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Die Gesellschaft der Gesellschaft

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Die Gesellschaft der Gesellschaft

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Luhmanns Hauptwerk bricht mit traditionellen soziologischen Denkweisen.


Literatur­klassiker

  • Soziologie
  • Moderne

Worum es geht

Das System Gesellschaft

Über 30 Jahre arbeitete Niklas Luhmann an seinem Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft, das 1997 erschien. Darin entwirft er seine Theorie der Gesellschaft als autonomes und autopoietisches, also sich selbst erhaltendes System. Ausdrücklich wendet sich Luhmann gegen die traditionelle Soziologie, die glaubt, die Gesellschaft von außen beschreiben – und kritisieren – zu können, ohne zu merken, dass sie selbst Teil des Systems ist. Moralisch unterfütterte Gesellschaftstheorien wie die von Jürgen Habermas, in denen kommunikativ handelnde Individuen Konsens über ihr Zusammenleben erzielen, sind Luhmanns Sache nicht. Ihm geht es auch nicht darum, die Gesellschaft zu ändern. Er will sie wertfrei beobachten, und zwar unter Berücksichtigung des eigenen „blinden Flecks“ des Beobachters. Luhmanns hochabstraktes, von Paradoxen und trockenem Humor durchzogenes Buch ist kein Lesevergnügen, bietet aber überraschende Erkenntnisse und Einsichten. Das erklärte Ziel von Luhmanns Gesellschaftstheorie ist es, Distanz zu den alltäglichen Selbstverständlichkeiten zu erzeugen – und das gelingt ihm auf jeder Seite.

Take-aways

  • Die Gesellschaft der Gesellschaft ist ein Hauptwerk des Soziologen Niklas Luhmann.
  • Inhalt: Gesellschaft ist ein autonomes und autopoietisches, also sich selbst erzeugendes System. Die elementare Operation, die Gesellschaft reproduziert, ist Kommunikation. Nicht Individuen kommunizieren, die Kommunikation kommuniziert. Dabei geht es nicht um gesellschaftlichen Konsens, sondern allein um den Selbsterhalt des Systems.
  • Luhmanns interdisziplinärer Ansatz, der Soziologie mit Kybernetik, Mathematik, Biologie und Neurophysiologie verbindet, stellt traditionelle Denkweisen infrage.
  • Der Autor wendet sich gegen Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und dessen moralisch aufgeladenen Gesellschaftsbegriff.
  • Moral, Emanzipation und Selbstverwirklichung sind für Luhmann gesellschaftliche Konstrukte.
  • Seine Grundhaltung ist zwar konstruktivistisch, er streitet aber die Existenz der Außenwelt, von der sich das System abgrenzt, nicht ab.
  • Von großer Bedeutung für Luhmanns Theorie sind die Massenmedien, die – ebenso wie die Soziologie – eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft liefern.
  • Luhmanns Sprache ist hochabstrakt und selbst für Soziologen schwer verständlich.
  • Das Buch festigte Luhmanns Ruf als konservativer, antihumanistischer Denker.
  • Zitat: „Gesellschaft ist daher ein vollständig und ausschließlich durch sich selbst bestimmtes System.“

Zusammenfassung

Die Eigenblindheit der Soziologie

Die Soziologie hat bislang noch keine angemessene Gesellschaftstheorie geliefert. Seit etwa einem Jahrhundert hat sie keinen nennenswerten Fortschritt gemacht. Der Hauptgrund dafür liegt in dem vorherrschenden Verständnis von Gesellschaft. Man geht davon aus, dass Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus den Beziehungen zwischen ihnen besteht. Gesellschaft beruht nach der gängigen Vorstellung auf Übereinstimmung der Menschen. Diese Annahme ist aber falsch. Gesellschaft besteht weder aus Individuen, noch bedarf sie eines Konsenses. Sie kann auch nicht – wie die klassische Soziologie es versucht – von außen beschrieben werden. Wissenschaft wird in der Gesellschaft betrieben. Jede Theorie über die Gesellschaft ist somit Teil ihres eigenen Beobachtungsgegenstandes.

