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Die geistige Situation der Zeit

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Die geistige Situation der Zeit

De Gruyter,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Verblüffend, wie aktuell ein Werk über die geistige Situation der Zeit um 1930 auch fast 100 Jahre später noch sein kann.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Widerstand gegen die Masse

Mit dem Rücken zur Wand, die Massen vor sich, der moderne Mensch in arger Bedrängnis – so beschreibt Karl Jaspers die Lage und lässt keinen Zweifel daran, dass sie katastrophal ist. Längst hat sich der Mensch dem blinden Fortschrittsglauben verschrieben. Anstatt zu prüfen und zu bewerten, herrscht weltweit der Nützlichkeitsgedanke vor. Ein Leben im Apparat, angenehm, da materiell abgesichert, aber entmündigt und auf blanke Triebbefriedigung optimiert. Das Selbstsein, so Jaspers, geht darüber unwiederbringlich verloren, denn eigenständiges Denken und Handeln stellt für große Teile der Gesellschaft eine Zumutung dar. Leben wird entwertet, das urmenschliche Bedürfnis nach Verständnis frustriert. Mit aller Kraft stemmt Jaspers sich dem entgegen und fordert vor dem Hintergrund der anonymen Massengesellschaft eine Philosophie, die beim Einzelnen ansetzt und zum Wir übergeht. Obwohl 1930 entstanden, kurz vor den Erfolgen des Nationalsozialismus in Deutschland, ist das Buch nicht hoffnungslos veraltet, sondern hat auch zur geistigen Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einiges zu sagen.

Take-aways

  • Die geistige Situation der Zeit ist das wohl populärste Werk des deutschen Philosophen Karl Jaspers.
  • Inhalt: Der Mensch sitzt in der Klemme. Zwar hat er durch Wissenschaft und Technik die Welt weitgehend nach seinem Maßstab einrichten können, doch nur zum Preis der Selbstaufgabe. Die Kehrseiten zivilisatorischer Bequemlichkeit sind Vereinsamung und ein ständiges Gefühl der Bedrohung durch die Masse. Die Existenzphilosophie wirkt dieser Furcht entgegen, insofern sie einen Prozess der Selbstfindung anstoßen kann.
  • Jaspers kritisiert den Fortschrittsglauben seiner Zeit und erteilt jeglicher Ideologie eine Absage – der Hauptgrund für seine damalige Popularität.
  • Karl Jaspers verfügte über weitreichende Kenntnisse der Psychologie, die ihn besonders für die Position des bedrohten Einzelnen sensibilisierten.
  • Sein Text bietet keine Antworten auf philosophische Fragen, sondern pocht auf die Erkenntnisfähigkeit des Individuums.
  • Jaspers bemüht sich um Allgemeinverständlichkeit und verzichtet auf philosophische Fachbegriffe und Fremdwörter. Viele seiner Aussagen sind dennoch dunkel.
  • Im Buch spiegelt sich der Kulturpessimismus des frühen 20. Jahrhunderts.
  • Die von Jaspers angedachte Existenzphilosophie zur Stärkung des Individuums erweist sich für das 21. Jahrhundert als erstaunlich anschlussfähig.
  • Der Karl-Jaspers-Preis gilt als renommierte Auszeichnung im Bereich der Philosophie und der Psychiatrie.
  • Zitat: „Der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß.“

Zusammenfassung

Das Schicksal des heutigen Menschen

Seit dem Krieg geht die Frage nach der Situation der Zeit jeden an. War sie früher lediglich ein Thema für wenige, treibt sie heute alle Menschen um. Einst fügte sich der Einzelne in sein Schicksal, indem er die Welt als unveränderlich hinnahm und versuchte, bis zum gottgegebenen Ende das Beste daraus zu machen. Dieser Standpunkt ist dem heutigen Menschen fremd. Er sieht die Welt als unvollkommen an und will sie nach seinen Maßstäben verändern. Seine Mittel sind jedoch beschränkt, zumal sich die Welt mit oder ohne sein Zutun ständig verändert und er mit seinem Begreifen gar nicht hinterherkommt. Er muss aber hinterherkommen, weil er sich der Optimierung seiner Lebensbedingungen verschrieben hat. In diesem Zwiespalt ist der heutige Mensch gefangen: Weder gelingt es ihm, sein Leben und damit die Welt, in der er lebt, komplett und zu seinem Vorteil einzurichten, noch schafft er es, eine Kontinuität in sein Leben zu bringen.

