Friedrich Nietzsche
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Insel Verlag, 2000
Was ist drin?
Das berühmte Frühwerk Nietzsches, entstanden aus seiner Auseinandersetzung mit Wagner, Schopenhauer und den alten Griechen.
- Philosophie
- Moderne
Worum es geht
Nietzsches Ästhetik
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ist eine Art Einlasstor zu Nietzsches Philosophie – trotz einiger Mängel in der logischen Struktur und in der inhaltlichen Substanz des Werkes. Hier findet sich die berühmte Differenzierung zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen, von der auch Nietzsches spätere Schriften geprägt sind. Vor allem aber setzt hier die Auseinandersetzung mit den Werken Richard Wagners ein, die für Nietzsche das Rauschhafte, Mythische in der Musik verkörpern. Offensichtlich spielt er hauptsächlich auf Wagner an, wenn er sich die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist der Musik erhofft. Deutlich ist auch der Einfluss Schopenhauers, dessen zutiefst pessimistische Welthaltung Nietzsche aufgreift, so etwa den Ansatz, dass die Welt überhaupt nur aus einer ästhetischen Perspektive zu ertragen sei. Aus heutiger Sicht eher befremdlich, wenn nicht gar abstoßend, wirkt der deutsch-nationale Überschwang, verbunden mit dem Glauben an die „Kraft des deutschen Volkes“. Dennoch: Wer sich ernsthaft auf den großen Freidenker einlassen will, kommt um dieses Buch kaum herum.
Take-aways
- Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ist Friedrich Nietzsches Erstling.
- Inhalt: In der Kunst gibt es zwei gegenläufige Prinzipien: das apollinische, maßvolle und das dionysische, rauschhafte. In der Nachfolge von Sokrates wurde das Apollinische in der Kunst der Antike derart überhöht, dass die griechische Kultur daran zugrunde ging. In Deutschland besteht Hoffnung auf ein Wiedererstarken des Dionysischen durch die Musik Richard Wagners.
- Nietzsche teilt Schopenhauers Auffassung, die Welt sei nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Allein in der Kunst liege die ganze Menschenwürde.
- Sein Glaube an die Verheißungen der deutschen Kultur trägt durchaus nationalistische Züge.
- Die Vorliebe des Autors für das Dionysisch-Rauschhafte spiegelt sich im Stil des Werks wider.
- Nietzsche schrieb das Buch während des Deutsch-Französischen Kriegs in den Alpen.
- Nachdem er drei Jahre zuvor habilitiert hatte, wollte sich der 27-Jährige mit diesem Werk im philologischen Diskurs seiner Zeit Gehör verschaffen.
- Die Rezeption fiel ernüchternd aus. Kollegen aus anderen philologischen Fakultäten verfassten sogar Pamphlete gegen das Werk.
- Rückblickend distanzierte sich Nietzsche von dem Buch und nannte es „schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bildwirrig“.
- Zitat: „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist.“
Zusammenfassung
Rausch und Traum
Die Entwicklung der Kunst ist zwei Prinzipien unterworfen: dem Apollinischen und dem Dionysischen. Die beiden Begriffe sind von den griechischen Gottheiten Apollon und Dionysos abgeleitet und bilden ein Gegensatzpaar, das das gesamte Wesen der antiken Kunst und Kultur beleuchtet. Man kann sie auch als Kunstprinzipien des Traums und der rauschhaften Verzückung bezeichnen. Der schöne Schein der Traumwelten ist zunächst einmal die Voraussetzung aller bildenden Kunst. Apollon ist der Gott der bildnerischen Kräfte und zugleich der wahrsagende Gott. Zu ihm gehört die maßvolle Begrenzung, die Kontrolle von Gefühlsregungen. Das Dionysische ist genau das Gegenteil davon: Maßlosigkeit, Entfesselung, Hingabe an rauschhafte Zustände sowie an unmittelbar körperliche und geistige Lustempfindungen. Im Dionysischen ist der Mensch nicht nur Künstler, er wird selbst zum Kunstwerk.
„Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir (...) zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwicklung der Kunst an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist (...)“ (S. 27)
Auch im Künstler selbst sind die beiden Urkräfte, Traum und Rausch, verankert. Das rauschhafte Künstlertum hat jedoch nichts mit der Entfesselung barbarischer Kräfte zu tun, ja es kann sich sogar nur auf einem so hoch entwickelten Niveau wie demjenigen der damaligen griechischen Kultur entfalten. Apollinisch zu sein heißt hingegen auch naiv zu sein, wobei diese Naivität kein unvermeidlicher Zustand ist, sondern eine besondere Befähigung des Geistes. Die beste und reinste Ausprägung des naiven Künstlers in der griechischen Kultur ist der Epiker Homer.