„Ihr Verhältnis zur Gesellschaft müsste die Soziologie als ein lernendes, nicht als ein belehrendes begreifen.“ (S. 22)

Wir müssen aufhören, Gesellschaft als ein feststehendes Objekt zu betrachten. Sie ist vielmehr ein dynamisches System, das sich permanent selbst erzeugt und organisiert – und zwar in Abgrenzung zur Umwelt. Die Welt besteht nicht aus Dingen und Ideen, die es auch dann gäbe, wenn sie nicht beobachtet würden. Die Welt ist vielmehr Chaos und „Rauschen“ und bietet ein unermessliches Potenzial für Informationen. Erst dadurch, dass ein System beobachtet, also unterscheidet und bezeichnet, erzeugt es Differenz und macht alles andere zu seiner Umwelt. Das System ist zwar von der Umwelt getrennt und operiert eigenständig, es kann aber nicht ohne sie existieren. Letztlich handelt es sich um zwei Seiten ein und derselben Form, wobei das System die Innenseite und die Umwelt die Außenseite darstellt. Alle sozialen Systeme beobachten nicht nur die Umwelt (Fremdreferenz), sondern auch sich selbst (Selbstreferenz). Dabei wird die Grenze zwischen System und Umwelt noch einmal in das System hineinkopiert (re-entry). Der Beobachter kann sich selbst beim Beobachten nicht sehen. Er ist sozusagen der „blinde Fleck“. Die Soziologie muss sich selbst in ihrem eigenen Gegenstand, also der Soziologie, erkennen.

Kommunikation und Sinn

Gesellschaft ist ein umfassendes soziales System, das alle anderen sozialen Systeme, zum Beispiel Schule, Wirtschaft oder Familie, in sich einschließt. Das Gesellschaftssystem ist autonom und autopoietisch – das heißt, es erzeugt sich selbst. Es ist weder durch ein bestimmtes Wesen oder eine Moral noch durch gute Gesinnung oder Konsens charakterisiert, sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert und reproduziert – und das ist Kommunikation. Diese besteht aus drei Teilen: Information, Mitteilung und Verstehen. Kommunikation ist nicht etwa die Übertragung einer bereits in der Sachwelt vorhandenen Information von einem zum anderen, sondern sie wird erst durch das System selbst erzeugt. Ein psychisches oder soziales System wählt aus der chaotischen Fülle des Seins, das die Welt ist, etwas aus und gibt ihm den Sinn von Information. Aus der unendlichen Fülle potenzieller Informationen wählt es nun eine aus und macht sie zur Mitteilung. Kommunikation entsteht allerdings nicht schon durch Mitteilung, sondern erst nachträglich im Akt des Verstehens. Der Empfänger muss die Differenz zwischen bloßer Information und Mitteilung verstehen. Erst wenn er – unabhängig vom inhaltlichen Verstehen – etwas als Mitteilung versteht, entsteht Kommunikation.

„Alle Orientierung ist Konstruktion, ist von Moment zu Moment reaktualisierte Unterscheidung.“ (S. 45)

Kommunikation wird gesteuert durch Sinn – allerdings nicht wie herkömmlich verstanden als Gegensatz von sinnvoll und sinnlos. Auch wer Unsinn produzieren will, bewegt sich stets innerhalb des Sinnsystems. Sinn ist ein universales Medium, das man nicht verneinen kann. Sinn ist nicht etwas, das in der Welt vorhanden ist, sondern es ist ein momentanes Konstrukt. Sinn bedeutet, dass alles, was aktuell bezeichnet wird, die Möglichkeit dessen, was in der Bezeichnung nicht enthalten ist, mitmeint und miterfasst. Kurz: Sinn ist die Einheit von Aktualität (der ausgewählten Information) und Potenzialität (aller möglichen Informationen).