Eine Situation der Krise

Diese Situation führt zu einem Gefühl der Ohnmacht. Konnte der Mensch in alter Zeit noch seine Ruhe im Glauben an die göttliche Ordnung finden, strebt er seit dem 16. Jahrhundert über das Gegebene hinaus. Wissenschaft und Forschung haben seine Welt erweitert. Mit dem Anbruch des wissenschaftlichen Zeitalters erwachte auch das kritische Bewusstsein, vor allem die Kulturkritik. Diese richtete sich im Lauf der Zeit auf immer mehr Wirklichkeitsbereiche und stellt überkommene Gewissheiten infrage. Die Situation hat ihren Ursprung im alten Griechenland, wo die Idee einer verstandesmäßigen Erfassbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt aufkam. Doch erst im 19. Jahrhundert setzte der abendländische Mensch diese Idee um und ist seitdem dabei, sich die Welt mit den Mitteln der Technik systematisch zu unterwerfen. Es gibt nichts grundsätzlich Unerklärliches mehr, alles ist machbar – zumindest theoretisch. Diese Tatsache bestimmt das Handeln des Menschen und wirkt zugleich verstörend, da er nicht jeden Gedanken in der Wirklichkeit umsetzen kann. Die Gestaltbarkeit der Welt ändert im permanenten Fortschritt immer wieder ihre Bedingungen. Die Erkenntnis dessen führt zu einer Unzufriedenheit, die sich in unserer Zeit zu einem Krisenbewusstsein ausgeweitet hat. Die Daseinsordnung ist in einem stetigen Wandel begriffen. Daran ändern auch die Möglichkeiten der Technik nichts. Zumal der technische Fortschritt nicht nur Lösungen findet, sondern immer auch neue Probleme schafft. Zudem lassen sich die Kräfte der Natur nie ganz kontrollieren. Sie bleiben eine stete Bedrohung.

Der Einzelne und die Masse

Das Erkennen seiner Lage macht dem Menschen seine Isolation deutlich. Mit zunehmender Entgötterung und Rationalisierung der Welt hat es keinen Sinn mehr, das Ganze erkennen zu wollen. Alles zerfällt in Teilaspekte. In deren Vielfalt muss sich der Einzelne subjektiv orientieren. Jeder Versuch der Objektivierung bleibt notwendigerweise eine Abstraktion. Der Einzelne kann jedoch durch solche Verallgemeinerungen das Interesse an sich selbst als Subjekt finden. Sein Dasein ist nicht mehr abhängig von überzeitlichen Instanzen wie Gott oder kulturellen Traditionen, sondern allein von der gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation des gegenwärtigen Zeitalters. Dieser Zustand liegt in der Massengesellschaft begründet. Deren Funktion ist die Versorgung des Einzelnen mit materiellen Gütern aller Art. Dieser Umstand führt zu einer durchrationalisierten und mechanisierten Gesellschaft, die ähnlich wie ein Apparat funktioniert. Der Einzelne droht in der Masse aufzugehen. Wenn er eigenwillig auf seinem Selbstsein beharrt, steht er in Konflikt mit der Mehrheitsstruktur der Massengesellschaft.

„Jeder weiß, daß der Weltzustand, in dem wir leben, nicht endgültig ist.“ (S. 5)

Der Einzelne spürt, dass er mehr ist als ein funktionierendes Wesen. Die Gefahr besteht in der Trübung dieser Erkenntnis durch den Apparat. Parteien und Organisationen aller Art geben vor, im Namen der Masse zu sprechen und zu handeln, und suggerieren die bestmögliche Lebensweise. Der einzelne Mensch lernt, dass nur im Kollektiv die optimalen Bedingungen gegeben sind. Diese Haltung führt zur Verabsolutierung der Masse, und zwar weltweit.

„Das Bewußtsein des Zeitalters löst sich von jedem Sein und beschäftigt sich mit sich selbst.“ (S. 16 f.)

