Heinrich Heine
Die Harzreise
Hoffmann und Campe, 2012
Was ist drin?
Poetisch und satirisch, realistisch und romantisch – Heines Reisebericht vereint Gegensätzliches.
- Reiseliteratur
- Romantik
Worum es geht
Die Geburt des modernen Feuilletons
Als der Jurastudent Heinrich Heine 1824 von langweiligen Vorlesungen und staubtrockenen Lehrbüchern die Nase voll hatte, brach er zu einer Wanderung durch den Harz auf. Zu Fuß durch die wilde Natur wollte er das wirkliche Leben jenseits von Hörsälen und Bibliotheken wiederentdecken. Die Begeisterung und die unbändige Lebensfreude, die ihn unter freiem Himmel ergriff, vermittelt seine impressionistische, bewusst subjektiv gehaltene Harzreise bis heute. Das Werk des jungen Dichters lässt sich in keine Schublade stecken. Es ist politisch und privat, romantisch und realistisch zugleich. Das unmittelbare Nebeneinander von lyrisch-schwärmerischen Naturschilderungen und bissiger Zeitkritik, von Ironie und Poesie, journalistischem und literarischem Stil macht seine Modernität aus. Es quillt nur so über von geistreichen Beobachtungen, treffsicheren Wortneuschöpfungen und witzigen Anspielungen auf das politische und kulturelle Zeitgeschehen. Trotz dieser Zeitbezüge wirken Heines Reisebeschreibungen, die stilprägend für das moderne Feuilleton wurden, noch heute frisch wie am ersten Tag.
Take-aways
- Heinrich Heines Harzreise zählt zu den Klassikern der modernen Reiseliteratur.
- Inhalt: Ein junger Dichter und Student kehrt der Universität und Wissenschaft für eine Weile den Rücken, um durch den Harz zu wandern. Auf seiner Reise lässt er die Gedanken schweifen, erfreut sich an der schönen Natur und an Begegnungen mit Menschen. Den städtischen Zeitgeist erkennt und entlarvt er hier umso schärfer; er gewinnt neue Einsichten und befreit sich vom akademischen Staub.
- Heines Harzreise ist bewusst fragmentarisch und liefert vor allem impressionistische Reiseeindrücke.
- Obgleich deutlich von der Romantik inspiriert, verabschiedet sich die Harzreise von gängigen Motiven der romantischen Reiseliteratur.
- Das Werk ist reich an ironischen Anspielungen auf Politik und Gegenwartskultur.
- Heine kritisiert nicht nur Spießbürgertum und restaurative Tendenzen, sondern auch übertriebenen Vernunftglauben und Zweckrationalismus.
- In Österreich und in Göttingen war Die Harzreise zeitweise verboten.
- Typisch Heine ist das unmittelbare Nebeneinander von Ironie und Poesie, von satirischer Gegenwartskritik und lyrischer Naturschwärmerei.
- Die Harzreise beeinflusste den feuilletonistischen Stil einer ganzen Generation von Autoren.
- Zitat: „Wie im Leben überhaupt geht’s uns auch auf dem Harze.“
Zusammenfassung
Göttingen – eine staubtrockene Wissenschaftswüste
Göttingen, bekannt für seine Würste und seine Universität, ist eine schöne Stadt. Am schönsten ist sie jedoch, wenn man ihr den Rücken zukehrt. Vor fünf Jahren ist der Ich-Erzähler als Jurastudent dorthin gezogen, und schon damals hatte die Stadt einen grauen, griesgrämigen und altklugen Ruf. Neue Ideen kommen mit reichlich Verspätung nach Göttingen. Die dortige Universität, Mittelpunkt der Stadt, lehrt nur trockenes, lebloses Wissen, keineswegs aber irgendeine Art von höherer Weisheit. Alles wird hier streng logisch und von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet. Selbst die Frage, ob die Frauen in Göttingen allzu große Füße hätten – der Erzähler kann sie aufgrund eigener intensiver Studien eindeutig verneinen –, wird in einer solchen Atmosphäre zum Gegenstand eines trockenen, akademischen Disputs.
„Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover, und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist.“ (S. 11 f.)
Die Bewohner der Stadt lassen sich in vier Kategorien unterteilen: Studenten, Professoren, Philister und Vieh, wobei die Grenzen fließend sind. Von allen Kategorien ist die letzte am bedeutendsten. Studenten kommen und gehen in Göttingen, nur die alten Professoren verharren auf ihren Posten – und sie beharren auf ihren verstaubten Positionen. Auf Schritt und Tritt begegnet einem abstoßende professorale Ignoranz und akademisches Philistertum. Manche behaupten, die Stadt sei in der Zeit der Völkerwanderung gebaut worden. Jedenfalls scheinen die strengen regionalen Einteilungen und die blutigen Riten der schlagenden Studentenverbindungen noch aus jener Zeit zu stammen. Selbst die Kinder zeigen hier schon jene dünkelhafte Haltung, die die gesamte Stadt auszeichnet.
„Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht.“ (S. 12)
Kaum hat der Reisende Göttingen hinter sich gelassen, fühlt er sich froh und aus dem engen Paragrafenkorsett befreit. Im Gegensatz zu der grauen, vom Staub gelehrter Bücher überzogenen Stadt herrscht auf der Landstraße buntes Leben und Treiben. Die Sonne scheint vom blauen Himmel, Milchmädchen und Eselstreiber, Krämer und ausgelassene Studenten ziehen ihrer Wege. Das Essen im Wirtshaus schmeckt besser als die salzlose akademische Kost, die man in Göttingen aufgetischt bekommt. Bis in die Träume hinein verfolgen den Verfasser die Göttinger Juristen und die altehrwürdigen Rechtsgelehrten mit ihren schweren Gewändern und weißen Perücken, die unter dem Blick der gestrengen Göttin Themis eifrig über Systeme, Hypothesen und andere Kopfgeburten disputieren. Der Ich-Erzähler zieht, wenn er ehrlich ist, der gewaltigen Göttin der Gerechtigkeit dann doch den lieblichen Anblick der Schönheitsgöttin Venus und die süßen Lyraklänge des Dichtergotts Apoll vor.
Gemeinsamkeiten von Natur und Dichtung
Der Ich-Erzähler wandert Richtung Osterode und Clausthal, wo er von einer Anhöhe den Blick auf grüne Tannenwälder und rote Dächer im Sonnenschein genießt. Die Berge sind steil, die dichten Wälder wogen hin und her wie ein grünes Meer, und am Himmel ziehen bizarre Wolken vorbei. Es ist eine wilde Gegend, doch dieser Eindruck wird durch ihre Einheit und Schlichtheit abgemildert. Alles wirkt harmonisch und beruhigend, die Farben gehen sanft ineinander über. Schroffe Übergänge sucht man hier – wie übrigens auch in gelungenen dichterischen Werken – vergeblich. Wie ein guter Dichter erschafft auch die Natur mit wenigen, einfachen Mitteln die allerschönsten Effekte. Allerdings erkennt nur derjenige ihre Schönheit, der sie liebevoll und ohne jedes wissenschaftliche Interesse betrachtet – mit den Augen eines Kindes. Im Unterschied zu Erwachsenen, deren Geist durch Sorgen, Studien und schlechte Dichtung verdorben ist, haben Kinder noch einen unmittelbaren Zugang zu Bäumen, Blumen und Vögeln.