„Das Gesellschaftssystem wird demnach nicht durch ein bestimmtes ‚Wesen‘, geschweige denn durch eine bestimmte Moral (…) charakterisiert, sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert und reproduziert. Das ist Kommunikation.“ (S. 70)

Kommunikationssysteme sind operativ geschlossen und rekursiv, das heißt, sie bauen aufeinander auf, ohne von der äußeren Umwelt beeinflusst zu werden. Nicht Menschen kommunizieren, sondern nur die Kommunikation kommuniziert. Kommunikation entsteht durch Kommunikation, indem sie auf vorangegangene Kommunikation reagiert und neue stimuliert, etwa weil sich Verständnisschwierigkeiten oder Zweifel an der erhaltenen Information ergeben. Diese Anschlusskommunikation ist zur Selbsterhaltung nötig, ansonsten würde die Autopoiesis versiegen und das System aufhören zu existieren. Der Zweck von Kommunikation ist nicht Verständigung oder der Konsens von Individuen, sondern allein die Fortsetzung von Kommunikation zur Aufrechterhaltung des Systems.

Die Rolle der Medien

Angesichts der Tatsache, dass Menschen als psychische Systeme vereinzelt und voneinander abgeschieden leben, ist das Zustandekommen von Kommunikation und damit von sozialer Ordnung extrem unwahrscheinlich. Jedes der drei Elemente der Kommunikation – Information, Mitteilung und Verstehen – ist in sich selbst kontingent, das heißt, es ist so, aber auch anders möglich. Wenn nun zwei Systeme kommunizieren, tritt sogar der Fall doppelter Kontingenz ein. Es gibt eine Riesenmenge an potenziellen Informationen und Mitteilungen. Dass Kommunikation überhaupt stattfindet, verdanken wir den Medien. Medien sind Mittel, die Möglichkeiten der Selektion zu begrenzen. Mit ihrer Hilfe wird Komplexität reduziert, wodurch die Gesellschaft sich immer weiter ausdifferenzieren und komplexer werden kann.

„Gesellschaft ist daher ein vollständig und ausschließlich durch sich selbst bestimmtes System.“ (S. 95)

Das grundlegende Kommunikationsmedium ist Sprache, die durch Laute Sinn prozessiert. Psychische wie soziale Systeme operieren im Medium der Sprache, diese verbindet die beiden eigentlich voneinander abgetrennten Systeme miteinander. Sprache ist die Bedingung für die Entwicklung von Gesellschaft, denn sie allein erlaubt es, zwischen Information und Mitteilung zu unterscheiden – und damit, zu kommunizieren. Die binäre Ja/Nein-Codierung der Sprache, die es ermöglicht, einen Sinnvorschlag anzunehmen oder abzulehnen, garantiert letztlich die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Kommunikation. Erst durch Sprache entsteht das Problem des Irrtums und der Täuschung, des Zweifels und der Irritation. Komplexe Gesellschaften entwickeln sich eben nicht durch Konsens (der zum Versiegen der Autopoiesis führen würde, da es nichts mehr zu kommunizieren gäbe), sondern durch Differenz, die immer neue Kommunikation nötig macht und die Evolution der Gesellschaft vorantreibt.

„Es gibt keine nicht sozial vermittelte Kommunikation von Bewusstsein zu Bewusstsein, und es gibt keine Kommunikation zwischen Individuum und Gesellschaft.“ (S. 105)

Das wichtigste Verbreitungsmedium ist die Schrift. Sie setzt die Sprache in ein optisches Medium um. Die Schrift vergrößert den Empfängerkreis von Kommunikation (der Empfänger muss weder räumlich noch zeitlich anwesend sein) und schränkt zugleich das ein, worüber noch informiert werden kann. Zunächst die Schrift, später der Buchdruck und die elektronischen Medien haben das Gesellschaftssystem tief greifend verändert und seine ständige Ausdifferenzierung ermöglicht. Durch die Möglichkeit des Aufbewahrens von Kommunikation in Schriftform entwickelte sich ein soziales Gedächtnis, wobei stets neu entschieden werden muss, was aufgeschrieben wird und was nicht. Es entstanden Romane und wissenschaftliche Abhandlungen zur Philosophie und Rhetorik, zur Geometrie und Medizin, die ihrerseits Debatten und somit neue Kommunikation anregten. Schriftliches befördert auch Verständnisschwierigkeiten, Zweifel sowie Missverständnisse. Im Unterschied zum Mündlichen ermöglicht es sachbezogene, kränkungsfreie Kritik. Schriftliches ist also unterschiedswirksam – und Unterschiede treiben die Kommunikation ja erst voran.