Unberührt vom Zustand der totalen Versorgung innerhalb des Apparats existiert der Mensch allerdings weiterhin als reflektierendes Wesen, das immer weiß, dass Alternativen möglich sind – wie der Einzelne diese nun nutzen kann und möchte, ist eine zentrale Frage des zeitgenössischen Menschen. Sie stellt sich dem Einzelnen, denn in der Politik herrscht der Massencharakter ebenso ausschließlich wie in der Gesellschaft. Politik ohne Berücksichtigung des Massenbedürfnisses ist unmöglich geworden. Zwar setzt sich die Masse aus vielen Individuen zusammen, doch deren jeweilige Eigenschaften gehen in der Masse auf. Die Eigenschaften der Masse wiederum wechseln: Sie kann einen primitiven Ausdruck ebenso hervorbringen wie einen überdurchschnittlichen. Sie ist immer in Bewegung.

Leben im Apparat

Gemäß seiner Natur begreift sich der Mensch als geschichtliches Wesen. Er sieht sich hineingestellt in einen historischen Prozess, dessen Anfang und Ende er nicht kennt und gar nicht kennen kann, aber in dessen Verlauf er sich an überlieferten Werten und Ansichten orientiert. Ein vertrautes Umfeld bietet ihm Stabilität. In Familie und Nation findet er seinen Platz. Zugleich lebt er jedoch in einer zunehmend technisierten Welt, einem Apparat, hervorgebracht durch den Erfindungsreichtum des Menschen. Die Errungenschaften dieses Apparats wurden anfangs noch als nützliche Hilfe verstanden und mit Augenmaß zur Verbesserung der Lebensbedingungen angewandt. Der Fortschritt verstärkte sich allerdings dermaßen, dass dem Menschen diese zweite Welt über den Kopf wuchs und sie inzwischen die maßgebliche Ordnung darstellt.

„Das Gefühl eines Bruches gegenüber aller bisherigen Geschichte ist allgemein.“ (S. 19)

Der Apparat und seine Funktion der totalen Versorgung bestimmen jede Facette des menschlichen Zusammenlebens und bringen eine weltweite Einheitskultur hervor. Das menschliche Miteinander wird dem Maßstab Zweckmäßigkeit unterworfen und verliert dabei seine Vielfalt. Die Unterschiede zwischen den Lebensaltern werden zugunsten ewiger Jugendlichkeit eingeebnet. Durch die allgegenwärtige Ausrichtung auf Sachlichkeit wird der tägliche Umgang vereinheitlicht und damit vereinfacht. Diese Einfachheit garantiert eine schrankenlose Kommunikation, auf Kosten der historisch gewachsenen Unterschiede. Um kompromissfähig zu sein, wie es die Ordnung der Massengesellschaft fordert, muss der Einzelne seinen Anspruch auf ein eigenmächtiges Selbstsein zugunsten des Allgemeinwohls zurückstellen. Statt durch einen Führer gelenkt zu werden, beherrscht die Masse sich selbst, in Form einer allumfassenden Bürokratie. Ihr muss dienen, wer vom Apparat profitieren möchte.

„Der Strudel des modernen Daseins macht, was eigentlich geschieht, unfassbar.“ (S. 30)

Seine Abhängigkeit vom Apparat bedroht den Einzelnen in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist sein Dasein in Gefahr, wenn der Apparat zusammenbricht, zum anderen entsteht eine Bedrohung dadurch, dass er dem Apparat einverleibt wird. In diesem Dilemma befällt den Menschen Angst. Unsicherheit, Verlorenheit, Leistungsdruck machen ihn körperlich und seelisch krank. Der Apparat gibt zwar verschiedene Hilfestellungen, etwa in Form sozialer oder medizinischer Absicherung oder durch Eingliederung des Einzelnen in Organisationen, das sind jedoch nur kosmetische Maßnahmen, die die Lebensangst nicht bannen können.

„Das Individuum ist aufgelöst in Funktion.“ (S. 43)

Ein Beispiel für die Funktionsweise des Apparats bietet die Medizin. Auch sie wird immer mehr durchrationalisiert und verkommt so zur Fließbandarbeit. Ein persönliches Verhältnis des Arztes zu seinem Patienten ist in einer solchen Medizinbürokratie nicht mehr vorgesehen. Ähnliches gilt für den Lehrerberuf. Auf dem Feld des Sports dagegen können sich vitale Triebe ohne Gefahr für das Funktionieren des Apparats entfalten; teils in Ausübung eines Sports, teils im Zuschauen. Sportstars verkörpern die nicht ausgelebten Ideale der Massen, wie Heldenmut oder Opferbereitschaft. Einen wirklichen Ausweg aus der Gefahr des Selbstverlusts bietet der Sport dem Einzelnen jedoch auch nicht.

