges unbekümmertes junges Mädchen (...), von jener Reinheit des Geistes und dann wieder so innig im Gefühl, wie es nur die jungen Französinnen sein können.“ (S. 42)

Einige Jahre darauf reist das Ehepaar d’Aiglemont abermals in die Touraine. Arthur ist zum ständigen Begleiter und Ratgeber Julies geworden, ohne dass Victor Verdacht geschöpft hätte. Die junge Frau hat sich erholt und ist so lebenslustig wie seit Langem nicht mehr. Doch das Versteckspiel wird für beide unerträglich, sie denken sogar daran, Victor zu ermorden. Schließlich ringen sie sich zu einem schmerzhaften Entschluss durch: Arthur wird in seine Heimat zurückkehren. Julie ist darüber so erschüttert, dass sie einen Schwächeanfall erleidet. Nun verbringt sie zwei unglückliche, aber ruhige Jahre an der Seite ihres Mannes, bis sie eines Tages einen Brief Arthurs erhält. Darin gesteht er seiner Angebeteten, dass er die gemeinsame Abmachung missachtet habe, in Frankreich geblieben sei und nur dafür lebe, ab und zu aus der Ferne einen Blick auf Julie werfen zu können. Als er persönlich bei der jungen Frau vorspricht, fallen sich die beiden schluchzend und bebend in die Arme. Doch plötzlich kommt der General, und die heimliche Liebesbeziehung droht entdeckt zu werden. Um Julies Ehre zu retten, versteckt sich Arthur auf einem Fenstersims, wo er eine lange, eisig kalte Nacht ausharren muss. Kurz darauf wird er krank und stirbt.

Die Ehe ist nichts als Willkür

Julie lebt einige Zeit später auf einem Landschloss. Den Dorfbewohnern ist ihre stille Zurückgezogenheit ein Rätsel. Eines Tages erhält sie Besuch vom Pfarrer. Sie will den Geistlichen zwar abweisen, doch zeigt sich dieser derart hartnäckig, dass Julie schließlich nachgibt und ihn empfängt. Als sie ihm von ihrem Elend erzählt, antwortet er mit seiner eigenen Lebensgeschichte: Nachdem er seine Eltern, zwei Töchter und seine Frau verloren hatte, waren ihm noch drei Söhne geblieben – und von diesen kam während der napoleonischen Kriege einer nach dem anderen ums Leben. Also beschloss er in unendlicher Trauer, seine irdische Existenz in Gottes Hände zu legen und Pfarrer zu werden. Julie ist erschüttert. Sie beklagt sich über die menschliche Gesellschaft, die das Werk des Schöpfers verfälscht habe und die Frauen unglücklich mache. Die Ehe sei nichts anderes als eine Unterwerfung, sie gebe dem Mann alle Freiheiten und lege der Frau alle Pflichten auf.

„Sie erzitterte bei dem Gedanken, in Julie ein entzaubertes Herz kennen lernen zu müssen, eine junge Frau, für die die Erfahrung eines einzigen Tages, vielleicht sogar einer Nacht, hingereicht hatte, um die Nichtigkeit ihres Mannes zu erkennen.“ (über die Tante, S. 43 f.)

Mit der Zeit keimen in Julie wieder zarte Gefühle auf – für den jungen Adligen Charles de Vandenesse, der aus bester Familie stammt und den sie auf einem Ball kennen gelernt hat. Victor ist mittlerweile derart resigniert, dass er die Beziehung zwischen seiner Frau und Vandenesse hinnimmt, selbst dann noch, als daraus mehrere Kinder hervorgehen. Doch das Unglück bleibt Julie treu: Aus Eifersucht stößt Tochter Helene ihren Halbbruder Charles bei einem Spaziergang heimlich in den Fluss; der Kleine ertrinkt.