„Überhaupt ist ja schwer zu sehen, wie Lebewesen, einschließlich Menschen, in der finsteren Innerlichkeit ihres Bewusstseins irgendetwas gemeinsam haben könnten.“ (S. 202)

Neben Verbreitungsmedien gibt es „Erfolgsmedien“, die zur Annahme eines Kommunikationsangebots motivieren, also es wahrscheinlicher machen, dass man auf ein Sinnangebot mit Ja statt mit Nein reagiert. Sie reproduzieren und verfestigen sich durch ständige Wiederholung. Zu diesen Erfolgsmedien zählen Geld/Eigentum, Macht/Recht, Liebe, Wahrheit und Moral. Sie reduzieren im Alltag die Selektionsmöglichkeiten und machen Anschlusskommunikation erwartbar: Wer etwas begehrt, muss es bezahlen können, sonst bekommt er es nicht. Liebe verlangt, das eigene Handeln darauf auszurichten, wie es vom anderen erlebt wird. Wissenschaft verlangt Wahrheit. Die einzelnen Codes sind streng voneinander getrennt: Geld ist nicht in Liebe und Macht nicht in Wahrheit umzusetzen. Zusammen mit den Kommunikationsmedien bilden die Erfolgsmedien das, was wir als Kultur bezeichnen.

Ausdifferenzierung der Gesellschaft durch Medien

Die Gesellschaft kann nicht auf einen Ursprung oder gar einen Schöpfungsakt zurückgeführt werden. Sie ist das Resultat von Evolution. Diese vollzieht sich in drei Schritten: Variation (zufällig entstandene neue Formen), Selektion und Stabilisierung. Evolution macht das Unwahrscheinliche wahrscheinlich – und zwar nicht wie in Darwins Theorie aus Anpassungsdruck seitens der Umwelt, sondern aufgrund einer Differenz zwischen System und Umwelt, auf die das System mit Ausdifferenzierung reagiert.

„Die Gesellschaft ist kein Nullsummenspiel. Sie entwickelt Komplexität mithilfe von dafür geeigneten Komplexitätsreduktionen.“ (S. 406)

Soziale Systeme differenzieren sich durch Kommunikation immer weiter aus. Drei Typen lassen sich unterscheiden: 1) segmentäre Gesellschaften wie die archaischen, die nur sprachlich kommunizieren und keine Rangunterschiede kennen; 2) stratifizierte Gesellschaften wie die antiken und mittelalterlichen, die über die Schrift verfügen und in denen sich auf rechtliche Unterscheidungen gestützt hierarchisch strukturierte Teilsysteme (Stände oder Schichten wie Adel, Bürger, Bauern) ausbilden; 3) funktional differenzierte Gesellschaften, in der sich autonome gleichrangige Teilsysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Familie, Wissenschaft und Religion bilden, die je eine streng umrissene Funktion haben. Das Gesellschaftssystem wird für die Teilsysteme zur Umwelt. Ein und dasselbe Ereignis hat je nach System verschiedene Auswirkungen. So kann der sinkende Bedarf an Arbeitskräften in der Wirtschaft mit Rationalisierung einhergehen, in der Familie, den Schulen oder der Wissenschaft hat er ganz andere Auswirkungen.