Lebendige Anschauung statt trockenem Buchwissen
Beim Besuch der Clausthaler Berggruben „Dorothea“ und „Carolina“ zeigt sich der Wanderer beeindruckt vom Leben unter Tage. Das ständige Brausen und Sausen, das an den Wänden hinuntertropfende Wasser und der Qualm haben etwas Furchteinflößendes. Der Blick der Bergleute, die den ganzen Tag einsam im Dunkeln verbringen und mühsam das Erz aus dem Gestein heraushämmern, ist trotz allem hell und klar. Ihre hübschen Lieder, Märchen und Gebete geben ihnen Kraft und steigern das Gemeinschaftsgefühl. Der alte Bergmann, der den Besucher durch die Schächte führt, schwärmt vom Herzog, der schon einmal den Stollen besucht hat, und vom Haus Hannover. Solche einfache, schlichte Untertanentreue ist schön – und typisch deutsch. Andere Völker mögen mehr Witz und Esprit besitzen, in Sachen Treue aber ist das deutsche Volk unübertroffen.
„Ich war müde wie ein Hund und schlief wie ein Gott.“ (S. 19)
Im Bergstädtchen Zellerfeld, wo die meisten Bergarbeiter leben, gewinnt der Reisende Einblick in den Alltag der Bergarbeiter ebenso wie in ihre kleinen, heimeligen Häuser. Dem Fremden scheint es, als würde das Leben dort stillstehen. Die uralte Frau, die seit Jahrzehnten hinter dem Ofen gegenüber dem mit Schnitzereien verzierten Schrank sitzt, ist in ihrem Denken und Fühlen ganz mit diesen Möbeln verwachsen, ihre Seele ist sozusagen in sie eingegangen. Aus genau dieser Geisteshaltung sind übrigens auch die deutschen Märchen entstanden, in denen Gegenstände wie Strohhalm, Kohle oder Besen belebt sind und menschliche Charaktereigenschaften besitzen.
„Jeder von den übrigen Herren trat jetzt ebenfalls näher und hatte etwas hin zu bemerken und hin zu lächeln, etwa ein neu ergrübeltes Systemchen, oder Hypotheschen, oder ähnliches Mißgebürtchen des eigenen Köpfchens.“ (S. 20)
Die Menschen hier haben sich das Staunen der Kinder bewahrt, das noch für alle Eindrücke offen ist, das weder Absichten verfolgt noch sich in Einzelheiten verzettelt. Mit zunehmendem Alter tauschen wir die kindliche, auf sinnlicher Anschauung beruhende tiefe Erkenntniswelt gegen trockenes Buchwissen ein – ein denkbar schlechtes Geschäft. Wir wachsen zu vornehmen Leuten heran, beziehen feine Wohnungen, die wir vom Dienstpersonal aufräumen und reinigen lassen, stellen unsere Möbel nach Lust und Laune um und wechseln alte Kleidungsstücke, an die sich doch auch Erinnerungen und Gefühle knüpfen, gegen neue aus. Wir wissen nicht einmal, wie viele Knöpfe die Jacke hat, die wir tragen. So entfremden wir uns ganz allmählich von uns selbst. Die alte Frau hinter dem Ofen dagegen kann ihrem Urenkel Geschichten von ihrem geblümten Rock erzählen, in dem schon ihre Mutter geheiratet hat. Der Urenkel wird sie dann später seinen eigenen Enkeln erzählen – und die Tradition auf diese Weise lebendig halten.
Vernunft und Realismus töten Poesie und Fantasie
Weiter geht es nach Goslar. Die alte Kaiserstadt erweist sich als eine einzige Enttäuschung. Der Dom wurde niedergerissen, der Kaiserstuhl nach Berlin gebracht, und der Christus in der Stephanskirche mit seinem überaus realistisch geschnitzten, blutverschmierten Gesicht, das nichts von der Poesie des Schmerzes zeigt, gehört eher in einen anatomischen Lehrsaal als in eine Kirche. Besser gefällt dem Wanderer da schon das hübsche Mädchen, das aus einem Fenster schaut und mit dem er anbändelt. „Morgen reise ich fort und komme wohl nie wieder“, flüstert er ihr später am Abend im Hausflur zu – nach seiner Erfahrung die ultimative Zauberformel, um das widerstrebende Herz einer Frau zu gewinnen. Und tatsächlich erwidert die schöne Fremde – wenn auch zaghaft – seinen Kuss.