Die gegenseitige Durchdringung von Lyrik und Musik
Die apollinische Kunst ist eine Kunst des schönen Scheins und hat gerade als solche ihre Berechtigung. Sie ist eine Kunst des Maßes und der Selbstbeschränkung und damit ein notwendiger Gegenpart zur titanenhaften Kunst des Dionysos. Nur wo das Maß herrscht, kann sich auch das Übermaß Bahn brechen. Insofern gehören das Dionysische und das Apollinische eng zusammen.
„Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben.“ (S. 50)
Was die Zuordnung der verschiedenen Künste zu diesen beiden Grundprinzipien betrifft, so ist der Lyriker von gleicher Natur wie der Musiker; das Sprachliche ist in seinem Ursprung mit dem Melodischen, Rhythmischen eins. Lyriker und Musiker sind ihrem Wesen nach dionysisch. Der bildende Künstler hingegen ist mit dem Epiker verwandt, beide sind in die reine Betrachtung der Bilder versunken und somit apollinisch. Arthur Schopenhauer hat völlig Recht: In der Bedeutung von Kunstwerken liegt unsere ganze Menschenwürde verborgen.
Der Ursprung der griechischen Tragödie
Der Überlieferung nach soll die griechische Tragödie aus dem „tragischen Chor“ hervorgegangen sein. August Wilhelm Schlegel bezeichnet den Chor als „idealischen Zuschauer“. Schiller nennt ihn eine „lebendige Mauer, welche die Tragödie um sich zieht“. Der dionysische Zustand beinhaltet auch ein lethargisches Element: Das alltägliche Leben wird nach jedem Rauschzustand als ekelhaft empfunden, und die Erkenntnis, die man dadurch gewinnt, hält einen vom Handeln ab. Allein die Beschäftigung mit der Kunst vermag diesen Ekel, diese Lethargie zu überwinden.
„Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik ebenso abhängig ist vom Geiste der Musik, als die Musik selbst, in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt.“ (S. 58)
Auf die Kunst bezogen, bedeutet das: Der Dichter ist jemand, der das Dionysische lebendig in sich fühlt. Kraft seiner dionysischen Erregung vermag er sich einem größeren Publikum mitzuteilen. Dieses taucht dabei in einen Zustand der Selbstvergessenheit ein. Diese Verzauberung ist Voraussetzung aller dramatischen Kunst. Die griechische Tragödie ist ursprünglich als dionysischer Chor zu verstehen, oder anders formuliert: als apollinische Versinnbildlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen.
Das Tragische als Überhöhung des Leidens
Der Dialog als apollinischer Bestandteil der griechischen Tragödie ist einfach, durchsichtig und schön. Seine Heiterkeit ist nicht mit Behaglichkeit zu verwechseln, sondern ähnelt eher einer ironischen Distanz. Selbst in der von Sophokles verfassten Tragödie des unglückseligen Ödipus ist diese Heiterkeit zu spüren. Sehr schön zeigt sich die Dualität von Dionysischem und Apollinischem bei Aischylos: Dem passiven Ödipus steht der handlungskräftige Prometheus gegenüber. Prometheus ist das Sinnbild des ins Titanische gesteigerten Menschen, der sich selbst seine Kultur erkämpft und die Götter zwingt, sich mit ihm zu verbinden. In keiner anderen Figur der griechischen Mythologie ist die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur, die Unvermeidlichkeit ihrer Verstrickung in Schuld so plastisch dargestellt. Prometheus muss Frevel ausüben, ihm bleibt gar nichts anderes übrig.
„Alles, was im apollinischen Teile der griechischen Tragödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön aus.“ (S. 74)
Es gilt als gesichert, dass die griechische Tragödie in ihren Anfängen lediglich die Leiden des Dionysos thematisierte, dass dieser überhaupt ihr einziger Bühnenheld war. Ein Dionysos-Mythos erzählt, wie er von den Titanen in sieben Teile zerstückelt wird. Diese Zerstückelung, das „dionysische Leiden“, liegt sämtlichen griechischen Tragödien zugrunde, auch dem Prometheus-Mythos. Dieser fasst die gesamte Mysterienlehre der Tragödie zusammen: die Einheit alles Vorhandenen, die Individualisierung als Ursache allen Übels, die Kunst als Hoffnung und Rettung.
