Truman Capote
Die Grasharfe
Suhrkamp, 2017
Was ist drin?
Fünf Menschen im Baumhaus setzen für ein paar Tage die Normalität außer Kraft.
- Roman
- Nachkriegszeit
Worum es geht
Ein paar Meter näher an Gott
Die Grasharfe ist kein weltbewegendes Buch, aber ein charmantes, zärtliches, ein bisschen komisches, ein bisschen trauriges und ein bisschen poetisches Buch – und eines, das entscheidende Fragen stellt: Was ist Liebe? Muss man sich selbst aufgeben, um der Norm zu entsprechen oder um geliebt zu werden? Wer definiert die Norm? Ist Einsamkeit unüberwindbar? Fünf Menschen sitzen für ein paar Tage in einem Baumhaus. Sie haben ihre Familien, so vorhanden, und die empörten Honoratioren der Stadt gegen sich. Sie sitzen für eine begrenzte Zeit abseits oder eben über dem, was üblich ist in dieser Südstaatenkleinstadt – ein klein wenig näher an Gott, wie sie finden. Sie alle haben Wunden im Kontakt mit anderen davongetragen, und im Baumhaus ist plötzlich eine Nähe möglich, die sie nicht kannten, da werden Antworten gegeben und Experimente möglich. Aber es ist schon Herbst, ewig können sie nicht bleiben. Doch danach ist nichts mehr wie zuvor.
Take-aways
- Die Grasharfe war Truman Capotes zweiter Roman und sein erster großer Verkaufserfolg.
- Inhalt: Nach einem Streit mit ihrer geldgierigen Schwester flieht die alte Dolly Talbo mit ihrer Freundin Catherine und ihrem 16-jährigen Neffen Collin in ein Baumhaus. Zu ihnen gesellen sich ein pensionierter Richter und ein 18-jähriger Herumtreiber. Das löst bei den spießigen Mitbürgern Empörung aus, bringt aber die Ausreißer einen Schritt weiter in ihrem Leben.
- Das Baumhaus, die Figur der Dolly und der Schwesternkonflikt haben autobiografische Vorbilder, und wie der Junge Collin wuchs Capote großteils bei Verwandten auf.
- Collin erzählt die Geschichte in der Rückschau, was dem Text eine melancholische Note verleiht.
- Die Geschichte ist poetisch, teils melancholisch erzählt und immer wieder von slapstickhafter Komik durchsetzt.
- Mit seiner detaillierten Schilderung kurioser Charaktere zeichnet der Roman ein liebevolles Bild des Alltags in einer Südstaaten-Kleinstadt.
- Wichtige Themen sind Familie, Liebe und der Konflikt zwischen persönlicher und allgemeiner Moral.
- Das Baumhaus ist zugleich Symbol der Freiheit und des wahren Zuhauses.
- Aus dem Stoff wurden auch ein Theaterstück, ein Musical und ein Film gemacht.
- Zitat: „Wann war es, dass ich zum ersten Mal von der Grasharfe hörte? Lange vor jenem Herbst, als wir im Paternosterbaum lebten, also in einem früheren Herbst, und es war natürlich Dolly, die mir davon erzählte.“
Zusammenfassung
Ein neues Zuhause
In Collin Fenwicks Heimatstadt liegt der Friedhof auf einem Hügel. Dort sind seine Mutter und sein Vater begraben. Unterhalb des Hügels liegt ein Feld von hohem Präriegras. Es färbt sich im Herbst rot, und der Wind lässt Töne in den Grashalmen erklingen, die an Menschenstimmen erinnern. Collins Tante Dolly, eigentlich eine Cousine seines Vaters, nennt das die Grasharfe. Dolly und Verena Talbo sind Schwestern, beide unverheiratet. Verena ist der reichste Mensch der Stadt, sie besitzt mehrere Geschäfte. Collins Vater war mit ihr zerstritten, deshalb durfte Collin das Haus der Schwestern nicht betreten, solange seine Eltern noch lebten. Seine Mutter starb, als er elf war. Am Tag nach ihrem Begräbnis kam Verena und nahm Collin mit. Der Vater starb ein paar Tage später, er stürzte mit dem Auto eine Klippe hinunter.