„Die Gesellschaft hat keine Adresse. Sie ist auch keine Organisation, mit der man kommunizieren könnte.“ (S. 866)

Soziale Schichten, Arme und Reiche gibt es immer noch, aber die Rolle des Einzelnen in der Ordnung ist nicht mehr über Standeskriterien definiert. Idealerweise herrscht Inklusion, das heißt, alle Menschen sind in die verschiedenen Teilsysteme eingebunden. Faktisch aber beschränkt der Ausschluss aus einem Teilsystem – keine Arbeit, kein Einkommen, kein Ausweis, kein Rechtsschutz, keine Bildung – auch die Möglichkeiten in anderen Teilsystemen. Die Voraussetzung für die Entstehung der funktionalen Gesellschaft war der Buchdruck: Er hat die Massenkommunikation möglich gemacht. Elektronische Medien, vor allem der Computer, haben zu einer wahren Explosion der Kommunikationsmöglichkeiten geführt. Der Trend geht von einer hierarchischen zu einer heterarchischen, dezentrierten Ordnung. Die moderne Computertechnologie greift darüber hinaus die Autorität von Experten wie Ärzten oder Juristen an und führt zu einer zeitlich und räumlich grenzenlosen Kommunikation. Territoriale Begrenzungen verlieren an Bedeutung, es gibt nur noch eine Weltgesellschaft.

Selbstbeschreibungen der Gesellschaft

Das Gesellschaftssystem kann nicht mit sich selbst, wohl aber über sich kommunizieren – sofern es über Schrift verfügt. Bei den Selbstbeschreibungen handelt es sich um gedruckte, massenhaft verbreitete Texte, mit denen das System sich selbst bezeichnet und die ihrerseits wieder kritisch beobachtet und beschrieben werden – eine Beobachtung zweiter Ordnung. Jede Selbstbeschreibung des Systems ist eine Konstruktion. So beschreibt die Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts sich als Klassengesellschaft, in der durch Revolution oder Einebnung der Unterschiede Ungleichheit zu beseitigen sei, statt zu erkennen, dass sie sich funktional immer weiter ausdifferenziert. Das System ist für sich selbst undurchschaubar.

„Auch Kommunikationen, mit denen das System sich selbst beschreibt, bleiben Kommunikationen, also distinkte Ereignisse, die sich als solche beobachten lassen.“ (S. 886)

Mit der Entstehung der modernen Massenmedien als ein eigenes Funktionssystem, das die Beschreibung der Gesellschaft übernommen hat, ändert sich der Zeitbegriff. Zeit wird nicht mehr als zirkulär, sondern als linear wahrgenommen. Die Gegenwart ist nur noch ein Punkt ohne Dauer zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Massenmedien wählen Informationen aus und machen sie im selben Augenblick, da sie nun bekannt und nicht mehr beobachtungsrelevant sind, zur Nichtinformation. Das System ist gezwungen, jeden Moment etwas Neues zu bieten – seien es Nachrichten, Berichte, Werbung oder Unterhaltung. Massenmedien erzeugen so eine eigene Realität, an der sich die Gesellschaft orientiert.

„So wie man den Individuen zu suggerieren versucht, sie seien nicht nur wirklich, sondern bedürften auch noch einer Selbstverwirklichung, so scheint auch die Gesellschaftstheorie der Moderne davon auszugehen, dass die moderne Gesellschaft noch nicht modern sei und sich selber gleichsam nacheifern müsse, um endlich modern zu werden.“ (S. 1082)