Sokrates als Totengräber der Tragödie
Die griechische Tragödie hat sich im Unterschied zu anderen damaligen Kunstgattungen selbst der Vernichtung preisgegeben. Stellvertretend für den Übergang von der griechischen Tragödie zu den späteren Komödien steht der Dichter Euripides. Dessen volkstümliche Sprache hat der bürgerlichen Mittelmäßigkeit und damit dem breiten Erfolg der neuen Komödien den Weg geebnet. Gleichzeitig war Euripides stark genug, um sich vom Publikum nicht in seinem Genius korrumpieren zu lassen. Misserfolge und heftige Anfeindungen wusste er stets abzuwehren.
„Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form (...)“ (S. 86)
Der Übergang, den Euripides’ Dramen markieren, verdeutlicht die Machtverschiebung vom Gott Dionysos hin zum Denker Sokrates. Dieser Schritt läutete das Ende der Tragödie ein. Während Euripides als Dichter seine Dramen mit sokratischer Kühle entwarf, setzte er sie als Schauspieler mit leidenschaftlicher Intensität in Szene. Er zwang dem Drama eine Vernunft auf, die das Pathos, auf das er abzielte, unglaubwürdig erscheinen ließ.
„Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus.“ (S. 97 f.)
Der ästhetische Sokratismus – in seinem Streben nach Weisheit und wissender Kontrolle – ist darauf ausgerichtet, das Dionysische in der Kunst zu vernichten. Sokrates erkannte zwar, dass es an wahrer Erkenntnis mangle, stellte aber gerade diese Erkenntnis auf die höchste Stufe menschlicher Fähigkeiten. Dazu passt, dass Sokrates wie auch sein Schüler Platon mit der Tragödie nichts anfangen konnten – sie bot ihnen nicht den Nutzen der Erkenntnis. Mit Sokrates überwucherte die Philosophie die Kunst. So spielte der Chor (der musikalisch-dionysische Urgrund der Tragödie) schon bald keine Rolle mehr, seine Bedeutung im Drama wurde mehr und mehr heruntergeschraubt. Der ästhetische Sokratismus weist derart wenig Kunstverstand auf, dass man sich fragen muss, ob er nicht im direkten Widerspruch zur Kunst steht. Der Irrglaube des Sokrates und seiner Schüler besteht darin, dass sie das Denken als geeignetes Mittel ansehen, um dem Sein auf den Grund zu gehen.
Antidionysische Kräfte
Was für Schlüsse lassen sich aus der Entwicklung und dem Ende der griechischen Tragödie ziehen? Nach wie vor gilt, dass die Musik die ursprünglichste, wirksamste aller Künste ist; nirgendwo wird das Dionysische – und seine Eindämmung durch das Apollinische – direkter erlebbar. Beide, dionysische und apollinische Kunst, wollen uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen, allerdings auf unterschiedliche Art und Weise. Heute interessiert die Frage, ob eine Auferstehung der dionysischen Tragödie in der Gegenwart möglich ist (dies würde mit einer Wiederbelebung des Mythos einhergehen) oder ob die kontrollierenden und nach Wissen strebenden Kräfte immer noch stark genug sind, um die unbewussten zu unterdrücken.
„,Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche‘: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie.“ (S. 110)
Gegen die Kraft des Dionysischen ist im neueren Drama die Dominanz der Charakterdarstellung gerichtet, vor allem in Verbindung mit allzu großem psychologischem Raffinement. Noch deutlicher spiegelt sich der antidionysische Geist in den Schlussabschnitten der heutigen Dramen wider. Dort wird der metaphysische Trost, mit dem das dionysische Schauspiel endete, immer mehr vom Deus ex Machina (Gott aus der Maschine, unerwarteter Helfer) abgelöst.
