Edmund Husserl
Die Idee der Phänomenologie
Fünf Vorlesungen
Meiner, 1986
Was ist drin?
Die Grundlagen der Phänomenologie, ausgebreitet in fünf Vorlesungen ihres Erfinders.
- Philosophie
- Moderne
Worum es geht
Zu den Sachen selbst
„Die Gedanken stehen etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren.“ So formulierte der Naturwissenschaftler Carl Vogt Mitte des 19. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Einstellung, die man heute als Vulgärmaterialismus bezeichnet: Psychische Vorgänge seien immer auf organische Ursachen zurückzuführen. Dieser Position widersprach gut ein halbes Jahrhundert später Edmund Husserl. Auch er war ursprünglich Naturwissenschaftler, entdeckte dann aber seine philosophische Seite und startete zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein Projekt, die Philosophie neu zu beleben und ihr einen eigenen Rang zuzuerkennen, ohne sie an den Maßstäben der Naturwissenschaften auszurichten. Für Husserl sind mathematische, biologische oder physikalische Sätze nur Annahmen, die die wirklichen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen verwischen. Den Sachen selbst, den Phänomenen, könne man nur über eine philosophische Wesensschau auf die Spur kommen, die alles, was von der Essenz der Dinge ablenke, in Klammern setze. In den fünf Vorlesungen der Idee der Phänomenologie legt Husserl erstmals dar, wie diese Ausklammerung (er nennt sie „phänomenologische Reduktion“) konkret funktioniert. Ein wichtiger Grundlagentext der Phänomenologie.
Take-aways
- Die Idee der Phänomenologie gehört zu den wichtigsten Grundlagentexten der Erkenntnisphilosophie.
- Inhalt: Die Naturwissenschaften verlassen sich unkritisch auf ihre Erkenntnisse. Man muss ihnen als Erkenntniskritik die phänomenologische Methode entgegenstellen. Zu den Dingen selbst kann man nur gelangen, wenn man sie von allen Vorbedingungen und Nebenbedeutungen reinigt und dadurch ihren wahren Kern erkennt. Phänomenologische Wesensschau zeigt die Dinge, wie sie wirklich sind. Man kann sich z. B. die Farbe Rot an sich vorstellen, indem man alle Assoziationen dazu ausklammert.
- Im Kern handelt es sich bei der Phänomenologie um eine neue Form der Erkenntnistheorie, die danach fragt, was der Mensch von der Welt wissen kann.
- Vom Psychologisieren hält Husserl wenig: Nicht der menschliche Geist, sondern dessen Verhältnis zu den Gegenständen der Welt steht im Vordergrund.
- Das Buch besteht aus den Skripten einer fünfteiligen Vorlesungsreihe, die Husserl im Frühjahr 1907 an der Universität Göttingen hielt.
- Der Gedanke der phänomenologischen Reduktion wird hier erstmals ausgeführt.
- Die Texte wurden zum Grundstein von Husserls weiterer Forschung
- Sie wurden erst 1947, nach Husserls Tod, veröffentlicht.
- Die Phänomenologie beeinflusste Philosophen wie Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre.
- Zitat: „Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänomenologische Reduktion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit, die nichts von Transzendenz mehr bietet.“
Zusammenfassung
Natürliche und philosophische Wissenschaft
Die natürliche und die philosophische Wissenschaft entstammen unterschiedlichen Geisteshaltungen. Mit der natürlichen Geisteshaltung betrachtet man die Objekte in der unmittelbaren Umgebung ganz unbekümmert. Man verschwendet keinen Gedanken an Erkenntniskritik. Alles hat man unmittelbar vor Augen und es vermischt sich zuweilen mit den eigenen Erinnerungen. Die Urteile über die Sachen sind entsprechend natürlich. Man macht allgemeine Aussagen über die Dinge und ihre Beziehungen, man generalisiert und legt sich ein logisches Konzept vom Zusammenspiel der einzelnen Erscheinungen zurecht. Diese Erkenntnisse können sich im Nachhinein als Trugschlüsse herausstellen. So kann eine gesicherte Erkenntnis eine zuvor bloß angenommene ausstechen, z. B. wenn man sich verrechnet oder verzählt hat und seine Meinung revidieren muss. Mit den Urteilen verändern sich auch die Wissenschaften: Langsam und stetig vermehren sie ihre Erkenntnisse, gehen fehl, werden korrigiert, gehen wieder fehl usw.