Ein Pirat als Schwiegersohn

Jahre später befindet sich die Familie an einem Weihnachtsabend auf ihrem Landhaus in Versailles; die Bediensteten sind zu einer Hochzeitsfeier gegangen. Plötzlich klopft es an die Tür. Ein junger Mann wird von der Polizei verfolgt und bittet den General, ihm Unterschlupf zu gewähren, sonst sei er verloren. Er appelliert an die Ehre des alten Soldaten und erreicht, dass dieser ihn ins Haus lässt und in einem Zimmer versteckt. Kurz darauf erfährt Victor von den Gendarmen, dass der Gesuchte einen Mord begangen habe. Julie fordert ihre Tochter Helene auf, heimlich das Zimmer zu betreten, um etwas über den Fremden zu erfahren. Das junge Mädchen gehorcht – und wird von plötzlicher Liebe zu dem Flüchtigen überfallen. Zum Entsetzen ihrer Eltern beschließt sie, die eigene Familie noch am selben Abend zu verlassen und den Unbekannten auf seiner Flucht zu begleiten. Unter Tränen versucht Julie, ihre Tochter von ihrem wahnwitzigen Plan abzubringen – umsonst. Die junge Frau will sich die Gelegenheit, der drückenden familiären Enge zu entkommen, auf keinen Fall nehmen lassen. Außerdem quält der Jahre zuvor begangene Mord an ihrem Halbbruder ihr Gewissen; in ihrem Verbrecher-Geliebten vermutet sie einen Seelenverwandten. Im ersten Moment ist Victor derart erschüttert, dass er die beiden ziehen lässt. Als er wieder zu Sinnen kommt, eilt er ihnen mithilfe der Polizei und eines Hundes nach, doch die verzweifelte Suche bleibt vergeblich. Kurz darauf verspekuliert er sich und verliert sein ganzes Vermögen. Er beschließt, das Land zu verlassen.

„Die Marquise von Aiglemont glich einer schönen Blume, an deren Wurzeln ein schwarzes Insekt nagt.“ (S. 63 f.)

Sechs Jahre später kehrt Victor auf einem spanischen Schiff aus Südamerika in seine Heimat zurück. Als es sich der französischen Küste nähert, ertönt plötzlich ein Schreckensschrei: Ein berüchtigter Pirat hat die Verfolgung aufgenommen. Den Seeräubern gelingt es, das Schiff zu entern und auszurauben, die Passagiere und ein Teil der Besatzung werden gnadenlos über Bord geworfen. Als der Piratenkapitän Victor packt und ihn ebenfalls dem Meer überlassen will, erkennen sich die beiden: Der Pirat ist niemand anders als der junge Mann, mit dem Helene einst geflohen ist. In einer Kajüte kommt es zu einem Wiedersehen zwischen Vater und Tochter. Helene beteuert, sie sei an der Seite des Seeräubers restlos glücklich, behandle dieser sie doch mit großem Respekt und aufrichtiger Liebe. Als der General zu bedenken gibt, ihr Ehemann sei ein ruchloser Verbrecher und habe soeben zahlreiche Unschuldige getötet, wiegelt sie ab: Dem Geliebten sei gar nichts anderes übrig geblieben. Hätte er die Besatzung in Rettungsbooten entkommen lassen, wäre er an die französische Polizei verraten worden. Victor erkennt, dass seine Tochter auf hoher See ihr leidenschaftliches Lebensglück gefunden hat. Von Tränen überwältigt fallen sich die beiden in die Arme. Sein Schwiegersohn überreicht ihm eine Million, Helene gibt ihm wertvolle Geschenke für die Familie mit. Eine Schaluppe bringt den alten Mann an Land. In den folgenden Monaten gelingt es ihm, sein Vermögen zu ordnen, doch kurz darauf stirbt er.

Die letzten Worte einer Sterbenden

Wenige Monate nach dem Tod des Generals sucht seine Witwe Julie einen Kurort in den Pyrenäen auf, damit sich ihre verzogene, kränkelnde Tochter Moïna erholen kann. Man erzählt Julie, dass am Tag zuvor eine schwer kranke Frau mit einem ebenso kranken Kind zu Fuß von Spanien hergekommen sei. Sie liege in einem Zimmer und werde wahrscheinlich sterben. Julie eilt der Unbekannten zu Hilfe – und muss mit Schrecken feststellen, dass es sich dabei um ihre Tochter Helene handelt. Ihr Ehemann, der Piratenkapitän, ist bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen. In ihren letzten Worten wirft die Sterbende ihrer Mutter mangelnde Liebe vor.

Die Muttermörderin

Mit 50 Jahren ist Julie bereits ergraut, von ihrer einstigen Schönheit sind nur noch Spuren geblieben. Moïna hat inzwischen den Grafen St. Héreen geheiratet. Die bezaubernde junge Frau ist der Stolz ihrer Mutter, aus Liebe hat diese ihr das ganze Familienvermögen überlassen und für sich selbst nur eine bescheidene Leibrente behalten. Allerdings gilt Moïna in der höheren Gesellschaft als verwöhnt und nichtsnutzig; sie hat nichts anderes als Bälle und sonstige Vergnügungen im Kopf. Während ihr Ehemann in politischer Mission verreist, lässt sie sich auf ein Abenteuer mit einem ehrgeizigen Gecken ein, dem nichts heilig ist und der mit ihren Gefühlen ein zweifelhaftes Spielchen treibt.