Die deutsche Musik als Erlöserin
Im Schoß der sokratischen, theoretischen Kultur schlummert ein Unheil, das allmählich auch dem modernen Menschen Angst macht. Kant und Schopenhauer aber haben einer neuen tragischen Kultur den Weg bereitet. Sie haben den irrigen, durch Sokrates eingeleiteten Optimismus, der an die Früchte der Erkenntnis glaubt, überwunden. Gleichzeitig hat der innerste Gehalt der sokratischen Kultur fortgelebt, besonders in der Oper. Die Opernkultur hat etwas zutiefst Affektiertes und Unnatürliches an sich. In ihrem Verlangen, das Wort neben der Musik verständlich zu machen, bedient sie den theoretischen Menschen, den Laien, nicht aber den wahrhaften Künstler; dieser ist und bleibt der dionysischen Tiefe der Musik verhaftet. Im Gegensatz zur wahren Musik, die tragisch ist, bevorzugt die Oper die Idylle und tendiert zur bloßen Nachbildung anderer, ursprünglicher Kunstwerke.
„Möge uns niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Altertums zu verkümmern suchen; denn in ihm finden wir allein unsre Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik.“ (S. 154)
In unserer Zeit hat die deutsche Kultur, besonders die deutsche Musik, jene dionysische Kraft entwickelt, um uns von der manierierten Opernkunst zu erlösen. In der neuen deutschen Musik steckt eine Energie, die alles Lügnerische hinwegzuschwemmen vermag. Sie lässt auf eine Wiedergeburt der Tragödie hoffen.
„Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten!“ (S. 155)
Mit dem Glauben an die Wiedergeburt des griechischen Altertums geht unsere Hoffnung einher, auch den deutschen Geist zu erneuern und zu läutern. Die griechische Kultur ist das Maß aller Dinge, sie ist sogar der römischen bei Weitem überlegen. An ihren Leistungen müssen sich alle Kulturen messen lassen, auch die heutige. Um zu verstehen, wie Tragödie, Mythos und Musik zusammengehören, höre man sich etwa den dritten Akt von Wagners Tristan und Isolde an. Dieses Werk geht mit seinen in die Ewigkeit gezogenen Melodielinien und seiner Wortkunst weit über die Oper hinaus, es verfällt nicht den Täuschungen apollinischer Kunst und übertrifft jene in jeder Hinsicht. Werke wie dieses schaffen die Verbrüderung der beiden Gottheiten Apollon und Dionysos in einem einzigen Kunstwerk und erreichen damit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt.
Die Welt als ästhetisches Phänomen
Der tragische Mythos ist als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit mit apollinischen künstlerischen Mitteln zu verstehen. Er führt die Welt der sinnlichen Erfahrbarkeit an ihre Grenzen. Mit der Wiedergeburt der Tragödie wird auch der ästhetische Zuhörer wiedergeboren, der an die Stelle des kritischen tritt. Dieser kritische, das Kunstwerk zersetzende Zuhörer hat die Kultur degenerieren lassen. Wer wissen will, zu welcher Art Zuhörer er gehört, sollte prüfen, mit welchen Empfindungen er Wundern begegnet, genauer: ob er genügend kindliche Naivität und eine genügend starke Reinheit des Wesens besitzt, um sich von ihnen begeistern zu lassen. Würde die gesamte gegenwärtige Kultur von der reinen Abstraktion der sokratischen Weisheit beherrscht, so wäre das ein wahrer Bildungskrampf. Deutschland würde es dann wie Frankreich gehen. Ein Glück also, dass wir die deutsche Musik haben und mit ihr die Kraft, dem Mythos zur Wiedergeburt zu verhelfen. Die Griechen mögen dabei Ansporn und Warnung zugleich sein: Sie haben uns vor Augen geführt, wie eine lebendige Kultur in Degeneration versinken kann.
„Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist.“ (S. 164 f.)