„In der natürlichen Geisteshaltung sind wir anschauend und denkend den Sachen zugewandt, die uns jeweils gegeben sind (...)“ (S. 17)
Was bei der natürlichen Denkhaltung einfach hingenommen wird – nämlich die Erkenntnis –, wird bei der philosophischen Denkhaltung zum Problem. Die Erkenntnismöglichkeit wird zum Mysterium und undurchschaubaren Rätsel.
Die Rolle der Erkenntniskritik
Erkenntnis ist immer die Erkenntnis von etwas. Sie ist nie für sich selbst, sondern bezieht sich stets auf gewisse Gegenstände. Wie aber kann man sicher sein, dass die Gegenstände und ihre Erkenntnis deckungsgleich sind? Die Frage nach der Erkenntnismöglichkeit steht plötzlich im Raum und wirft immer weitere Fragen auf. Existiert überhaupt, was man mittels seiner Erkenntnis zu erkennen glaubt? Oder ist vielleicht der Akt der Erkenntnis, das Erlebnis der Erkenntnis, schon alles, und die erkannten Objekte sind gar nicht so, wie man sie erkennt? Erkennen wäre dann ein ebenso subjektives Erlebnis wie Erinnern oder Erwarten. Zieht man die biologische Wissenschaft zurate, so erscheinen der Mensch und sein Intellekt als zufällige Ereignisse, die auch anders sein könnten und sich vermutlich zu etwas anderem entwickeln werden. Ihr zufolge wäre die menschliche Erkenntnis an den Intellekt gebunden und der Mensch wäre gar nicht fähig, die wahre Natur der Dinge zu erkennen.
„Andererseits ist Erkenntnis ihrem Wesen nach Erkenntnis von Gegenständlichkeit, und sie ist es durch den ihr immanenten Sinn, mit dem sie sich auf Gegenständlichkeit bezieht.“ (S. 19)
Hält sich der Mensch an die natürlichen Wissenschaften, ist alles klar und deutlich, beweisbar und objektiv. Fängt er an, tiefer nachzudenken, wird es verworren und ambivalent. Der Widersinn beherrscht das Feld der Erkenntnistheorie oder – wie man es auch nennen kann – die Kritik der theoretischen Vernunft. Die Erkenntnistheorie muss eine kritische sein, denn sie muss hinterfragen, was der Mensch überhaupt wissen und erkennen kann. Durch sie unterscheidet sich die Philosophie von den natürlichen Wissenschaften.
Philosophie ist Phänomenologie
Die Erkenntniskritik ist das Fundament der Philosophie. Sie versucht, das Wesen der Erkenntnis aufzuklären, und ist deshalb eine Phänomenologie der Erkenntnis. Phänomenologie aber ist sowohl eine Wissenschaft wie auch eine besondere philosophische Denkhaltung und Methode. Die Philosophie hat sich vor langer Zeit die Vorgehensweise der anderen Wissenschaften zu eigen gemacht; sie ging davon aus, dass alle Wissenschaften ein und dieselbe Erkenntnismethode benutzen müssten. Vor allem die so genannten exakten Wissenschaften, wie die Mathematik, waren der Philosophie seit dem 17. Jahrhundert ein Vorbild.