Die Massenmedien treffen eine Auswahl dessen, was sie mitteilen. Es muss quantitativ herausragend (Millionen toter Robben, Massenkarambolagen, Milliardenschäden), neu bzw. überraschend und konfliktträchtig sein. Bevorzugt werden Normverstöße, Skandale und andere Abweichungen, was zu einer Art Normaldepression der Gesellschaft führt. Aus der Dauerwirksamkeit der Massenmedien entsteht öffentliche Meinung, durch die die moderne Gesellschaft die Welt und sich selbst beschreibt, und zwar in alarmierendem, moralisierendem Ton. In Konkurrenz mit den Massenmedien ist die Soziologie an der Selbstbeschreibung der Welt beteiligt. Für beide gilt: Sie sind selbst Teil des Systems, das sie beschreiben. Auch Gesellschaftskritik ist Teil des kritisierten Systems – das muss die Soziologie begreifen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Niklas Luhmanns 1000-Seiten-Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft ist in fünf große Kapitel gegliedert, die sich ihrerseits in verschiedene Unterkapitel unterteilen. Dabei stellt der Autor selbst fest, die Reihenfolge der Kapitel sei beliebig. Manche Passagen sind ohne die Kenntnis späterer Kapitel nicht zu begreifen. Überhaupt ist das Werk, das reich an Fußnoten ist, ohne Wissen über Luhmanns spezielle, vom alltäglichen Gebrauch abweichende Verwendung vieler Begriffe (zum Beispiel Medien, Umwelt, Information) kaum verständlich. Von Menschen spricht er nur als „psychische Systeme“ oder „Bewusstseinssysteme“. Insbesondere der erste Teil des Buches, in dem Luhmann die Grundlagen seiner System- und Kommunikationstheorie erläutert, bewegt sich auf einem hohen Abstraktionsniveau. Der Autor führt kaum Beispiele zur Erklärung seiner Theorie an und setzt beim Leser die Kenntnis soziologischer Klassiker und philosophischer Spezialuntersuchungen voraus. Bei aller Trockenheit der Lektüre blitzt doch zwischen den Zeilen immer wieder Luhmanns Humor und heiterer Zynismus auf. Seine Vorliebe für Paradoxe und seine Freude am Verstoß gegen politische Korrektheit sind dabei stets spürbar.

Interpretationsansätze

  • Das erklärte Ziel von Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie ist es, „Distanz zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags“ zu erzeugen und traditionelle Denkweisen infrage zu stellen. Methodisch verfolgt er einen interdisziplinären Ansatz, der Soziologie mit Kybernetik, Informationstheorie, Mathematik, Neurophysiologie und Biologie verbindet. Immer wieder stellt der Autor auch lange Überlegungen zu Geschichte und Philosophie, Liebe und Sexualität, Literatur, Film und Kunst an.
  • Luhmann hat eine konstruktivistische Grundhaltung, streitet aber die Existenz der Außenwelt nicht ab. Erkenntnisse sind für ihn keine Abbildungen der Realität, sondern lediglich Beobachtungen psychischer und sozialer Systeme – also Konstrukte. Auch Luhmanns Verständnis von Sprache unterscheidet sich von traditionellen Auffassungen: Sprache repräsentiert nicht auf symbolische Weise die Welt, sondern sie schafft eine neue Realität.
  • Die Vorstellung der Gesellschaft als System übernimmt Luhmann von dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons. Dessen Ansicht, universelle bindende Normen seien für das Funktionieren sozialer Ordnung verantwortlich, lehnt Luhmann jedoch ab. Stattdessen betont er die Rolle von Erwartungen. Diese wählen aus der Fülle von Handlungsmöglichkeiten diejenigen aus, die sich durch Erfahrung bewährt und als typisch erwiesen haben. So machen die Erwartungen Kommunikation möglich, nach dem Motto: Ich tue, was du willst, wenn du tust, was ich will.
  • Luhmann wendet sich insbesondere gegen Jürgen Habermas’ Gesellschaftstheorie, die Systeme (Politik, Wirtschaft) mit der Lebenswelt (Privatsphäre, Öffentlichkeit) kontrastiert. Nach Habermas verständigen sich die Menschen in der Lebenswelt durch Kommunikation. Ziel allen kommunikativen Handelns ist der Konsens. Dagegen lehnt Luhmanns radikal antihumanistischer Ansatz den Begriff des Menschen bzw. Subjekts in der Soziologie ab. Nicht menschliche Individuen, sondern psychische Systeme kommunizieren. Luhmanns Entwurf kennt auch keine Trennung zwischen Privatsphäre und Politik.
  • Habermas knüpft an seine Theorie normative Forderungen und moralische Beurteilungen. Wissenschaft soll kritisch sein und eine gute Gesellschaft anstreben. Für Luhmann dagegen ist Gesellschaftswissenschaft wertfreie Beobachtung. Moral, Vernunft und Kritik wie auch Freiheit und Gleichheit sind für ihn Konstrukte sozialer Systeme und nicht erstrebenswerte Eigenschaften von Menschen oder Gesellschaften.