Schlimm wäre, wenn uns dasselbe passieren würde. Denn die Welt ist nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Selbst das Hässliche, das Disharmonische ist Bestandteil einer übergeordneten Harmonie und wird auf wunderbare Weise in der musikalischen Dissonanz erfasst. Musik und tragischer Mythos sind Bestandteile der dionysischen Kräfte, die in einem Volk schlummern. Im Zusammenwirken mit dem Apollinischen machen sie dessen kulturelle Kraft aus.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Geburt der Tragödie ist in 25 Abschnitte unterteilt, die kein durchweg logisches Bild ergeben. Die kurze Schrift hat die typischen Schwächen eines Frühwerks – Schwärmerei und Unausgegorenheit –, aber auch Gedankenfülle und Originalität. Was das Buch zusammenhält, ist eine Art „Chronologie der Ereignisse“, die Nietzsche vom Ursprung der griechischen Tragödie im Dionysos-Kult über ihr Absterben durch das Aufkommen der sokratischen Philosophie bis hin zu einer möglichen Wiedergeburt zieht. Nietzsche will offensichtlich, dass der beschworene dionysische Geist auch sein eigenes Werk durchweht: Immer wieder verweigert er klare philosophische Aussagen zugunsten hochemotionaler Bekenntnisse. Diese Neigung zur Emphase, der bildhafte, kraftvolle, mitreißende Stil macht die Faszination des Werkes aus. Dazu kommt der scharfsinnige, psychologisch geschulte, oft verblüffend unkonventionelle Blick, mit dem die Phänomene der griechischen Geisteskultur seziert werden. Zwar ist Die Geburt der Tragödie noch nicht ganz auf dem Niveau des späteren, stilistisch brillanten und inhaltlich konsequent provokativen Nietzsche. Aber das enorme Talent dieses Autors – nicht nur als Denker, sondern auch als Dichter – ist bereits hier offensichtlich.
Interpretationsansätze
- Die Geburt der Tragödie fordert den Triumph des Gefühls über den Verstand. Diese Feier des Dionysischen, Rauschhaften ist allerdings keineswegs neu. Nietzsches wissenschaftsskeptische Schwärmerei hat ihre ersten Vorläufer bereits in der deutschen Frühromantik.
- Neben Immanuel Kant ist es in erster Linie Arthur Schopenhauer, der Nietzsche geprägt hat. Dessen pessimistisches Weltbild teilte er zu der Zeit, als er Die Geburt der Tragödie schrieb, noch unwidersprochen – ebenso wie den Glauben, dass die einzige Möglichkeit zur Überwindung des Weltlichen in der Kunst liege. Die griechische Philosophie sah er dagegen als Teil eines Zersetzungsprozesses, der den Niedergang einer glorreichen Kultur besiegelte.
- Nietzsche verabscheut den „sokratischen Ästhetizismus“ zutiefst und sieht in ihm das Grundübel einer degenerierten Kultur. Die Wertmaßstäbe, mit denen er die griechische – und zeitgenössische – Geisteswelt misst, rücken sein Gedankengut in unangenehme Nähe zur späteren Kunstauffassung der Nationalsozialisten. Auch diese kritisierten die „Entartung“ der Kunst und forderten deren deutsche Erneuerung.
- Die musiktheoretischen Aspekte des Werks haben einen eher schwachen Unterbau. Zwar benennt Nietzsche Richard Wagner ausdrücklich als einen von ihm bewunderten Komponisten. Wen er sonst noch zu den Vertretern jener neuen deutschen Musik zählt, von der er sich so viel erhofft, bleibt aber offen.
- Nietzsches Verherrlichung des Rausches bleibt bis in sein Spätwerk hinein ein hervorstechendes Merkmal seiner Philosophie. Seine späteren Attacken gegen Christentum und Philisterei schließen nahtlos daran an.
- Genau in Nietzsches Todesjahr (1900) erschien Freuds Traumdeutung, die das Unbewusste mit einem Schlag zum Thema machte. Bei Nietzsche ist schon viel von der Thematik spürbar: das Apollinische als das kontrollierende Bewusstsein, das Dionysische als das ungeregelte, maßlose Unterbewusste.
Historischer Hintergrund
Deutschland auf dem Weg zur Großmacht
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Deutschland vom Agrarstaat hin zu einer Industriegesellschaft. Politisch war die Zeit von national gesinnten, auf ein vereintes Deutschland hinwirkenden Kräften geprägt, die letztlich zu einer Auflösung der jahrhundertealten deutschen Kleinstaaterei und zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs (1871) führen sollten. In den Jahren zuvor befanden sich Preußen und Österreich in einer Dauerfehde um die Vorherrschaft im so genannten Deutschen Bund. Diese Auseinandersetzung führte 1866 zum Preußisch-Österreichischen Krieg, aus dem die Preußen als Sieger hervorgingen. Eine Folge des Krieges war die Gründung des Norddeutschen Bundes, der zunächst als militärisches Bündnis konstituiert und nach der Annexion mehrerer deutscher Kleinstaaten zu einem eigenständigen Bundesstaat ausgerufen wurde. Die Neugründung provozierte Frankreich, das Preußen schließlich den Krieg erklärte. Doch die Preußen schlugen die Angreifer im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71). Nach langwierigen diplomatischen Verhandlungen und unter der klaren politischen Vormachtstellung Preußens wurde 1871 das zweite Deutsche Kaiserreich gegründet. Den größten Anteil an der hegemonialen Politik Preußens hatte der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck. Er war es, der die Verfassung des Deutschen Reichs maßgeblich prägte. Innenpolitisch war Bismarck auf eine Stärkung der Monarchie bedacht, außenpolitisch strebte er eine Vormachtstellung Deutschlands in Zentraleuropa an. Er koalierte und kooperierte aber durchaus auch mit den liberalen Kräften seines Landes, beschränkte die Macht der Kirche und versuchte weite Kreise der Arbeiterschaft durch die Sozialgesetze einzubinden.