„Die Möglichkeit der Erkenntnis wird überall zum Rätsel.“ (S. 21)
In jüngster Zeit jedoch wird Kritik an dieser Vorgehensweise laut. Es wird zu Recht von Vorurteilen gesprochen. Natürliche Wissenschaften können sich aufeinander beziehen und berufen – die Philosophie kann dies nicht. Sie handelt von völlig anderen Dingen und bezieht sich auf ganz andere Dimensionen als die natürlichen Wissenschaften. Die Philosophie benötigt darum eine neue Methode, sie darf von den Ergebnissen und der Denkhaltung der natürlichen Wissenschaften keinen Gebrauch machen.
Der kartesianische Zweifel
Erkenntniskritik bedeutet, das ganze Sein mit einem Fragezeichen zu versehen, es also als fraglich zu markieren. Der Zweifel gehört zur Erkenntniskritik, sogar der Zweifel an deren eigenen Behauptungen. Sie darf nichts als gegeben hinnehmen. Da stellt sich wie von selbst die Frage, womit die Erkenntniskritik eigentlich anfangen soll. Denn wo nichts erkannt werden darf, kann es eine Wissenschaft des Erkennens gar nicht geben. Hilfreich ist bei diesem Dilemma der kartesianische Zweifel, also der von René Descartes formulierte Zustand des Geistes, der an allem zweifelt, aber dann feststellt, dass er selbst, der zweifelnde Geist, auf jeden Fall existieren muss – sonst würde das Zweifeln ja gar nicht stattfinden. Wann immer ein Mensch denkt, wahrnimmt und urteilt, muss für seinen Geist zumindest dieses Denken, Wahrnehmen und Urteilen gewiss sein. Was immer ein Geist tut, er verfügt über eine innere Wahrnehmung seiner „Cogitatio“, d. h. er kann die Aktivitäten seines Denkens zum Objekt seiner Betrachtung machen.
Transzendenz und Immanenz
Ein weiteres Problem für die Erkenntniskritik ist der Widerspruch von Transzendenz und Immanenz. Die Erkenntniskritik muss ja etwas über Dinge herausfinden, die in ihr selbst nicht vorhanden (immanent) sind, sondern außerhalb (transzendent) ihres Seins liegen. Transzendente Wahrheiten zu beweisen ist schwer. Die natürlichen, objektiven Wissenschaften können nichts dazu beitragen, weil sie zwar Fakten über die transzendente Welt sammeln, sie aber niemals wirklich schauen können. So geht es der Wissenschaft wie einem taub geborenen Menschen, der zwar alles über Musik, ihre Möglichkeiten, Harmonien und Effekte als Faktenwissen sammeln kann, aber niemals wirklich verstehen oder sich vorstellen kann, was Musik ist.
Die phänomenologische Reduktion
Wie kann die Erkenntniskritik mit der Transzendenz umgehen? Am besten wäre es für sie, wenn es die Transzendenz gar nicht gäbe, denn letztlich kann sie auch von der Erkenntniskritik nicht erkannt werden. Die Erkenntniskritik behilft sich damit, dass sie alles Transzendente ausblendet. Nur so gelingt die Unterscheidung zwischen dem reinen Phänomen, also dem Gedachten und Erfahrenen, und dem psychologischen Phänomen des Denkens selbst. Der Zustand des Denkens, die „Cogitatio“, ist ein Faktum, das hingenommen werden muss. Es ist der Forschungsgegenstand der psychologischen Wissenschaft. In der Phänomenologie ist dies aber nicht von Interesse. Das Ich und sein Erleben von Phänomenen muss aus der Erkenntniskritik ausgeklammert werden. Dieser Vorgang des Ausklammerns wird als phänomenologische Reduktion bezeichnet.
„Phänomenologie bezeichnet (...) zugleich und vor allem eine Methode und Denkhaltung: die spezifisch philosophische Denkhaltung, die spezifisch philosophische Methode.“ (S. 23)
Ziel dieser Reduktion ist es, eine „absolute Gegebenheit“, das reine Phänomen, zu erlangen. Das erlebte Phänomen muss also von jeder Transzendenz befreit werden, sogar vom Akt des Erlebens selbst. Aus dem Gemenge von Phänomen und Transzendenz schält sich mittels der phänomenologischen Reduktion das reine Phänomen heraus. Und dieses Phänomen gilt es zum Untersuchungsgegenstand einer neuen Wissenschaft zu machen: der Phänomenologie. Damit haben wir die Sphäre der Psychologie verlassen und können uns fortan nur um die Phänomene selbst kümmern.