„Das ist schön bei uns Deutschen; keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“ (S. 22)
Nachts im Wirtshaus, angeregt durch die Lektüre einer Schauergeschichte, kommen ihm allerlei Gedanken über Unsterblichkeit, Furcht und Vernunft. Unsterblichkeit ist eine feine Sache, meint der Ich-Erzähler. Sie wurde wahrscheinlich von einem braven Nürnberger Bürger mit Pfeifchen im Mund erfunden, der in einem behaglichen Augenblick seines Lebens meinte, so sollte es ewig weitergehen. Und die Vernunft? Doktoren behaupten, die Vernunft sei das höchste Prinzip, und bestreiten die Kraft des Gemüts. Damit philosophieren sie die Herrlichkeit und den Glauben, alle Sonnenstrahlen und Blumen aus unserem Leben heraus. Die Fantasie lässt sich zudem nicht so leicht unterkriegen, wie sie in ihrer unbedingten Vernunftgläubigkeit behaupten. Mögen Philosophen auch mit allen Mitteln der Logik beweisen, dass es keine Gespenster gibt und dass unsere Gespensterfurcht somit absurd ist – wir schlottern dennoch vor Angst, wenn wir einem begegnen.
Die Entzauberung der Natur durch Rationalität
Von Goslar geht der Wanderer auf allerlei Umwegen und vermeintlichen Abkürzungen weiter durch den Harz. Ein wohlgenährter Bürger bringt ihn zurück auf den rechten Pfad und klärt ihn nebenbei über die Zweckmäßigkeit der Natur auf – die er so ihres ganzen Zaubers beraubt. Die Bäume seien grün, weil grün gut für die Augen sei, doziert er. Dann habe Gott wohl auch die Rinder erschaffen, damit sich der Mensch daraus eine schöne Fleischsuppe koche, ergänzt der Ich-Erzähler, doch seinem Begleiter entgeht die Ironie. Kaum ist der Reisende wieder allein, beginnen die Bäume zu sprechen, die Blumen tanzen und der Himmel umarmt die Erde. Er ist sich sicher: Gott hat den Menschen geschaffen, damit er die Herrlichkeit der Natur bewundere.
„Eben wie ein großer Dichter, weiß die Natur auch mit den wenigsten Mitteln die größten Effekte hervor zu bringen.“ (S. 24)
Die Schönheit der Gegend treibt ihm die Tränen in die Augen. Am Fuß des weltberühmten Brocken, eines großen Berges inmitten einsamer Wälder, lädt ihn ein Hirte zu Brot und Käse ein – ein wahrhaft königliches Mahl, wie der Reisende meint. Bei der anschließenden Besteigung des Berges erscheinen ihm Wälder, Bäche und Felsen wie verzaubert, Geschichten von Hexen und bösen Geistern fallen ihm ein. Die Vögel singen von Sehnsucht und zwischen den Bäumen erscheint ihm die Geliebte. Vom Gipfel des Brockens hat er einen Blick über viele Hundert Städte, Dörfer, Berge, Wälder und Flüsse. Das bis ins Detail überblickbare, scharfgezeichnete Panorama verleiht dem Ort etwas Urdeutsches – ebenso wie die romantische, märchenhafte Verrücktheit des Brockens.