Historischer Hintergrund

Postindustrielle Gesellschaft und Massenmedien

Bereits in den 1960er-Jahren entwickelte sich die Bundesrepublik Deutschland zu einer postindustriellen Gesellschaft, in der nicht mehr der Industrie-, sondern der Dienstleistungssektor volkswirtschaftlich dominierte. Diese Entwicklung setzte sich in den 70er- und 80er-Jahren fort. Um 1975 überstieg die Zahl der Angestellten und Beamten erstmals diejenige der Arbeiter. Der sinkende Anteil der Industriearbeiter und der landwirtschaftlich Tätigen wie auch die Abnahme des bürgerlichen Milieus führten zu einer Auflösung und Differenzierung traditioneller gesellschaftlicher Schichten. Neue Milieus mit gemeinsamen Wertorientierungen, Lebenszielen und kulturell geprägten Vorlieben begannen allmählich, die alte Schichtenstruktur zu überlagern, wobei es immer fließende Übergänge und Zwischenformen gab.

Neben einer Wohlstands- und Konsumsteigerung erlebte Westdeutschland in den 80er-Jahren eine rasante Ausbreitung elektronischer Massenmedien. Zwischen 1970 und 1990 erhöhte sich die Zahl der angemeldeten Radios und Fernseher von 19 bzw. 14 auf 27 bzw. 24 Millionen. Zugleich stieg der tägliche Medienkonsum von Hörfunk und Fernsehen von durchschnittlich zwei auf drei Stunden an. Nach der anfänglichen sozialliberalen Blockadepolitik wurde der Ausbau moderner Kommunikationstechnologie ab 1984 unter der Regierung von Helmut Kohl forciert. In diesem Jahr fiel auch das öffentlich-rechtliche Rundfunkmonopol. Private, von großen Medienkonzernen geführte Sender konnten nun in Fernsehen und Radio empfangen werden. Private, werbefinanzierte Sender boten leichte Unterhaltungsmusik, wodurch das Radio in stärkerem Maße als zuvor zu einer Hintergrundkulisse für alltägliche Beschäftigungen wie Hausarbeit oder Autofahren wurde. Trotz der stetigen Erweiterung des Angebots elektronischer Medien ging der Konsum von Printmedien nicht zurück. In den 80er-Jahren war die tägliche Zeitungslektüre für große Teile der Bevölkerung immer noch eine Selbstverständlichkeit.

Mit der Steigerung des Konsum- und Massenmedienangebots ging ein Mentalitäts- und Wertewandel einher. Durch die mediale Darstellung von Ölkrisen, Arbeitslosigkeit und ökologischen Katastrophen verstärkte sich der allgemeine Eindruck, in krisenhaften Zeiten zu leben. In repräsentativen Umfragen ging die Zahl derjenigen, die an den Fortschritt glaubten, dramatisch zurück; Zukunftsängste wuchsen. Ab Ende der 70er-Jahre entstand ein neues ökologisches Bewusstsein, das sich in der wachsenden Ablehnung der Atomenergie ausdrückte. Soziologische Untersuchungen zeigten, dass traditionelle Werte wie Leistungsbereitschaft, Disziplin und Pflichtbewusstsein immer weiter durch das Streben nach persönlicher Freiheit und Selbstentfaltung verdrängt wurden. Der Trend zur Individualisierung – bei gleichzeitiger Pluralisierung der Kommunikationsmedien – setzte sich ab Beginn der 90er-Jahre durch den Siegeszug des Internets und dessen zunehmende Kommerzialisierung weiter fort.