Phänomenologie als reine Wesensschau
Die Phänomenologie als Wissenschaft stößt auf mancherlei Probleme. Wissenschaften operieren gewöhnlich mit objektiven Daten. Aber Objektivität würde bedeuten, dass wieder Transzendenz in die Beobachtungen des Wissenschaftlers einfließt, und genau das gilt es ja zu vermeiden. Es scheint darum, als sei die Phänomenologie notwendigerweise immer eine subjektive Wissenschaft. Man kann zu einem Phänomen sagen, während man es schaut: „Da ist es.“ Aber eine objektiv gültige Aussage kann man daraus nicht ableiten. Die Phänomenologie ist eine Wesensschau, die nur im reinen Schauen die Gegebenheit von Phänomenen betrachtet. Mehr kann und will sie nicht. Wissenschaftliche Erkenntnisse, mathematische Formeln, Ideen von Gott und Welt: All das spielt keine Rolle für die Phänomenologie. Der Begriff „Apriori“ ist darum eine treffende Umschreibung für die phänomenologische Wesensschau.
Das Wesen des Allgemeinen
Die phänomenologische Wesensforschung ist immer generalistisch, sie zielt aufs Allgemeine. Es geht ihr nicht um individuelle Erlebnisse einzelner Personen. Vielmehr kommt es auf die generellen Gegebenheiten an, auf denen die Erkenntnis beruht. Die Frage ist aber, ob das Allgemeine überhaupt von der Phänomenologie erkannt werden kann, ob es überhaupt „selbst gegeben“ und nur für sich existiert, also ohne transzendentale Elemente, ohne Verweise und ohne Horizont. Dergestalt, dass man schauend sagen kann: „Da ist es, so ist es.“ Die Antwort lautet: Ja, es ist möglich. Man kann eine Anschauung von etwas Allgemeinem haben, das den Anforderungen der Phänomenologie entspricht. So kann man sich etwa die Farbe Rot vorstellen. Die Anschauung streicht im Verlauf der phänomenologischen Reduktion jeden Nebenbezug der Farbe Rot, z. B. bestimmte Gegenstände, die von dieser Farbe sind. Es ist ja nicht dieses oder jenes Rot gemeint, sondern nur die Farbe Rot an sich. In reiner Anschauung kann man sich so tatsächlich ein Bild vom Wesen der Farbe Rot machen.
„Die Philosophie aber liegt in einer völlig neuen Dimension. Sie bedarf völlig neuer Ausgangspunkte und einer völlig neuen Methode, die sie von jeder ,natürlichen‘ Wissenschaft prinzipiell unterscheidet.“ (S. 24)
Die Phänomenologie ist dort zu Ende, wo die objektivierenden Wissenschaften beginnen. Sie schaut, sie klärt auf, sie unterscheidet und bestimmt den Sinn von Phänomenen. Sie ist aber keine deduktive Wissenschaft und verwendet keine theoretischen und mathematischen Konzepte, sondern ist reines Schauen. Was sie schaut, sind selbst gegebene Phänomene. Sie sind „evident“, weil sie auf nichts anderes zurückzuführen sind als auf sich selbst. Diese Selbstgegebenheit ist eine letzte Instanz, sie ist absolut. Man kann natürlich leugnen, dass es so etwas überhaupt gibt. Das würde aber gleichzeitig bedeuten, dass man alle letzten Normen leugnet – und dann bräuchte man mit der Philosophie und der Phänomenologie gar nicht erst anzufangen.