„Wann war es, dass ich zum ersten Mal von der Grasharfe hörte? Lange vor jenem Herbst, als wir im Paternosterbaum lebten, also in einem früheren Herbst, und es war natürlich Dolly, die mir davon erzählte.“ (S. 7)
Dolly wurde bald wichtig für Collin – sie und Catherine Creek, die als schwarzes Waisenkind zusammen mit den Schwestern aufwuchs. Catherine wohnt in einem Häuschen im Hinterhof. Weil sie kaum noch Zähne hat, stopft sie ihren Mund mit Watte aus und ist beim Sprechen nicht zu verstehen, außer von Dolly und Collin. Collin beobachtet seine Tanten durch Ritzen in den Bodenbrettern: Dolly sieht er Briefe an ihre Kunden schreiben. Sie verkauft eine selbst gebraute Kräuterarznei gegen Wassersucht. Verena sieht er Zahlen addieren; manchmal sitzt sie auch über Fotos des Mädchens Maudie Laura Murphy und schluchzt. Maudie hat Verena einst viel bedeutet, aber dann hat sie geheiratet. Verenas Kontakt mit Dolly, Catherine und Collin beschränkt sich auf Zurechtweisungen.
„Es genügte Catherine, dass Dolly sie verstand; sie waren immer beisammen, und was sie zu sagen hatten, das sagten sie zueinander.“ (S. 17)
Für Collin sind es gute Jahre mit Dolly und Catherine. Jeden Samstag gehen sie in die Flusswälder, um Kräuter für Dollys Medizin zu sammeln. Wenn die Säcke voll sind, picknicken sie in einem Baumhaus und verbringen dort in träumerischer Muße den Rest des Nachmittags. Das Rezept für die Medizin kennt nur Dolly, sie hat es einst als Reim von einer Zigeunerin gesagt bekommen. Verena wird erst so richtig auf Dollys Arzneigeschäft aufmerksam, als die drei feststellen, dass sie mit ihren Einnahmen einkommensteuerpflichtig sind. Von ihrer nächsten Einkaufsreise nach Chicago kehrt Verena in Begleitung des Juden Doktor Morris Ritz zurück, der Collin an eine „niederträchtige Maus“ erinnert. Die beiden hecken Geschäfte aus und bald heißt es, Verena habe die Ruine einer ehemaligen Konservenfabrik gekauft. Kurz darauf lädt sie Morris Ritz zum Essen ein. Dolly ist völlig verstört und will nicht dabei sein, aber Verena betont, dass Morris ja gerade sie treffen will. Schließlich lässt sie sich überreden. Beim Essen stößt sie eine Vase um und bricht in Tränen aus.
„Sie hatte die Augen eines Menschen mit besonderen Gaben.“ (über Dolly, S. 18)
Ritz zeigt ihr frisch gedruckte Etiketten, auf denen „Zigeunerkönigin-Kräuterkur“ steht, Verena verkündet, sie werde diese Woche ein Patent auf Dollys Medizin anmelden. Dafür müsse Dolly freilich das Rezept aufschreiben. Doch die weigert sich. Collin belauscht den nun folgenden Streit zwischen den Schwestern. Verena rechnet vor, wie viel Geld sie schon investiert und überhaupt was sie alles für Dolly getan habe. Dolly hält dagegen, dass sie und Catherine ihr ein „nettes Zuhause“ bereitet hätten – doch Verena bezeichnet Catherine als „gurgelnde Idiotin“ und sagt, dass sie sich ihrer schäme. Wenn das so sei, sagt Dolly, dann würden sie weggehen. In der Nacht fliehen Dolly, Catherine und Collin ins Baumhaus.
Im Baumhaus
Am nächsten Morgen hören sie Gewehrschüsse. Riley Henderson ist auf der Jagd und entdeckt sie. Der 16-jährige Collin bewundert den zwei Jahre älteren Riley. Der ist stadtbekannt, sein Vater starb als Missionar in China und seine Mutter wurde in die Psychiatrie gebracht, nachdem sie versucht hatte, ihre beiden Töchter zu ertränken. Riley soll seine Schwestern gerettet haben. Er ist sein eigener Herr, hat einen roten Sportwagen und ist als Frauenheld bekannt. Die Schule hat er abgebrochen. Dolly bietet Riley Kuchen an, Riley revanchiert sich mit Zigaretten, und Dolly und Catherine rauchen zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Ausreißer richten sich im Baumhaus ein und sprechen über die Zukunft: Sie haben 47 Dollar und ein paar Schmuckstücke. Catherine will damit nach Mexiko fahren, Dolly meint, sie müssten wegen der Kräuter in der Nähe bleiben. Collin hat die Idee, ein verlassenes Hausboot herzurichten.