Entstehung

Niklas Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft ist das Ergebnis jahrzehntelanger Studien und Vorarbeiten. Bereits in seinem 1971 zusammen mit Jürgen Habermas herausgegebenen Buch Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie bot Luhmann einen Entwurf seiner Gesellschaftstheorie. Er kritisierte Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns, die auf dem aufklärerischen Begriff einer universellen Vernunft gründete und den Anspruch verfolgte, im praktischen Diskurs aller Gesellschaftsmitglieder einen vernünftigen Konsens über Formen des Zusammenlebens zu erzielen. Luhmann sah darin idealistische Unterstellungen, die den Blick auf die Komplexität der Welt und der Gesellschaft verstellten. Letztere sei nicht ein Ort gemeinschaftlichen Handelns von Individuen und habe auch nicht die Aufgabe, die Emanzipation des Einzelnen voranzutreiben.

Im Lauf der folgenden Jahre baute Luhmann seine Systemtheorie der Gesellschaft weiter aus. Über fast 50 Jahre hinweg legte er einen Zettelkasten mit rund 90 000 Einträgen und zahllosen Verweisen an, der ihm als Grundlage für sein Hauptwerk diente. Zwischendurch schrieb er immer wieder Bücher über einzelne soziale Funktionsbereiche wie Wirtschaft, Recht, Liebe und Massenmedien. Mit seinem Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft, das 1997 im Suhrkamp Verlag erschien, weitete er den Blick wieder auf die ganze Gesellschaft aus.

Wirkungsgeschichte

Die Reaktionen auf Die Gesellschaft der Gesellschaft schwankten zwischen Faszination und Ablehnung. Vor allem linke Kritiker warfen dem Autor eine antihumanistische Ausgrenzung des Menschen aus der Gesellschaft vor. Zugleich bemängelte man insbesondere im deutschen Sprachraum Empirieferne und die vermeintlich affirmative Haltung des Autors. Das Buch bot einmal mehr Anlass, Luhmann das Etikett eines konservativen Denkers anzuheften, womit er selbst nicht einverstanden war. Im Ausland, vor allem in den USA, in Japan, China und Italien, wurde Luhmanns Gesellschaftstheorie überaus positiv aufgenommen.

Über den Autor

Niklas Luhmann ist einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Geboren wird er am 8. Dezember 1927 in Lüneburg. Mit 17 Jahren nimmt er als Luftwaffenhelfer am Zweiten Weltkrieg teil und gerät anschließend kurz in amerikanische Gefangenschaft. 1946 beginnt er ein Jurastudium in Freiburg und ist nach dem Referendariat zunächst von 1954 bis 1962 als Verwaltungsjurist tätig. Hier lernt er eine Arbeitsmethode kennen, die sein ganzes Werk prägen wird: die Ablage von Informationen in Zettelkästen. So legt sich Luhmann mit 25 Jahren auch privat einen Zettelkasten an, um eigene Gedanken und wichtige Ideen anderer Autoren zu sammeln. 1960 erhält er ein Stipendium für ein Studium der Soziologie in Harvard, kommt also erst mit über 30 Jahren mit der Wissenschaft in Berührung, die er später wesentlich beeinflussen wird. Ab 1962 ist er Referent an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, drei Jahre später wechselt er zur Sozialforschungsstelle Dortmund. Erst 1966 promoviert er in Soziologie an der Universität Münster, die Habilitation folgt nur wenige Monate später. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1993 ist Luhmann Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er veröffentlicht zahlreiche Werke, in denen er seine Systemtheorie entwickelt. Als Soziale Systeme erscheint, das erste Hauptwerk und die Grundlage seiner Theorie, ist Luhmann bereits 57 Jahre alt. Die in den folgenden Jahren verfassten Bücher – unter ihnen Titel wie Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Das Recht der Gesellschaft (1993) oder Die Realität der Massenmedien (1996) – beziehen diese Theorie auf einzelne Gesellschaftsbereiche. Mit Die Gesellschaft der Gesellschaft erscheint 1997 ein weiteres Hauptwerk Luhmanns. Als 70-Jähriger plant er noch 20 weitere Bücher. Dazu kommt es aber nicht mehr – am 6. November 1998 stirbt Niklas Luhmann in Oerlinghausen bei Bielefeld.

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