Staat und Erziehung

Der Staat trägt zwar den Apparat, auf den unmöglich verzichtet werden kann, doch er hat ebenso die Macht, die einzelnen Tätigkeitsbereiche mit Ideen zu füllen und sie so von der reinen Nutzbarkeit auf ein geistiges Niveau zu heben. Damit ist allerdings kein Machtstaat um der Macht willen gemeint. Im Bolschewismus wie im Faschismus lauert die Gefahr des blinden Folgens: Entscheidungen werden wenigen überlassen, der Mensch sorgt auf diesem Weg voreilig für Entlastung, wo er sich besser dem Ideenstreit stellen würde. Eben für diesen muss jeder Staat durch seine Autorität sorgen, denn nur im Rahmen eines starken Staates bildet sich eine Gesellschaft, in der die Individuen die Chance haben, am Ganzen teilzuhaben. Das schließt den Führungsanspruch bestimmter Politiker nicht aus, jedoch setzt dieser einen mündigen Bürger voraus, der weiß, worauf er sich einlässt, wen er wählt und aus welchen Gründen er sich für diesen und nicht den anderen Politiker entscheidet. Diese Chance der Demokratisierung ist gegeben.

„Eine vielleicht so noch nie gewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen.“ (S. 55)

Eine umfassende Erziehung gibt dem Dasein einen Sinn. Es wird dadurch als etwas Größeres gedeutet, als es ein bloßer Nutzungsgedanke zulässt. Die Erziehung ist gefordert, die zahlreichen pädagogischen Aspekte zu einer Idee zusammenzufassen und der Jugend nahezubringen. Gleiches gilt für die Erwachsenenbildung, auch sie muss durch den Staat gefördert und in der Breite ausgebaut werden. Hierbei muss es dem Staat gelingen, in der Erziehung einen Ausgleich zwischen den Anforderungen der Daseinsordnung, dem Apparat, und der Überlieferung herzustellen. Letztere bildet eine geistige Gegenwelt, an der sich der Einzelne orientieren kann. Das verhindert, dass er in der anonymen Masse verloren geht.

Bildung und Kunst als Massenware

Auch in der Welt des Geistes zeigt sich die nivellierende Tendenz der Massengesellschaft. Bildung im alten Sinn, als ein Ergriffenwerden des Einzelnen durch die Anschauung schöpferischer Gebilde, geschichtlicher und wissenschaftlicher Zusammenhänge, gibt es nicht mehr. Sie ist den Ansprüchen der Massengesellschaft auf allgemeine Zugänglichkeit von Wissen zum Opfer gefallen. Das Große und Ganze ist zersplittert in die jeweiligen Fachgebiete der Experten. Wissen ist dem Funktionsdiktat unterworfen. Historische Stätten verkommen zu touristischen Attraktionen, und das historische Erbe der Nationen wird zwar bewahrt, doch mehr um der Bewahrung willen als zum Zweck einer ernsthaften Auseinandersetzung. Bildung dient dem Menschen heute als Werkzeug, um an einem speziellen Platz im Apparat sein Spezialistentum einzubringen.

„Technik, Apparat und Massendasein erschöpfen nicht das Sein des Menschen.“ (S. 66)

Journalisten und Künstler erfüllen bloß noch eine Statistenrolle. Vor allem Letztere versagen vor der Übermacht der technisierten Welt. Sie beschreiben und dokumentieren, anstatt eine künstlerische Schöpfung zu vollbringen. Diese ist immer transzendent, sie lässt den Menschen zum Kunstwerk aufblicken und in ihm eine Idee erkennen. Sogar die Philosophie hat ihren Platz im Leben der Menschen längst preisgegeben und tritt, wegen eines Minderwertigkeitsgefühls gegenüber den Naturwissenschaften, ebenfalls als Wissenschaft auf. Einzig die Existenzphilosophie kann dem modernen Menschen einen Weg zum Selbstverständnis weisen.