„Es war ein Schiff, und wenn man dort oben saß, konnte man die wolkengesäumten Küsten aller Träume entlangsegeln.“ (über das Baumhaus, S. 27)
Auf einmal sehen sie eine vornehme Gesellschaft auf das Baumhaus zukommen: den pensionierten Richter Charly Cool, Macy Wheeler, Pfarrer Buster und seine Frau sowie vorneweg den jungen Sheriff Junius Candle. Der Pfarrer appelliert an Dolly, die unbewusst nach einer von Rileys Zigaretten greift. Da kreischt Mrs. Buster, sie sei ein Flittchen. Dolly antwortet schlagfertig, sie befänden sich um einige Meter näher bei Gott als Mrs. Buster. Richter Cool gefällt die Vorstellung. Als der Sheriff nach oben klettert, um die Baumhäusler herunterzuholen, und der Richter das zu verhindern sucht, kommt es zu einem Handgemenge. Dolly schüttet Orangenlimonade in den Nacken des Sheriffs, der Sheriff fällt auf den Richter, dieser auf den Pfarrer. Vor Schreck lässt Dolly den Limonadenkrug fallen, Mrs. Buster auf den Kopf. Ramponiert zieht die Gesellschaft wieder ab, nur der Richter bleibt und setzt sich mit ins Baumhaus, Riley Henderson gesellt sich wenig später auch noch dazu. Er berichtet, die Stadt sei in Aufruhr: Sheriff Candle habe Verena davon überzeugt, es müsse ein Haftbefehl gegen die Ausreißer erlassen werden, weil sie Dinge aus Verenas Eigentum gestohlen hätten. Außerdem wolle man den Richter verhaften, wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Behinderung der Justiz.
„Ich dachte immer, du brauchst uns irgendwie. Ich dachte, wir hätten hier unseren Platz. Aber das wird schon in Ordnung kommen, Verena. Wir werden weggehen.“ (Dolly, S. 45)
Sie seien nun eine Schicksalsgemeinschaft, sagt der Richter. Er spricht Dolly seine Bewunderung aus: Jetzt erst erkenne er, dass sie wie ein Naturgeist sei, und Geister seien sich der Vielfalt des Lebens bewusst. Als Richter konnte er dieser Vielfalt oft nicht Genüge tun, da das Gesetz sie nicht zulasse. Allzu oft habe er daher auf der falschen Seite stehen müssen. Zum Beispiel sei eine Ehe zwischen einem alten Fischer und einer jungen Farbigen nicht legal gewesen, obwohl sie glücklich war – und obwohl die junge Frau für den Fischer wohl das war, was der Richter nie hatte: ein Mensch, vor dem man nichts zu verbergen braucht. Seiner verstorbenen Frau sei er leider nicht nah gewesen, und seine Söhne schätzten ihn nicht. Sie hätten etwas über ihn herausgefunden, als sie ihm nachspionierten: Er hatte ein paar Jahre lang eine Brieffreundschaft mit einem kleinen Mädchen in Alaska, wobei er so tat, als sei er ein Junge in ihrem Alter.
„Miss Dolly und ihre Freunde, sie sind in Not. Und du, Riley? Wir beide sind in Not. Wir gehören in diesen Baum, oder wir wären nicht hier.“ (der Richter, S. 91)
Catherine erzählt auch ein Geheimnis: Sie hat einst einen Brief von einem gewissen Bill bekommen, der sie aufforderte, nach Miami zu kommen und ihn zu heiraten. Catherine weiß nur nicht, welcher von all den Bills, die sie gekannt hat, es war. Riley hat das Problem, dass er nicht weiß, was er überhaupt kann, außer jagen und sich herumtreiben. Außerdem findet er es erschreckend, dass er keine Gefühle hat, für keines der Mädchen, mit denen er geht. Er hätte auch gern jenen einzigen Menschen – dann könnte er seinem Leben eine Richtung geben, zum Beispiel Land kaufen und Häuser darauf bauen. Der Richter sagt ihm, er müsse mit der Liebe klein anfangen, er solle erst einmal lernen, ein Blatt zu lieben, einen Regenschauer und dieses Gefühl dann auf einen Menschen übertragen. Wenn das so sei, sagt Dolly, dann habe sie immer geliebt, nur nie einen Mann. Sie hat viel Liebe in sich, aber Angst, andere Menschen damit zu verschrecken. Einmal hat sie einer Frau, die es schwer hatte, gesagt, dass sie ihr leidtue und dass sie sie liebe. Die Frau rannte schreiend weg.