Spezielle Probleme
Die Phänomenologie hat schon viel erreicht. Es gelingt ihr, reine Phänomene zu schauen und diese auch noch zu etwas Allgemeinem zu erheben. Von der Wahrnehmung der Farbe Rot gelangt man durch phänomenologische Reduktion zur Anschauung des Wesens der Farbe. Nun muss man die phänomenologische Betrachtung aber noch um den Zeitfaktor ergänzen. Schließlich können Menschen sich auch erinnern und damit etwas Selbstgegebenes in ihrer Fantasie heraufbeschwören. Spielt das für die Wesensschau noch eine Rolle, oder ist nur die unmittelbare Anschauung relevant? Die Antwort muss lauten: Das Wesen eines bestimmten Gegenstands lässt sich sowohl unmittelbar in der phänomenologischen Schau als auch in einer Fantasiebetrachtung erkennen. Im einen Fall handelt es sich um eine einzelne Wahrnehmung, im anderen um eine Fantasievergegenwärtigung, die ein bereits erschlossenes Wesen wachruft.
„Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänomenologische Reduktion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit, die nichts von Transzendenz mehr bietet.“ (S. 44)
Allerdings muss man zwischen dem fantasierten Gegenstand und dem Akt des Fantasierens unterscheiden. Das Fantasieren ist ein aktiver Denkakt, der vorgestellte Gegenstand aber ist nicht gegenwärtig, da er ja nicht in diesem Moment erlebt, sondern nur vorgestellt wird. Dennoch ist ein Bild des Gegenstands vorhanden. Er ist da und doch nicht da, bloße Erinnerung, aber dennoch das Wesen abbildend. Der fantasierte Gegenstand ist nicht existent, sein Wesen kann aber geschaut werden. Daher kann sein Wesen beurteilt werden, auch wenn seine Existenz verneint werden muss. Existenz und Essenz sind zwei verschiedene Arten der Gegebenheit.
„Jedem psychischen Erlebnis entspricht also auf dem Wege phänomenologischer Reduktion ein reines Phänomen, das sein immanentes Wesen (...) als absolute Gegebenheit herausstellt.“ (S. 45)
Die Phänomenologie hat noch mit weiteren Problemen zu kämpfen. Wie soll man mit reinen Fiktionen, z. B. Fabeltieren, oder mit symbolischem Denken, etwa in Form einer Rechenaufgabe, umgehen? Alles, was wir denken können, hat eine gewisse Evidenz und kann als gegeben angesehen werden, das gilt auch für völlig absurde Dinge, beispielsweise ein rundes Viereck. Zu den zukünftigen Aufgaben der Phänomenologie gehört es, die verschiedenen Arten der Gegebenheit zu unterscheiden und zu erforschen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Idee der Phänomenologie besteht aus den Skripten von fünf aufeinander aufbauenden Vorlesungen. Husserl geht von einfachen Prämissen aus und entwickelt daraus einen neuen wissenschaftlichen Ansatz. Der Schwierigkeitsgrad der Texte steigt kontinuierlich an: Der erste ist noch relativ leicht lesbar, die weiteren sind zunehmend kompliziert. Husserl versucht dem entgegenzuwirken, indem er sich häufig wiederholt und dem Bild seiner Phänomenologie immer weitere Facetten hinzufügt. Bisweilen verwendet er griechische und lateinische Fachbegriffe der Philosophie und ergeht sich in langen Argumentationssträngen, während er an anderer Stelle geradezu alltagssprachlich formuliert. Weil er sich der Unübersichtlichkeit seiner Vorlesungen wohl bewusst war, fügte er noch einen Text hinzu, den er mit „Gedankengang der Vorlesungen“ überschrieb. In dieser Zusammenfassung sagt er im Grunde mehr oder weniger das Gleiche wie in den Vorlesungen, nur dass er hier erheblich pointierter formuliert und auch den einen oder anderen Gedanken in neue, einfachere Worte fasst. „Nicht ganz ausgearbeitet, aber doch lesenswert“, war Husserls eigenes Fazit über diese Texte.