„Die Frauen haben ein unnachahmliches Talent, ihre Gefühle auszudrücken, ohne zu deutliche Worte zu gebrauchen; ihre Beredsamkeit liegt hauptsächlich im Akzent, in der Bewegung, in der Haltung und im Blick (...)“ (S. 85)

Die Marquise sieht dem Verhalten ihrer Tochter mit wachsender Sorge zu, sie kann ihren Widerwillen gegen den jungen Mann kaum verbergen. Ihre Besorgnis hat einen tieferen Grund: Der Geliebte ihrer Tochter ist niemand anders als Alfred von Vandenesse; die beiden sind also, ohne es zu wissen, Halbgeschwister. Eines Tages entschließt sich die Marquise, mit Moïna zu sprechen. Sie redet ihr eindringlich ins Gewissen, kann jedoch die Verwandtschaftsbeziehung zwischen den beiden Liebenden nicht erwähnen, denn das hätte einen gesellschaftlichen Skandal ohnegleichen zur Folge. Dennoch findet die Mutter eindringliche Worte – auf die Moïna allerdings mit kaum verhüllter Respektlosigkeit reagiert. Mitten in der Unterredung fragt sie eine Bedienstete, wo eigentlich ihr Hut geblieben sei. Als sie auch noch eine anzügliche Bemerkung über das einstige Verhältnis zwischen der Marquise und dem Vater ihres gegenwärtigen Geliebten fallen lässt, bricht Julie endgültig das Herz. Sie wird ohnmächtig, muss in ihr Zimmer getragen werden und kämpft mit dem Tod. Nun wird Moïna von Reue überwältigt, doch es ist zu spät: Die Marquise lächelt ihrer Tochter verzeihend zu und stirbt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Frau von dreißig Jahren zeigt die Heldin während verschiedener Lebensabschnitte, zwischen den einzelnen Episoden liegen oft Jahre. In dieser disparaten Struktur spiegelt sich die Entstehung des Romans: Er setzt sich aus sechs ursprünglich unabhängig voneinander entstandenen Erzählungen zusammen. Entsprechend stark variieren Stil und Erzähltempo. So wird etwa der Brudermord der jungen Helene von einem Ich-Erzähler geschildert, der danach wieder spurlos verschwindet, während der Rest der Geschichte aus auktorialer Perspektive erzählt wird. Neben zahlreichen dramatischen Episoden enthält der Roman viele Passagen, in denen gesellschaftliche, politische und existenzielle Fragen erörtert werden, oft in essayistischer Art und Weise. Besonders überzeugend sind die psychologisch feinfühligen Beschreibungen von Julies ehelichem Elend. Zweifel, Trauer und das Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung der Hauptfigur werden meisterhaft analysiert und in allen Details seziert, und dies in einer Sprache, die stets geradlinig und mitreißend wirkt.

Interpretationsansätze

  • Die Frau von dreißig Jahren ist ein psychologischer Eheroman. Balzac schildert die Ehe als Institution, die die Bedürfnisse des Individuums missachtet und fast zwangsläufig zu Routine, Langeweile und unüberwindbarem Unglück führt.
  • Indem Julie die besorgten Warnungen ihres Vaters in den Wind schlägt, stellt sie ihre jugendliche Sentimentalität über die Lebenserfahrung. Ein Leben lang verfolgt sie das Dilemma zwischen Instinkt und Vernunft. Ihre Gefühle bieten ihr keine Sicherheit oder seelische Stabilität, sondern führen bestenfalls zu kurzzeitigem Glück. An ihrer aussichtslosen Lage vermögen sie nichts zu ändern.
  • Julie scheitert an sterilen Konventionen und starren Vorurteilen, die das individuelle Glück untergraben. Sie erlebt die Gesellschaft als Gefängnis, aus dem es letztlich kein Entkommen gibt.
  • Der Roman trägt deutlich feministische Züge: Während die Ehe dem Mann alle nur erdenklichen Freiheiten einräumt, zwängt sie die Frau in ein steifes Korsett aus Pflichten und Erwartungen. Die einzige Rolle für eine Gattin ist die der klaglos gehorchenden Dienerin.
  • Victor d’Aiglemont erscheint als ehrenhaftes Mitglied der Gesellschaft, hat jedoch gerade in der Konventionalität dieser Rolle für die widersprüchlichen Gefühle seiner Frau nicht das geringste Empfinden. Deren Sehnsucht nach existenzieller Erfüllung überfordert ihn und lässt das Paar rettungslos in Schweigen und Entfremdung versinken.
  • Im Gegensatz zu ihrer Mutter findet Helene zwar die wahre Liebe – allerdings erhält diese durch ihre märchenhaften Züge etwas Utopisches. Außerdem ist sie ans Verbrechen und damit an eine Außenseiterrolle geknüpft. Als gesellschaftliches Gegenmodell taugt Helenes Beziehung zu ihrem romantischen Seeräuber nichts. Sie erscheint bestenfalls als individueller Fluchtweg.