Entstehung
„Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggingen, saß der Grübler und Rätselfreund, dem die Vaterschaft dieses Buchs zuteil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen ...“, schrieb Nietzsche über die Umstände der Entstehung der Geburt der Tragödie. Der „Donner der Schlacht von Wörth“ war Teil des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, der mit einem klaren Sieg Preußens endete und wahrscheinlich einiges zu dem nationalen Überschwang beigetragen hat, der Nietzsches Werk vor allem gegen Ende hin prägt. Die Geburt der Tragödie basiert auf einer Reihe von Aufzeichnungen, die Nietzsche in den beiden vorangegangenen Jahren notiert hatte. Der Einfluss seiner Schopenhauer-Lektüre ist darin ebenso wenig zu übersehen wie die offensichtlich sehr bewegenden Eindrücke der Musik Richard Wagners, den er seit 1868 persönlich kannte. 1871 legte er die gesammelten Notizen seinem Verleger vor, der sie im folgenden Jahr publizierte. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war Nietzsche bereits Professor in Basel und gerade mal 27 Jahre alt. 1886 publizierte er eine Neuausgabe mit dem veränderten Titel Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus, mitsamt einem selbstkritischen Vorwort.
Wirkungsgeschichte
Im Nachhinein erscheint es kaum verwunderlich, dass die Rezeption der Geburt der Tragödie äußerst zwiespältig ausfiel. In den philologischen, universitären Zirkeln wurde das Werk durchweg kritisch aufgenommen bzw. der Autor durch Nichtbeachtung bestraft. Das musste Nietzsche besonders hart getroffen haben, hatte er doch gerade hier auf eine erschütternde Wirkung seiner Lektüre gehofft. Was den Fachkollegen jedoch verständlicherweise missfiel, war der gänzlich unwissenschaftliche und unsystematische Zug dieses Werks. Damit wollte Nietzsche offensichtlich auch in Form und Stil seine Abscheu gegenüber allem „Sokratisch-Formalisierenden“ ausdrücken. Er hatte denn auch keine Scheu, Öl ins Feuer zu gießen, indem er sein Werk als ein „im höchsten Sinne wissenschaftliches Buch“ bezeichnete.
Als bitter für Nietzsche erwiesen sich vor allem die gegen ihn gerichteten, harschen Pamphlete des Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, die nur durch Gegenschriften des Philologen und Nietzsche-Freundes Erwin Rohde sowie des Komponisten Richard Wagner gekontert wurden. Nietzsches noch nicht sehr gefestigte Reputation als Wissenschaftler litt unter diesen Anfeindungen deutlich, was sich nicht zuletzt auch in der geringen Zahl der Teilnehmer niederschlug, die seine Lehrveranstaltungen an der Basler Universität besuchten.
Geschätzt wurde Die Geburt der Tragödie nicht nur von Wagner, sondern auch von anderen hochrangigen Künstlern und Intellektuellen, unter ihnen der Dirigent Hans von Bülow und der Komponist Franz Liszt. Nietzsches Begriffsverwendung, vor allem die Begriffe des Dionysischen und Apollinischen, haben in der Kunsttheorie bis heute überlebt, wenn auch mit schwankendem Bedeutungsinhalt.
Über den Autor
Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protestantismus des Elternhauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem unkonventionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkollegen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopenhauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Freundschaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, u. a. wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopenhauer ab. 1879 gibt er wegen einer dramatischen Verschlechterung seines Gesundheitszustands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Augenschmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesundheitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusammenbruch: Aus Mitleid mit einem geschlagenen Droschkengaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicherweise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine unabgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen durch die Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaffensphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigenwillige Autobiografie, die 1908 erscheint.
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