„Ich meine (…) einen Menschen, dem man alles sagen kann. Ob ich wohl ein Narr bin, dass ich mir so etwas wünsche?“ (der Richter, S. 92)
Am nächsten Morgen wird Collin von Riley geweckt. Die beiden gehen zum Fluss, während die anderen noch schlafen. Sie werfen Steine ins Wasser, köpfen Fliegenpilze und gehen baden. Hier sind sie Freunde geworden, wird Collin später denken. Als sie an dem Hausboot vorbeikommen, auf dem Collin leben wollte, wird klar, dass Riley es als Ort für Rendezvous nutzt. Trotzdem stellt sich Collin vor, wie sie alle fünf auf diesem Hausboot leben. In einem Bassin im Fluss finden sie einen riesigen Katzenfisch. Sie packen zu, und Collin gelingt es, ihn zu halten. Auf dem Weg zurück zum Baumhaus setzt sich Riley ab und Collin läuft allein weiter. Plötzlich hört er Catherine brüllen. Drei Freunde des Sheriffs prügeln sie und schleifen sie durchs Gras. Collin klatscht einem von ihnen den Fisch ins Gesicht und tritt ihm in die Hoden. Dann duckt er sich ins Gras und entkommt so der Rache, muss aber zusehen, wie die Männer mit Catherine verschwinden. Diese landet im Gefängnis.
„Ich sehnte mich, ihm zu sagen, dass er alles war, was ich mir zu sein wünschte.“ (Collin über Riley, S. 102)
Dolly und der Richter sitzen ganz oben im Baum. Gerade fragen sie sich, wo eigentlich Riley ist, da hören sie Rileys Schwester Elizabeth und ihre Freundin Maude Riordan herankommen. Riley hat sie geschickt. Sie sollen ausrichten, dass man sich keine Sorgen um ihn machen müsse. Maude und Elizabeth waren in Collins Klasse, aber sie haben beide eine Klasse übersprungen und schon ihren Abschluss. Maude ist in Riley verliebt, das ist nicht schwer zu erraten; trotzdem schwärmt Collin für sie. Maude lädt Collin zu ihrer Halloweenparty ein: Er soll als Skelett verkleidet den Gästen wahrsagen. Dann spielt Maude den Baumhäuslern auf der Geige vor. Sie hat eine Einladung für ein Wettbewerbsfinale im Radio; der Gewinner erhält ein Stipendium für die Musikhochschule. Alle sind bezaubert von Maudes Spiel. Schließlich tritt Riley aus den Büschen hervor, was Maude erröten lässt. Riley schickt die Mädchen nach Hause und kommt selbst wieder ins Baumhaus. Er erzählt, man habe Catherine ins Gefängnis gesteckt. Und: Doktor Ritz habe Verena beraubt und sei verschwunden.
Schwester Ida
Der folgende Tag ist der 1. Oktober. Riley und Collin fahren in die Stadt, um Kaffee zu holen. Collin geht in die Bäckerei und plaudert dort mit Mrs. County, der Ladenbesitzerin. Vor ihr fängt Collin an zu weinen, weil er nicht weiß, wie es weitergehen soll. Mrs. County sagt sanft, sie sollten lieber nach Hause gehen, das sei im Interesse der allgemeinen Ordnung. Auf der Rückfahrt haben sie einen Lastwagen vor sich, der nur langsam vorankommt. Riley muss so stark bremsen, dass sie ins Schleudern kommen. Der Truck gehört einer Cowboyfamilie auf Missionsreise. Eine attraktive Frau steigt aus, hinter ihr ein Haufen Kinder, die meisten in Cowboykleidung wie sie selbst. Die Frau stellt sich als Schwester Ida vor. Die Kinder seien alle ihre. Vom Friseur weiß Riley, dass es 15 Kinder sind und dass Schwester Ida am Abend zuvor zu einem Gebetsabend mit Gesang und Tanz eingeladen hatte. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg, alle hatten Spaß, nur die Busters nicht. Als der Pfarrer sah, dass die Cowboyfamilie deutlich mehr Geld einsammelte, als seine Kollekte jemals an Sonntagen bekam, wiegelte er Verena auf mit der erlogenen Behauptung, die Wanderpredigerin habe Dolly als eine Feindin Christi bezeichnet. Tatsächlich rief Verena sofort den Sheriff an. Es kam zu einer Prügelei, weil Pfarrer Buster darauf bestand, dass das Geld als rechtswidriger Gewinn konfisziert wurde. Schwester Ida will nun Dolly finden, um ihr zu sagen, dass an den Verleumdungen des Pfarrers nichts dran ist.