Historischer Hintergrund

Napoleons Aufstieg und Fall

Der auf Korsika geborene Napoleon Bonaparte war der größte Feldherr seiner Epoche. Während der Französischen Revolution 1789 stieg er zum Oberstleutnant der korsischen Nationalgarde auf, später zum Oberbefehlshaber der französischen Armee in Italien, wo er vier siegreiche Schlachten gegen Österreich und dessen Verbündete ausfocht. Äußerst populär machte ihn der berühmte Ägyptenfeldzug, von dem er 1799 zurückkehrte, um in Frankreich die Macht zu übernehmen – zunächst als Erster Konsul, fünf Jahre später als vom Papst geweihter Kaiser der Franzosen. Trotz seiner Stellung als diktatorischer Alleinherrscher vollendete Napoleon einige der französischen Revolutionsideale. So ließ er etwa im Code civil (auch Code Napoleon genannt) die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz sowie die Religionsfreiheit festschreiben. Dank einer beeindruckenden Serie erfolgreicher Feldzüge avancierte Napoleon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zum mächtigsten Mann Europas. Er eroberte das Königreich Neapel und besetzte einen großen Teil des preußischen Territoriums. Spanien und Portugal gerieten ebenfalls unter napoleonische Herrschaft, und auch Österreich musste Gebiete an Frankreich abtreten.

Zum Wendepunkt wurde der 1812 begonnene Russlandfeldzug. Er zehrte die Kräfte der französischen Armee auf und endete in einem militärischen Debakel. 1814 musste Napoleon abdanken, durfte jedoch seinen Kaisertitel behalten und zog sich auf die Mittelmeerinsel Elba ins Exil zurück. Nach einer dramatischen Flucht kehrte er 1815 noch einmal an die Macht zurück, es begann die „Herrschaft der Hundert Tage“. In der legendären Schlacht bei Waterloo fügten ihm die preußischen und englischen Streitkräfte am 18. Juni 1815 eine vernichtende Niederlage zu. Seine letzten Jahre verbrachte der Feldherr als Verbannter auf der Insel St. Helena im Südatlantik. Nach seinem Niedergang wurden die alten europäischen Monarchien am Wiener Kongress weitgehend wieder eingesetzt. Es begann die Zeit der Restauration, während der freiheitliche Bewegungen unterdrückt wurden.

Entstehung

Die Frau von dreißig Jahren setzt sich aus sechs Erzählungen zusammen, die zwischen 1831 und 1834 entstanden und zunächst in verschiedenen Zeitschriften publiziert wurden. Unter ständigem finanziellen Druck stehend, überarbeitete Balzac diese Vorlagen für seinen großen Romanzyklus Die menschliche Komödie und fügte sie zu einem Werk zusammen, das 1842 unter seinem heutigen Titel erschien. Der Roman ist von zahlreichen literarischen Strömungen seiner Zeit beeinflusst, u. a. von den gefühlvollen Erzählungen François-René de Chateaubriands und den Schauerromanen des Iren Charles Robert Maturin. Daneben trägt Balzacs Werk auch Züge des zeitgenössischen Reise- und Abenteuerromans sowie sentimentaler Trivialerzählungen – etwa in der kruden Episode über Helenes Flucht mit einem Piraten. Zeittypisch ist ferner die Schilderung des jungen Engländers, dessen heldenhafter Edelmut ein im Frankreich der ersten Jahrhunderthälfte weit verbreitetes Klischee bediente. Die Schilderungen der unglücklichen, in Konventionen gefangenen Liebe sind hingegen ein Tribut an das dritte Kapitel von Stendhals Essay De l’amour.