Männliche Vernunft und weibliches Gefühl
Der Sonnenuntergang, den er auf dem Brocken sieht, hat etwas Erhabenes, geradezu Religiöses, und der Sonnenaufgang, den er am nächsten Morgen nach einer feuchtfröhlichen Nacht erlebt, regt ihn zu einem Gedicht über Naturschönheit und die Sehnsucht nach der Geliebten an. Die pathetischen Ergüsse und Gemeinplätze, die die anderen Reisenden im Gästebuch hinterlassen haben, holen ihn indes schlagartig auf den Boden der Realität zurück; er wendet sich lieber dem guten Frühstückskaffee zu. Vor der Abreise schenkt er noch einer schönen Dame, die mit ihrer Mutter und einem Begleiter unterwegs ist, eine selbst gepflückte Blume – und ärgert sich über die trockene Wissenschaftlichkeit, mit der der Begleiter der beiden Damen die Blume nach ihren Staubfäden klassifiziert. Blumen und Menschen aufgrund von Äußerlichkeiten in Klassen einzuteilen, liegt dem Erzähler gar nicht. Er hat da sein eigenes System entwickelt und teilt alles danach ein, ob es essbar ist oder nicht.
„Unsterblichkeit! Schöner Gedanke! Wer hat dich zuerst erdacht?“ (S. 40)
Beim Abstieg vom Brocken begeistern ihn die zwischen Gestein und umgestürzten Bäumen plätschernden Quellen. Sie vereinigen sich bald zu einem Bach, der in zahlreichen Wasserfällen ins Tal hinunterstürzt. Die Ilse – so der Name des Baches – erinnert ihn an ein wildes, fröhliches Mädchen, das den Berg hinabläuft, im weißen Schaumgewand, mit flatternden Bändern und in der Sonne funkelnden Diamanten. Die Frauen kennen noch dieses wunderbare Gefühl, wenn Natur und Seele verschmelzen, wenn Bäume und Gedanken, Vogelgesang und Wehmut, Kräuterduft und Erinnerungen eins werden. Männer dagegen neigen dazu, alles logisch zu klassifizieren und in Schubladen einzuteilen. Dadurch verpassen sie das Wesentliche.
Frühling in der Natur und im Herzen
Es ist der 1. Mai, und der Wanderer staunt über den Frühling, der sich über die Erde ausbreitet. Die Bäume blühen, die Städte wirken aufgeräumt und frisch geputzt, die Vögel bauen ihre Nester und auf den Straßen freuen sich die Menschen. Überall herrscht Grün, die Farbe der Hoffnung. Überall blühen die Blumen, und auch das Herz des Dichters blüht in Gedanken an eine Ilse oder Agnes, oder wie auch immer sie heißen möge, wieder auf. Dieses Herz ist kein Veilchen, keine Lilie oder Rose, die heute blüht und morgen welkt, um bald wieder aufzublühen; vielmehr gleicht es einer abenteuerlichen, wildfremden Blume aus den brasilianischen Wäldern, die angeblich nur alle 100 Jahre einmal blüht und an der man sich leicht verletzen kann.
„In seinem Streben nach dem Positiven hatte der arme Mann sich alles Herrliche aus dem Leben heraus philosophiert, alle Sonnenstrahlen, allen Glauben und alle Blumen, und es blieb ihm nichts übrig, als das kalte, positive Grab.“ (S. 42)
Das letzte Mal, als sein Herz blühte, ging die Blume mangels Sonne und Wärme elendig ein. Jetzt aber regt sich das Herz wieder in seiner Brust, eine Knospe schießt hervor und wird bald aufplatzen. Ihr Duft raubt ihm jetzt schon den Verstand, sodass er nicht mehr weiß, wo er noch ironisch ist und wo er beginnt, sentimental zu werden. Am liebsten würde er zerfließen und sich in einzelne Atome auflösen – wie soll das dann erst nachts, unter freiem Sternenhimmel werden? Aber wie gesagt, es ist der 1. Mai, da hat jeder ein Recht auf Sentimentalität, ganz besonders der Dichter.