„Ich weiß nur, wie wahr das ist: dass Liebe eine Kette von Liebe ist wie Natur eine Kette von Leben.“ (der Richter, S. 104)
Im Baumhaus grübelt Dolly, ob sie aufgeben sollen. Sie sagt, dass sie einmal im Leben eine Wahl haben möchte, und auch, dass ein Aufgeben den Richter enttäuschen würde. Der hat am Morgen um ihre Hand angehalten. Collin ahnt, dass sich Dolly von ihm entfernt. Er erzählt ihr von Schwester Ida. Dolly findet es schändlich, dass man der Familie das Geld weggenommen hat, und will zu ihr gehen. Sie finden Schwester Ida auf dem Friedhof, wo sie beteuert, dass sie niemals etwas Schlechtes über Dolly gesagt hat. Sie erklärt, sie könnten die Stadt gar nicht verlassen, weil sie kein Geld mehr hätten, nicht mal für Benzin. Dolly schickt Collin vor; er und der Richter versuchen, ein Essen für 16 Leute mehr auf die Beine zu stellen. Am Ende reicht es tatsächlich. Schwester Ida erzählt ihre Lebensgeschichte, und Dolly schenkt ihr ihr ganzes Barvermögen. Da verkündet eines der Kinder: „Sie kommen.“
Ein Schuss
Der Richter übernimmt das Kommando. Die Frauen und die kleinen Kinder sollen ins Baumhaus, die übrigen mit Steinen bewaffnet auf andere Bäume klettern. Es sind ungefähr 20 Angreifer und sie haben Gewehre dabei. Verena ist auch da. Einer der Jungen schleudert sein Lasso um den Hals von Pfarrer Buster, die Kinder werfen Steine von den Bäumen und machen Lärm mit Trillerpfeifen. Da ertönt ein Schuss, und Riley fällt vom Baum. Verena will wissen, welcher Idiot geschossen hat – es war Big Eddie Stover. Schwester Ida stellt fest, dass Riley nur an der Schulter getroffen wurde. Verena verlangt, mit Dolly allein zu sprechen. Schwester Ida und die Kinder verabschieden sich. Im anschließenden Wortgefecht zwischen Verena und Dolly versichern beide, sich für die je andere zu schämen. Verena sackt zusammen und man hilft ihr ins Baumhaus. Sie verlangt wieder, mit Dolly allein zu sein, aber der Richter will nicht weichen und erklärt, Dolly einen Heiratsantrag gemacht zu haben. Verena hält das für einen verrückten Traum, dann fragt sie aber doch, ob Dolly den Antrag angenommen hat. Dolly bekennt, dass sie nicht weiß, was sie tun soll. Der Richter und Verena versuchen nun beide, Dolly für sich zu gewinnen. Verena gesteht, dass sie neidisch auf Dollys rosa Zimmer war und auf die Gemeinschaft zwischen Dolly und Catherine. Am Ende sagt Dolly, auch sie brauche ihre Schwester, und so ist es entschieden: Alle verlassen das Baumhaus.