Interpretationsansätze
- Husserl wollte mit seinen philosophischen Werken den zu seiner Zeit mächtigen Psychologismus und Subjektivismus zurückdrängen. Der Psychologismus reduziert Logik und Erkenntnistheorie auf die Gesetze der Psychologie. Subjektphilosophie stellt das denkende und wahrnehmende Subjekt in den Mittelpunkt, nicht aber das objektive Sein.
- Husserl will mit seiner Phänomenologie eine neue Leitwissenschaft begründen. Daher ist es konsequent, dass er sich gegen die Naturwissenschaften wendet und auch einer naturwissenschaftlich orientierten Philosophie den Rücken kehrt. Im Kern versucht er eine neue Erkenntnistheorie zu geben.
- Den Naturwissenschaften wird vorgeworfen, von unerlaubten Vorbedingungen auszugehen. Sie seien gewissermaßen von der Transzendenz „verschmutzt“, also von Einflüssen, die von der wissenschaftlichen Methode selbst gar nicht erfasst werden könnten. Husserls Phänomenologie will alle Transzendenz abstreifen und damit zu den Sachen selbst gelangen.
- Husserl will dies mit der Methode der phänomenologischen Reduktion bewerkstelligen. Wie beim Häuten einer Zwiebel, werden die äußeren Schichten, z. B. Subjektbeziehungen, Traditionen oder wissenschaftliche Erkenntnisse, von einem Gegenstand abgeschält, bis dessen wahres Wesen sozusagen nackt vor dem Betrachter liegt.
- Kritiker der Phänomenologie wie z. B. Karl Popper bestreiten, dass die von Husserl angestrebte Seinsbetrachtung überhaupt möglich ist. Reine Betrachtungen könne es nicht geben, weil sie immer mit Intentionen und Theorien durchsetzt seien, die das Ergebnis verfälschten – auch wenn die Phänomenologie behauptet, all das außen vor zu lassen.
- Heute wird die Phänomenologie von manchen als gescheitertes Projekt betrachtet, indem ihr die Erkenntnisse der Psychologie, Biologie und Hirnforschung entgegengehalten werden. Es ist aber wohl davon auszugehen, dass die Naturwissenschaftsgläubigkeit unserer Zeit auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist und irgendwann wieder eine Gegenbewegung auf den Plan rufen wird.
Historischer Hintergrund
Materialismus vs. Idealismus
Eines der großen Probleme der Philosophie ist seit jeher die Opposition von Geist und Materie. Bereits der französische Philosoph René Descartes postulierte im 17. Jahrhundert einen Dualismus von Geist und Körper. Die auf ihn folgenden Materialisten lehnten diese Unterscheidung ab. Einer der radikalsten Vertreter dieser Philosophie war Julien Offray de La Mettrie. Er behauptete, der Mensch sei nichts weiter als eine Maschine, die zwar hochkomplex, aber eben doch nur den Gesetzen der Mechanik folgend aufgebaut sei. Andere Materialisten verschmolzen in ihrer Lehre Geist und Materie dergestalt, dass schließlich nur die Materie übrig blieb, die allerdings auch die Fähigkeit des Empfindens und Denkens haben sollte.
In Deutschland wurde die andere Seite des kartesianischen Dualismus stärker betont: Den deutschen Idealisten zufolge herrscht der Geist über den Körper. Darauf gab es im 19. Jahrhundert eine Gegenbewegung, die aufgrund der raschen wissenschaftlichen Fortschritte in der Chemie und der Evolutionsbiologie vorpreschte, um dem Materialismus das Wort zu reden. Die mechanischen Materialisten, die von ihren Gegnern als „Vulgärmaterialisten“ bezeichnet wurden, behaupteten, dass die Bewegungen des Geistes und all die Dinge, die von der damals neuen Psychologie erforscht wurden, lediglich körperliche Funktionen seien. Von Carl Vogt, einem der einflussreichsten Vertreter dieser Lehre, stammt die Aussage, dass das Psychische eine Art Körpersekret wie die Galle oder der Urin sei. Husserl wiederum lehnte diese Theorie als Augenwischerei ab. Mit seiner Phänomenologie richtete er sich gegen den erkenntnistheoretisch naiven und unkritischen Umgang mit der Psychologie und der Naturwissenschaft.