Existenzphilosophie ist der Schlüssel

Die Existenzphilosophie setzt sich aus den drei modernen Disziplinen Soziologie, Anthropologie und Psychologie zusammen, die alle für sich bestimmte Aspekte des Menschseins fokussieren. Mit dem soziologischen Blick wird die Gesellschaft studiert. So kann vom Aufbau einer Gesellschaft auf den Einzelnen geschlossen werden. Die Anthropologie analysiert die einzelnen menschlichen Charaktere und bildet eine Typenlehre heraus. Die Psychologie erforscht den Widerstreit von Natur und Geist im Menschen. Die Verfechter dieser drei Disziplinen neigen jedoch zur Verabsolutierung ihrer jeweiligen Perspektive; dabei kann nur die Zusammenführung aller drei Disziplinen in der Existenzphilosophie ein Mittel zur Erhellung der geistigen Situation der Zeit sein.

„Das Schicksal des Geistes steht in der Polarität von Daseinsabhängigkeit und Ursprünglichkeit.“ (S. 105)

Der Mensch gewinnt durch die Existenzphilosophie Wissen über sich selbst. Existenzphilosophie beantwortet indes keine Sinnfragen und gibt auch keine letztgültigen Befunde über das Sein ab. Sie dient ausschließlich der Erhellung. Sie regt den Menschen an, sich mit sich selbst zu befassen. Idealerweise findet dieser Prozess der Selbstvergewisserung zwischen zwei Einzelnen auf Augenhöhe statt und endet für beide Beteiligten mit einem Gewinn. Dieser Weg zum Selbstsein adelt den Menschen. Die dafür notwendige Konfrontation ist im Apparat nicht möglich, dessen Ideal die Kompromissfähigkeit ist und der folglich gegenüber festen Überzeugungen feindlich eingestellt ist. Der Gang in die Einsamkeit hat daher für den Einzelnen oberste Priorität. Dabei sollte er aber mit seinen Mitmenschen solidarisch bleiben. Schließlich bleibt das Ziel der Existenzphilosophie die Dienstbarmachung des Apparats: Nur was an Fortschritt dem Menschen wirklich nutzt, sollte – im Gegensatz zur Befriedigung des Konsumbedürfnisses – akzeptiert und gefördert werden.

Zum Text

Aufbau und Stil

Karl Jaspers’ Publikumserfolg Die geistige Situation der Zeit umfasst knapp 200 Seiten. Der Text ist in fünf Kapitel unterteilt, denen Jaspers eine ausführliche Einleitung vorangestellt hat. Die Kapitel bestehen wiederum aus insgesamt 16 Unterabschnitten, die Einleitung aus vier. Diese strenge Gliederung befördert die Übersichtlichkeit des doch recht schwierigen Stoffs. Allerdings ist den Überschriften oft nicht klar zu entnehmen, worum es in dem jeweiligen Abschnitt geht. Eine ähnliche Schwierigkeit wirft Jaspers’ Sprache auf: Im Bemühen um Allgemeinverständlichkeit verzichtet der Autor weitgehend auf philosophische Fachbegriffe und vor allem auf Fremdwörter. Stattdessen versucht er, so gut es geht, die Möglichkeiten der deutschen Sprache auszuschöpfen. Die Nuancen, die er ihr abgewinnt, sind jedoch, mit ihrem Wortreichtum und in ihrer nahezu poetischen Verdichtung, für heutige Leser oft nur mühsam nachzuvollziehen. Denn diese sind häufig ebenjene zweckmäßig standardisierte, aus der angelsächsischen Tradition stammende Wissenschaftssprache gewohnt, deren Aufkommen Jaspers in seinem Buch so bitter beklagt.