Zum Text
Aufbau und Stil
Heinrich Heines Harzreise ist bewusst fragmentarisch gehalten und enthält vor allem impressionistische Reiseeindrücke. In die für die damalige Zeit eher umgangssprachliche Prosa sind stimmungsvolle lyrische Passagen und volksliedhafte Gedichte eingestreut. Heines romantisch-schwärmerische Natur- und Landschaftsbeschreibungen verzichten weitgehend auf objektive Informationen und stellen stattdessen die persönlichen Empfindungen des Wanderers in den Vordergrund. Kennzeichnend für die Harzreise ist neben dem für Heine typischen trockenen Humor auch der ständige Wechsel zwischen realistischem und romantischem, satirischem und lyrischem Tonfall, zwischen Persiflage und Poesie. Wo der Autor eben noch in genussvollem Spott über Zeitgenossen herzieht, taucht er wenige Sätze weiter begeistert in die Welt der Sagen und Märchen ein. Die Personifizierung von Naturgegenständen verleiht dem Reisebericht bisweilen selbst etwas Märchenhaftes, beinahe Naives. Immer wieder ersinnt der Autor Wortneuschöpfungen („transzendentalgrau“, „deutschruhig“), um Personen oder Situationen mit wenigen Strichen treffsicher zu skizzieren.
Interpretationsansätze
- Wenn Heine schreibt, wie im Harz ginge es auch im Leben zu, fasst er damit das Programm seines Reiseberichts zusammen: nicht nur Naturschönheiten und Sehenswürdigkeiten zu beschreiben, sondern auch das Leben allgemein zu reflektieren.
- Heine war ein Verehrer Goethes und besuchte ihn auf der Weiterreise in Weimar, gleichzeitig distanzierte er sich aber mit seinem betont subjektiv-assoziativen Stil deutlich von dessen klassischem, objektivem Literaturverständnis.
- Heine zeigt ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Zeit. Seine Kritik richtet sich gegen das Restaurative, Ewiggestrige, Spießbürgerliche ebenso wie gegen das allzu laute Revolutionsgetöse. Aufklärerischer Drang und strikter Vernunftglauben sind ihm ebenso ein Dorn im Auge wie religiöser Übereifer und Sinnesfeindlichkeit.
- Heines Reisebericht ist reich an Anspielungen auf gegenwärtige politische Ereignisse und wissenschaftliche Auseinandersetzungen, auf literarische Moden und prominente Gelehrte seiner Zeit wie Kant oder Hegel. Mit trockenem Humor karikiert er den rationalistisch-utilitaristischen Blick auf die Natur ebenso wie übertrieben sentimentale lyrische Ergüsse zeitgenössischer Schriftsteller.
- Ob es sich um die Rückständigkeit der Göttinger Universität, den Nationalismus der Burschenschaften oder den allgegenwärtigen Antisemitismus handelt – Heine kleidet seine Zeitkritik in Ironie und nimmt ihr damit alles Bittere, Verbohrte, Dogmatische. Mitunter ist sie kaum spürbar, etwa wenn er scheinbar ehrlich überzeugt, aber doch mit leichtem Augenzwinkern die deutsche Treue lobt.
- Immer wieder spricht Heine den Verlust von Traditionen und die Entfremdung des modernen Stadtmenschen von sich selbst und von der Natur an. Eine der Ursachen dafür erkennt er in der Zweckrationalität, die alle Lebensbereiche erfasst hat.
- Heines Erzählweise ist durch idealistische Aufbruchstimmung gekennzeichnet, die immer wieder durch die desillusionierende Realitätserfahrung aufgehoben wird. Dieser Kontrast wie auch das unmittelbare Nebeneinander von Hohem und Alltäglichem machen den Witz und die Modernität der Harzreise aus.