Danach
Danach ist nichts mehr wie zuvor. Der Richter zieht weg von seinen Söhnen in eine Pension. Dolly bekommt eine Lungenentzündung und erholt sich nur langsam. Der Richter besucht sie jeden Tag. Collin glaubt in Rückschau nicht, dass er wegen des abgelehnten Antrags enttäuscht war, er hat auch so den einzigen Menschen gefunden, dem er alles sagen kann. Alle hören Maude im Radio Geige spielen, sie kommt auf den zweiten Platz und gewinnt ein halbes Stipendium. Collin trifft Elizabeth auf der Straße und sie erinnert ihn an die Halloweenparty. Er begleitet sie nach Hause und sieht dort Riley mit Maude, die sich küssen. Collin fühlt sich verraten, hat er doch erst eine Woche zuvor Riley seine Gefühle für Maude gestanden. Zu Hause versucht er, einen Brief an Riley zu schreiben, wirft aber schließlich alle Entwürfe in den Kamin und beschließt, sich um ein Skelettkostüm zu kümmern. Dolly schneidert ihm etwas zusammen, und am Schluss malen sie die Knochen in Gold auf. Plötzlich strauchelt Dolly, Krämpfe durchzucken sie. Sie hat einen Schlaganfall und stirbt noch in derselben Nacht. Nach Dollys Tod ist Collin eine ganze Weile orientierungslos. Er fängt an, sich die Haare mit Brillantine zu glätten, und jagt Vergnügungen nach, um so wenig wie möglich zu Hause sein zu müssen. Catherine, inzwischen wieder auf freiem Fuß, hat sich ganz in ihr Häuschen im Hof zurückgezogen. Riley wird Geschäftsmann. Er kauft tatsächlich ein Stück Land vor der Stadt, um dort Häuser zu bauen. Maude Riordan studiert Geige; sie und Riley heiraten im folgenden Juni. Danach verlässt Collin die Stadt, um Anwalt zu werden. Vor drei Jahren, nach Verenas Tod, ist er zurückgekehrt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der recht kurze Roman ist in sieben Kapitel unterteilt. Collin Fenwick ist der Ich-Erzähler, der aus einer Erwachsenenperspektive heraus auf die fünf Jahre zwischen seinem 11. und seinem 16. Lebensjahr zurückblickt. Den größten Teil des Romans nehmen die Tage im Baumhaus ein, als Collin 16 ist. Der Ton ist zugleich leicht und poetisch, etwa wenn Capote das Baumhaus als ein Schiff bezeichnet, auf dem man „die wolkengesäumten Küsten aller Träume entlangsegeln“ konnte. An anderen Stellen ist der Ton auch melancholisch, und der Abstand der erzählten Zeit zum erzählenden Ich wird deutlich, etwa wenn Collin erwähnt, welche Häuser oder welche Hausbewohner nicht mehr da sind. Außerdem gibt es auch Szenen von geradezu slapstickhafter Komik, so die Szene am Baumhaus, als der Sheriff die Gruppe herausholen will und er und seine Helfer in einer Kettenreaktion übereinanderfallen. Viel Raum nehmen die Figurenbeschreibungen ein, auch von Nebenfiguren. Teils werden ganze Lebensgeschichten erzählt, etwa die von Riley Henderson oder die von Schwester Ida. So entsteht ein Kleinstadtpanorama aus unterschiedlichen Charakteren.
Interpretationsansätze
- Die Suche nach dem wahren Zuhause, einem Ort wirklicher Zugehörigkeit, treibt alle Hauptfiguren in Die Grasharfe um. Zumindest für einige Tage ist für sie das Baumhaus dieser Ort. Es ist zugleich ein Symbol der Freiheit, ein Ort der unbeschränktem Möglichkeiten und der Reflexion, abseits vom beschränkten und beschränkenden Kleinstadtalltag.
- Der Roman ist eine Studie über Einsamkeit. Alle Hauptfiguren fühlen sich in unterschiedlichen Konstellationen isoliert, die Jugendlichen ebenso wie die Erwachsenen; alle haben Zurückweisungen erfahren und durchleben Momente der Verzweiflung.
- Familie ist ein zentrales Thema: Die meisten Figuren sind nicht Teil einer traditionellen Familie. Schwester Ida hat eine sehr ungewöhnliche Familie mit 15 Kindern von verschiedenen Männern; die Talbo-Schwestern sind ein unkonventionelles Familienmodell, bei dem die Machtverhältnisse letztlich anders liegen, als es zunächst den Anschein hat; Richter Cools Zusammenleben mit seinen Söhnen und Schwiegertöchtern stellt sich als entfremdet heraus; und Collin und Riley sind beide Waisen.