Interpretationsansätze

  • Karl Jaspers deutet den Fortschritt als tief greifende Bewusstseinsveränderung: Demnach nahm der Mensch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die herrschenden Verhältnisse als gottgegeben hin, und erst mit der Französischen Revolution und ihren Folgen tat sich ihm die grundsätzliche Möglichkeit der eigenmächtigen Veränderung seiner Lebenswelt auf.
  • Im Buch spiegelt sich der Kulturpessimismus des frühen 20. Jahrhunderts. Jaspers’ Klage über Bürokratie und Massengesellschaft macht deutlich, wie sehr der Philosoph in den elitären Gesellschaftsidealen einer unwiderruflich zum Untergang verurteilten Epoche verhaftet war.
  • Über die Gegenwartskritik hinaus kann Die geistige Situation der Zeit auch als Zukunftsprognose gelesen werden. Allerdings erweist sich Jaspers dabei als erstaunlich kurzsichtig. Nicht nur scheint er gegenüber dem seinerzeit sich anbahnenden Aufstieg des Nationalsozialismus blind zu sein, auch malt er die Folgen von Demokratisierung und Massenherrschaft in übermäßig finstereren Farben und übersieht dabei völlig die Segnungen des neuen Zeitalters, die ungeahnten neuen Freiheiten, die eine „Universalisierung der Daseinsordnung“ dem Einzelnen eröffnet.
  • Jaspers vertritt die Sache des durch die Gesellschaft in seiner Eigenständigkeit bedrohten Einzelnen. Dieser existenzphilosophische Ansatz steht in der Tradition Sören Kierkegaards und Friedrich Nietzsches. Allerdings besteht Jaspers darauf, dass der Einzelne seine gesellschaftlichen Bindungen bewahrt, statt sich ganz auf sich zurückzuziehen.
  • Jaspers’ Gedanken liegt eine traditionelle abendländische Geschichtsauffassung zugrunde. Dazu gehören ein ausgeprägter Eurozentrismus, eine Verklärung der griechisch-römischen Antike sowie der aus dieser Epoche entspringenden Traditionslinien und nicht zuletzt ein quasireligiöser Schicksalsbegriff, der blinde historische Entwicklungen zu bedeutungsvollem Geschehen überhöht.

Historischer Hintergrund

Deutschland Anfang der 1930er-Jahre

Die nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Weimarer Republik befand sich zu Beginn der 1930er-Jahre in ihrer Spätphase. Das durch den Börsencrash von 1929 wirtschaftlich stark angeschlagene Staatsgefüge erlebte immer neue Versuche, das Parlament durch ständige Neuwahlen zu stabilisieren und mehrheitsfähige Beschlüsse zu organisieren. In dieser chaotischen Situation erstarkten die radikalen Kräfte. Kommunisten und Nationalsozialisten bekämpften sich mit allen Mitteln. Bürgerkriegsähnliche Zustände waren die Folge. Die unsicheren Verhältnisse bewogen ausländische Geldgeber, ihre Investitionen abzuziehen. Zusätzlich belastete der seit Kriegsende schwelende Konflikt um Kriegsschuld und Reparationszahlungen den Alltag der Deutschen.

Die Krisensituation politisierte immer weitere Lebensbereiche. Auch Kulturschaffende fühlten sich in der Verantwortung und gaben vermehrt politische Stellungnahmen ab. Der 1929 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Thomas Mann unterstützte die gefährdete Demokratie mit öffentlichen Auftritten. Andere Dichter wie etwa Gottfried Benn hielten sich bewusst abseits, während die Diagnose der Zeitumstände durch Philosophen für großes Publikumsinteresse sorgte. Die noch relativ jungen Wissenschaften der Soziologie und Psychologie inspirierten in der Weimarer Republik zahlreiche Denker und führten zu diversen Theorien über die gesellschaftliche Entwicklung.

Die Maßnahmen zur Disziplinierung des politischen Lebens beschleunigten die Abwicklung der Demokratie. Ob Notverordnung oder Stärkung des Reichspräsidenten, sämtliche Maßnahmen zur Beruhigung der Lage vermehrten das Chaos. Im Juli 1932 errangen erstmals die demokratiefeindlichen Parteien KPD und NSDAP die Mehrheit der Sitze im Reichstag.

Entstehung

Nach seiner Habilitation im Fach Psychologie im Jahr 1913 wandte sich Karl Jaspers der Philosophie zu. Er widmete sich vor allem der Schnittstelle beider Disziplinen. Sein Buch Allgemeine Psychopathologie galt schnell als Standardwerk. Durch seine Lehrtätigkeit machte er sich einen Namen im akademischen Leben und wurde 1916 außerordentlicher Professor in Heidelberg. Sechs Jahre später wurde er Direktor des philosophischen Seminars. Intensiv beschäftigte er sich weiterhin mit seinem Lebensthema, dem Zusammenhang von Psychologie und Philosophie. Seinen Schwerpunkt legte er dabei auf den einzelnen Menschen und dessen seelischen Zustand, weniger auf die Ausarbeitung eines philosophischen Systems. Zeit seines Lebens blieb er sensibilisiert für die Stellung des Individuums in der modernen Gesellschaft.