Historischer Hintergrund
Abschied vom romantischen Bild der Reise
Vor dem Hintergrund der neu entstehenden Industriegesellschaft erlebte das Reisen im späten 18. Jahrhundert einen tief greifenden Bedeutungswandel. Waren zuvor vor allem Handwerker und Kaufleute zu Fuß unterwegs gewesen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, so wurde die Wanderung in der Romantik zum Selbstzweck. Wandern beinhaltete nun nicht mehr bloß – wie noch in der altständischen Gesellschaft – zielgebundenes Vorwärtskommen. In den Vordergrund rückten die Erfahrungen und Eindrücke, die auf der Wanderung gesammelt wurden. Indem er Schwierigkeiten und natürliche Hindernisse aus eigener Kraft bewältigte, versprach sich der Wanderer eine persönliche Reifung und innerliches Wachstum. Die Beobachtung der Natur bot ihm zudem Anlass zur Selbstbetrachtung, die Landschaft wurde zum Spiegel des eigenen Denkens und Fühlens.
Die Anfänge der touristischen Erkundung des Harzes reichen bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Meist waren es Adlige und Bürger, Studenten und Künstler, die sich auf den damals noch beschwerlicheren Weg durch den Harz machten. Zu den bevorzugten Ausflugszielen zählten Höhlen, Felsen, Bergwerke, historische Ruinen und natürlich der sagenumwobene Brocken, der damals noch „Blocksberg“ genannt wurde und als alpinistische Herausforderung galt. Im Jahr 1777 unternahm der junge Johann Wolfgang Goethe eine winterliche Reise durch den Harz und bestieg den verschneiten, schwer zugänglichen Berg. Mit seinem Gedicht Harzreise im Winter prägte er in den folgenden Jahrzehnten den Diskurs der romantischen „Winterreise“ als Wanderung des einsamen, auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts. Die leblose Natur und frostige Landschaft gerieten – am prominentesten in Wilhelm Müllers Zyklus Winterreise – zum Symbol einer existenziellen Krise und eines ziellos wandernden Ich. In der Nachfolge Goethes bereisten auch Ludwig Tieck und Novalis den Harz. Ihre Texte erhoben die urtümliche Landschaft zu einem nationalen Topos und zu einer poetischen Chiffre des Erhabenen.
Mit seiner innigen Naturschwärmerei und der ironisch gefärbten Kritik an Aufklärungswahn, Zweckrationalität und deutschem Philistertum knüpfte Heines Harzreise an die Tradition romantischer Reiseliteratur an. Das abrupte Ende und der bewusst fragmentarische Charakter seines Werks wie auch das Bergwerkmotiv sind noch typisch romantisch; in seiner Verwendung zeitkritischer, satirischer Elemente hob sich Heine aber deutlich vom Tonfall reisender Schöngeister ab. Anders als Goethe und seine Nachfolger richtete er den Blick nicht auf Kunst und Kultur vergangener Epochen, sondern bewusst auf das Hier und Jetzt, auf die aktuellen politischen und sozialen Verhältnisse. Er entführte seine Leser nicht – wie etwa Joseph von Eichendorff mit seinem 1826 erschienenen Taugenichts – in eine fantastische Märchenwelt, sondern zeigte ihnen die Gegenwart. Indem er den romantischen Reisebericht mit Sozialkritik und politischer Satire verband, entwickelte Heine ein ganz neues literarisches Genre.
Entstehung
Schon seit seinem ersten Aufenthalt in Göttingen und seiner Ausweisung aus der Stadt 1821 wegen einer Duellaffäre hatte Heine eine Wanderung durch den Harz geplant. Sein Arzt hatte dem Studenten, der häufig unter Kopfschmerzen litt, dazu geraten. Im September 1824 brach er zu der „Gesundheitsreise“ auf, die von Göttingen über Northeim, Osterode, Clausthal und Goslar bis zum Brocken und durch das Ilsetal führte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Heine, der sich seit acht Jahren mit seinem Jurastudium herumquälte, zwei Werke veröffentlicht und war als Dichter in engeren literarischen Kreisen bekannt. Gleich nach seiner Rückkehr nach Göttingen machte er sich daran, seinen Reisebericht zu schreiben. Die erste Fassung der Harzreise erschien im Januar und Februar 1826 in der Berliner Zeitschrift Der Gesellschafter, allerdings mit einigen Änderungen, die einer Zensur zuvorkommen sollten. Aus Ärger über diese Eingriffe des Herausgebers Friedrich Wilhelm Gubitz plante Heine, den Text zusammen mit anderen Prosastücken und Gedichten in einem Band zu veröffentlichen. Für dieses Buch, das im Mai 1826 unter dem Titel Reisebilder erschien, überarbeitete Heine die Harzreise noch einmal maßgeblich, ohne jedoch den fragmentarischen Charakter zu verändern. Dank der Bemühungen des Hamburger Verlegers Julius Campe hielten die Zensoren sich zurück. In Österreich und in Göttingen war das Buch allerdings zeitweise verboten.