- Unter dem Thema Familie liegt das Thema Liebe. Es ist auch das Hauptgesprächsthema unter den Baumhäuslern. Richter Cool beschreibt Liebe als eine Kette: Die Liebe zu einem Blatt sei nichts grundsätzlich anderes als die Liebe zu einem Menschen, und so könne man Liebe an kleinen Dingen lernen. An Verena und Dolly kann Collin beobachten, wie Liebe in Abhängigkeit aussieht. Und wie schmerzlich der Verlust von Liebe ist, bekommt er selbst zu spüren, als Riley und Maude ein Paar werden und schließlich heiraten.
- Zentral ist auch der Konflikt zwischen persönlicher und allgemeiner Moral. Viele der Figuren widersetzen sich den Geboten der Konvention: Dolly weigert sich, ihr Rezept herauszugeben, obwohl sie damit viel größere Geschäfte machen könnte. Und Richter Cool muss feststellen, dass seine Vorstellungen von Gerechtigkeit nicht immer dem Gesetz entsprechen.
Historischer Hintergrund
Die USA Mitte des 20. Jahrhunderts
In den 1930er-Jahren gerieten die USA in eine tiefe wirtschaftliche Krise: die Große Depression. Erst Franklin D. Roosevelts New Deal, ein staatliches Programm für Wirtschafts- und Sozialaufbau, bahnte ab 1933 einer nachhaltigen Veränderung den Weg. 1941 traten die USA in den Zweiten Weltkrieg ein, zunächst gegen Japan. 1943 griffen die Amerikaner auch auf dem europäischen Kriegsschauplatz ein und sicherten den Sieg der Alliierten gegen die Achsenmächte. Die Kriegswaffenproduktion begünstigte in den USA die Entwicklung einer enorm leistungsfähigen Wirtschaft.
Nach dem Krieg wurden Millionen von Soldaten durch staatliche Weiterbildungsprogramme reintegriert. Darüber hinaus sorgten günstige Kredite für Eigenheime, Ackerland, Firmengründungen sowie weitere Verbesserungen im Sozialsystem für eine prosperierende Mittelklasse und breiten Wohlstand. Hand in Hand mit dem Aufblühen der Vorstädte florierte die Autokultur. Die Kraft der amerikanischen Wirtschaft war auch in Europa in Gestalt des Marshallplans, der 13 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau bereitstellte, deutlich zu spüren.
Doch wurden die Städte auch von Problemen der Vergangenheit eingeholt. Neben der Sklaverei waren das vor allem die Einwanderungswellen der vergangenen 50 Jahre: 1943 gab es etwa schwere Rassenunruhen im New Yorker Stadtteil Harlem, nachdem ein weißer Polizist einen Schwarzen erschossen hatte. Der Konsumrausch einiger Bevölkerungsschichten täuschte teilweise darüber hinweg, dass es in den USA nicht nur Wohlstand und Besitz gab, sondern weiterhin auch Armut. Da die Industrie im Zuge zunehmender Automatisierung immer weniger ungelernte Kräfte brauchte, hatten schlecht ausgebildete Menschen immer weniger Chancen; der American Dream blieb für die meisten von ihnen eine Illusion.
Entstehung
Truman Capote schrieb von Juni 1950 bis Ende Mai 1951 an der Grasharfe. Er stellte das erste Manuskript im Urlaub im sizilianischen Taormina fertig. Der Roman enthält autobiografische Elemente aus Capotes Kindheit in Alabama. Wie der Ich-Erzähler Collin lebte auch Capote als Kind die meiste Zeit bei Verwandten. Im Garten seiner Cousine Jenny Faulk gab es ein großes Baumhaus in einem Walnussbaum, zu dem eine Wendeltreppe hochführte. Es war mit einem Rattansofa möbliert. Dort verbrachte Capote Zeit mit seiner Cousine Nanny Rumbley Faulk und anderen Kindheitsfreunden. Die Figur der Dolly Talbo ist von Faulk inspiriert, denn die exzentrische Dame bereitete einmal pro Jahr eine geheimnisvolle Medizin, deren Rezept nur sie kannte. Ihre Schwester Jenny schlug ihr vor, den Trank patentieren zu lassen und es als Geschäft aufzuziehen, aber Faulk lehnte das ab – wie Dolly.