Ab 1927 widmete Jaspers sich der Ausarbeitung seines Hauptwerks, einer lapidar Philosophie genannten dreibändigen Abhandlung. Sie erschien 1931. Parallel dazu schrieb er den für ein breites Publikum angelegten Text Die geistige Situation der Zeit, der bereits 1930 fertig wurde. Überrascht und beunruhigt durch die politische Entwicklung – im September 1930 erlangten die Nationalsozialisten einen deutlichen Stimmenzuwachs – hielt Jaspers das Manuskript vorerst zurück, um es schließlich im folgenden Jahr zu veröffentlichen. Er wartete die Publikation seines Hauptwerks ab und präsentierte Die geistige Situation der Zeit wenige Wochen später als Einführung in seine Philosophie.

Wirkungsgeschichte

Die geistige Situation der Zeit fand rasch ein großes Publikum. Auch deshalb, weil der renommierte Verlag De Gruyter Karl Jaspers als Autor ausgerechnet für den 1000. Band der berühmten Reihe Sammlung Göschen aussuchte. So war ihm eine breite Aufmerksamkeit sicher. Hinzu kam der relativ allgemeinverständliche Stil seines Texts, der ihm weit über die Universitätsgrenzen hinaus Respekt verschaffte. Innerhalb von zwei Jahren wurden rund 50 000 Exemplare verkauft. Dass Karl Jaspers sich in Die geistige Situation der Zeit mit praktischen Lösungsansätzen zurückhielt, wurde ihm von der zeitgenössischen Kritik durchaus als Mangel angekreidet, während der Großteil des Publikums gerade seine Konzentration auf existenzielle Fragen begrüßte. Die geistige Situation der Zeit gilt als kompakte Einführung in das Gesamtwerk von Jaspers, das nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Schwerpunkt noch stärker auf den selbstständig und politisch frei denkenden und handelnden Menschen legte.

Auch heute noch erfreut sich Jaspers insbesondere im populären Rahmen einer gewissen Beliebtheit, während die Universitätsphilosophie sein Werk wegen seiner kaum möglichen Einordung in ein bestimmtes Fach eher beiläufig behandelt. Gerade deshalb wird es bis heute von der interdisziplinären Forschung geschätzt. Die Universität Heidelberg verleiht alle drei Jahre den mit 25 000 Euro dotierten Karl-Jaspers-Preis für herausragende Arbeiten im Grenzbereich von Philosophie und Psychiatrie.

Über den Autor

Karl Jaspers wird am 23. Februar 1883 in Oldenburg geboren. Bereits als Jugendlicher leidet er an einer unheilbaren Erkrankung der Lunge – eine Beeinträchtigung, die sein medizinisches Interesse weckt. Im Fach Medizin erwirbt er 1909 den Doktorgrad. Parallel dazu arbeitet er in der Psychiatrie, wo er seine spätere Frau, die Pflegerin Gertrud Mayer, kennenlernt. Rasch macht Jaspers im akademischen Betrieb auf sich aufmerksam, knüpft unter anderem Freundschaften mit Max Weber und Martin Heidegger. Jaspers’ Augenmerk gilt der Psychologie, vor allem ihren Auswirkungen auf benachbarte Disziplinen wie Philosophie und Soziologie. Im Rahmen seiner 1909 begonnenen Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten erlangt Jaspers den Ruf, einer der profiliertesten Denker einer Neuausrichtung der Philosophie zu sein. Im Kern stellt er die Frage nach einer im Leben des Menschen wurzelnden philosophischen Grundhaltung, die sich nicht im akademischen Betrieb und dessen Fachbereichen verliert. Demgemäß wird sein 1931 erscheinendes Buch Die geistige Situation der Zeit ein voller Erfolg, stellt es doch explizit fest, dass mit den Methoden der Wissenschaft allein kein Wahrheitsbegriff auszumachen sei. Mit Aufkommen des Nationalsozialismus wird Jaspers – seine Frau ist Jüdin – ins Abseits gedrängt; dank Zuwendungen von Freunden und Weggefährten überlebt das Ehepaar. In den Nachkriegsjahren zeigt sich Jaspers enttäuscht vom gesellschaftlichen Klima in Deutschland und folgt einem Ruf der Universität Basel. Immer wieder stößt er Debatten an und verteidigt gegen mitunter harsche Kritik seinen im Leben wurzelnden Philosophieansatz gegen die Lehrmeinung der akademischen Welt. Karl Jaspers stirbt am 26. Februar 1969 in Basel.

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