Wirkungsgeschichte
Die Harzreise erzielte schon bald nach dem Erscheinen 1826 trotz ambivalenter Literaturkritiken einen überraschenden Erfolg beim Publikum und ermöglichte Heine eine unabhängige Existenz als Schriftsteller. Die Reisebilder, die bis 1831 in vier Bänden erschienen, insbesondere die darin eingebettete Fassung der Harzreise, wurden zum Vorbild für eine ganze Generation von Autoren. Mit dem Werk begründete Heine in Deutschland einen modernen feuilletonistischen Stil, der journalistisches mit literarischem Schreiben verbindet und sich an ein breiteres Publikum wendet.
Über den Autor
Heinrich Heine wird am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf als Harry Heine geboren. Seine Eltern sind Juden. Die politischen Wirren dieser Zeit prägen seine Kindheit: Mal steht Düsseldorf unter französischer Verwaltung, mal gehört die Stadt zu Bayern, dann wird sie von russischen Truppen besetzt und kommt 1815 zu Preußen. Unter französischer Herrschaft sind die Juden gleichberechtigt; danach hat Harry unter wachsender Diskriminierung zu leiden. So ist es nicht verwunderlich, dass er sich bald für die Ideale der Französischen Revolution begeistert. Sein Versuch, in einem bürgerlichen Beruf Fuß zu fassen, gestaltet sich schwierig: Mehrmals beginnt er eine kaufmännische Ausbildung, schließt sie jedoch nicht ab. Er nimmt ein Jurastudium auf, doch auch das macht ihm Mühe. Bereits ab 1817 veröffentlicht er aber Gedichte und arbeitet ab 1822 als Journalist. Wegen seiner politischen Einstellung gerät er jedoch bald in Konflikt mit der Zensur. Um seine Berufschancen zu verbessern, lässt er sich kurz vor der Promotion taufen und erhält die Vornamen Christian Johann Heinrich. Vergebens bleibt sein Versuch, sich als Rechtsanwalt in Hamburg niederzulassen, aber dort lernt er immerhin den Verleger Campe kennen, der den jungen Schriftsteller fördert. Obwohl getauft, bleibt Heine wegen seiner jüdischen Herkunft in seinen beruflichen Möglichkeiten begrenzt. Nachdem auch eine Bewerbung um eine Professur scheitert, siedelt er 1831 nach Paris über, wo nach der Julirevolution von 1830 das politische Klima deutlich liberaler ist als in Preußen. Hier arbeitet er als Schriftsteller und Journalist. Er veröffentlicht weiterhin auch in Deutschland und hat durch seine kritischen Texte Ärger mit der Zensur. Als 1844 ein Grenzhaftbefehl gegen ihn ausgesprochen wird, wird Frankreich für ihn endgültig zum Exil. In seinen letzten Lebensjahren leidet Heine zunehmend unter Lähmungserscheinungen; ab 1848 ist er bettlägerig, am 17. Februar 1856 stirbt er schließlich. Er wird auf dem Friedhof von Montmartre beerdigt. Zu seinen wichtigsten Werken gehören die Liebesgedichte Buch der Lieder (1827) und die satirischen Reisebilder (1826–1831).
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