Capotes Lektor beim Verlag Random House, Bob Linscott, war zuerst unzufrieden mit dem letzten Drittel des Romans. Sein Einwand war, dass Capote, sobald er die Figuren im Baumhaus versammelt hat, nicht mehr wisse, was er mit ihnen anstellen soll. Capote nahm daraufhin einige Änderungen vor, ohne den Text jedoch komplett umzuschreiben. Als Titel hatte er zuerst Music of the Sawgrass vorgesehen, doch Linscott machte daraus The Grass Harp.
Wirkungsgeschichte
Am 1. Oktober 1951 erschien Die Grasharfe bei Random House und wurde – nach einem ersten Roman und zwei Bänden mit Erzählungen – zu Capotes erstem Verkaufserfolg. Ein Jahr später erschien bereits eine deutsche Übersetzung. Die meisten Rezensionen waren freundlich. So fand der New York Herald Tribune den Roman „bemerkenswert“ und „von einem zärtlichen Lachen, einer charmanten menschlichen Wärme durchdrungen“. The Atlantic Monthly teilte „das Gefühl des Autors für die spezielle Poesie in Lebensentwürfen jenseits der Konformität“. Manche Kritiker fanden den Roman jedoch auch zu sentimental. Für Capote selbst war Die Grasharfe sein wichtigstes Werk.
Der Broadway-Produzent Arnold Saint Subber wurde auf den Roman aufmerksam und schlug Capote vor, er solle eine Theaterfassung schreiben. Capote war interessiert, auch weil ihm das eine neue Einkommensquelle eröffnete. 1952 wurde das Stück am Broadway uraufgeführt. Ab 1971 gab es auch eine Musicalfassung des Stoffs.
1995 verfilmte Regisseur Charles Matthau Die Grasharfe. Er besetzte seinen Vater Walter Matthau als Richter Cool; Piper Laurie spielte Dolly Talbo, Sissy Spacek die Verena Talbo.
Über den Autor
Truman Capote wird am 30. September 1924 als Truman Streckfus Parsons in New Orleans geboren. Die Ehe seiner Eltern ist zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon zerbrochen. Für ihren Sohn haben beide Elternteile keine Zeit, der kleine Truman wird seiner Großmutter anvertraut. Nach der Scheidung der Eltern heiratet die Mutter 1932 Joseph Capote, holt den Sohn aber erst einige Zeit später zu sich. 1935 wird er von seinem Stiefvater adoptiert und nimmt dessen Namen an. Das Verhältnis zu seiner Mutter bleibt distanziert; bald kommt der Junge ins Internat. Dort macht er erste homosexuelle Erfahrungen. Schon mit acht Jahren hat er Schriftsteller werden wollen, und kaum hat er die Schule verlassen, setzt er diesen Plan in die Tat um. Bereits 1946 gelingt ihm der Durchbruch, als seine Erzählung Miriam mit dem O. Henry Award ausgezeichnet wird. Capote gilt als literarisches Wunderkind. Weiteren Ruhm bringen ihm die Romane Andere Stimmen, andere Räume (Other Voices, Other Rooms, 1948), Die Grasharfe (The Grass Harp, 1951) und Frühstück bei Tiffany (Breakfast at Tiffany’s, 1958). Damit etabliert sich der exzentrische junge Mann mit der kleinen Gestalt und der hohen Stimme, der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt, in der amerikanischen Literaturszene. Kaltblütig (In Cold Blood, 1966), eine dem „New Journalism“ zugerechnete, literarisch aufbereitete Schilderung eines realen Mordfalls, wird sein größter Erfolg – und zugleich sein letzter. Capote ist plötzlich reich und berühmt, aber dieser Ruhm überfordert ihn. Er veröffentlicht keine wichtigen Werke mehr, pflegt einen luxuriösen Lebensstil und wird alkohol- und drogenabhängig. Den angekündigten Schlüsselroman Erhörte Gebete (Answered Prayers) kann er über lange Jahre nicht fertigstellen. 1987 wird das Sittengemälde der High Society unvollendet veröffentlicht und führt unter anderem zum Selbstmord der darin porträtierten Millionärswitwe Ann Woodward. Die letzten Lebensjahre Capotes sind von zunehmendem psychischen und körperlichen Verfall geprägt. Am 25. August 1984 stirbt er in Los Angeles an einer Überdosis Tabletten.
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