Wirkungsgeschichte

Die Frau von dreißig Jahren übte auf das zeitgenössische Publikum große Faszination aus und ist bis heute eines von Balzacs beliebtesten Werken geblieben. Dies hängt nicht zuletzt mit den Eigenschaften der Hauptfigur zusammen, die als 30-Jährige zwar bereits auf ein wechselvolles, leidgeprüftes Leben zurückblickt, zugleich aber noch über die erotische Anziehungskraft und die innere Unruhe einer jungen Frau verfügt. Ein Zeitgenosse Balzacs, der Literaturkritiker Charles Augustin Sainte-Beuve, meinte in dem Roman sogar den Schlüssel zu Balzacs Ruhm, vor allem beim weiblichen Publikum, zu erkennen: „Die Frauen sahen ihm später manches nach und glaubten ihm bei jeder Gelegenheit aufs Wort, weil er sie das erste Mal so gut erraten hatte.“ Allerdings wurde dem Werk auch vorgeworfen, es sei weniger überzeugend durchkomponiert als andere Balzac-Romane. Insbesondere könne es nicht darüber hinwegtäuschen, dass es aus sechs ursprünglich unabhängig voneinander entstandenen Erzählungen zusammengesetzt sei. „Hat Balzac je etwas Schlechteres geschrieben?“, polterte etwa Schriftsteller André Gide. Als der wohl erste Roman, der mit überzeugendem psychologischem Realismus das Elend einer unglücklichen Ehe schildert, gehört Die Frau von dreißig Jahren zu den einflussreichsten Werken der Weltliteratur. Das gilt im Übrigen für den ganzen Zyklus der Menschlichen Komödie. Dessen Romane sind dank ihrer ungeschminkten Darstellung der gesellschaftlichen Realität, ihrer zielstrebigen Handlung, ihrer vielschichtigen Figuren und der auktorialen Erzählweise zu Musterbeispielen traditionell-realistischen Erzählens geworden. Das Prinzip, eine ganze Reihe von Romanen durch wiederkehrende Themen und Figuren zu einer übergeordneten Einheit zu verbinden, hat der große französische Naturalist Émile Zola in seinem Zyklus Die Rougon-Macquart übernommen.

Über den Autor

Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 in Tours geboren. Sein Vater, der Sohn eines Bauern, hat sich zum leitenden Beamten hochgearbeitet, seine Mutter stammt aus gutbürgerlicher Familie. 1814 zieht die Familie Balzac nach Paris. Ein Jurastudium bricht der junge Balzac ab, um Schriftsteller zu werden. Lange Jahre ist er erfolglos. Er macht Schulden, die ihn für den Rest seines Lebens drücken werden, als er sich 1826 als Verleger versucht und eine Druckerei kauft, die zwei Jahre später Konkurs anmelden muss. 1829 stellt sich erster schriftstellerischer Erfolg ein, der ihm Zutritt zu Adelskreisen verschafft. Er führt ein Leben über seine Verhältnisse und hat viele Liebschaften mit zumeist verheirateten Damen. 1832 tritt die ukrainische Gräfin Eva Hanska mit ihm in Briefkontakt. Die beiden schreiben sich 18 Jahre lang und sehen sich gelegentlich auf Reisen, bis sie ihn wenige Monate vor seinem Tod schließlich heiratet. Balzac schreibt einen Roman nach dem anderen. Er fasst seine Werke bereits früh in Gruppen zusammen. Während der Entstehung eines seiner bekanntesten Texte, Le père Goriot (Vater Goriot, 1834/35), hat er die Idee, dieselben Romanfiguren in verschiedenen Werken auftreten zu lassen und so ein überschaubares, vielfältig verwobenes Romanuniversum zu schaffen. Das Projekt der Comédie humaine, der Menschlichen Komödie, entsteht mit seinen Großgruppen und Untergruppen und dem Ziel, ein umfassendes Sittengemälde von Balzacs Zeit zu entwerfen. Dafür erlegt sich der Schriftsteller ein unglaubliches Arbeitspensum auf, schreibt oft bis zu 17 Stunden am Tag. 91 der 137 geplanten Romane und Erzählungen kann er fertigstellen. Zu den bekanntesten zählen Illusions perdues (Verlorene Illusionen), Eugénie Grandet, Splendeurs et misères des courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen) und La peau de chagrin (Das Chagrinleder). Balzac gilt zusammen mit Stendhal und Flaubert als der Begründer des literarischen Realismus in Frankreich. Die ständige Überanstrengung ruiniert seine Gesundheit, er stirbt am 18. August 1850 in Paris.

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