Entstehung
Die Idee der Phänomenologie steht am Anfang der phänomenologischen Theorie Husserls. Zwar hatte er mit seinen 1901 veröffentlichten Logischen Untersuchungen schon Aufsehen erregt, doch kam es ihm vor, als hätte er noch nicht einmal die wichtigsten Grundlagen seiner Philosophie gelegt. Die Nachricht, dass die Universität Göttingen ihn entgegen dem Vorschlag des Unterrichtsministeriums nicht zum Ordinarius für Philosophie machen wollte, versetzte ihm einen zusätzlichen Tiefschlag. In seinen Notizbüchern findet sich der Eintrag: „Ohne in allgemeinen Zügen mir über Sinn, Wesen, Methode, Hauptgesichtspunkte einer Kritik der Vernunft ins Klare zu kommen, ohne einen allgemeinen Entwurf für sie ausgedacht, entworfen, festgestellt und begründet zu haben, kann ich wahr und wahrhaftig nicht leben.“
Die fünf Vorlesungen hielt Husserl zu Beginn des Sommersemesters 1907 an der Universität Göttingen. Sie waren als Einleitung für die Hauptvorlesung Hauptstücke aus der Phänomenologie und Kritik der Vernunft gedacht. Erst 1947 wurden die Vorlesungen auf Anregung des Direktors des Husserl-Archivs unter dem Titel Die Idee der Phänomenologie veröffentlicht.
Wirkungsgeschichte
Die direkte Wirkung der fünf Vorlesungen lässt sich heute nur schwer ermitteln. Husserls Schüler an der Universität waren offensichtlich nicht sonderlich erbaut von den neuen Gedanken, die ihr Professor in die Philosophie einführte. Husserl selbst konstatierte Anfang März 1908 in seinen Aufzeichnungen: „Das war ein neuer Anfang, leider von meinen Schülern nicht so verstanden und aufgenommen, wie ich es erhofft. Die Schwierigkeiten waren auch allzu groß und konnten im ersten Anhieb nicht überwunden werden.“ Für Husserls weiteres Werk und die Phänomenologie überhaupt waren die Vorlesungen hingegen sehr wichtig, schließlich entwickelte er in ihnen das Konzept der phänomenologischen Reduktion. In weiteren Vorlesungen bis 1915 kam er immer wieder auf diese Grundlagen zurück. 1913 begründete Husserl das Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung – das passende Medium für die inzwischen zahlreichen deutschen Phänomenologen. Zu ihnen gehörten u. a. Martin Heidegger und Max Scheler. Auch in Frankreich fanden sich Anhänger der Phänomenologie, z. B. Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty und Paul Ricœur.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gründeten in die USA emigrierte Husserl-Schüler die Zeitschrift Philosophy and Phenomenological Research. Husserls Lehre beeinflusste u. a. die amerikanischen Philosophen Aron Gurwitsch und Alfred Schütz. Letzterer verquickte die Phänomenologie Husserls und das Werk Max Webers zu einer phänomenologischen Soziologie. Nach dem Krieg erlebte die Phänomenologie auch in Deutschland eine Wiedergeburt. 1969 wurde in München die Deutsche Gesellschaft für phänomenologische Forschung gegründet, die seitdem dazu beiträgt, Husserls Philosophie fortzuführen und zu erweitern.
Über den Autor
Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, wird am 8. April 1859 in Proßnitz (Mähren, heute Tschechische Republik) in eine jüdische Familie geboren. Er studiert in Leipzig, Berlin und Wien Astronomie, Mathematik, Physik und Philosophie. 1886 geht Husserl nach Halle, wo er an der Universität als Privatdozent lehrt und mit der Arbeit Über den Begriff der Zahl (1887) habilitiert. Kurz vor der Hochzeit mit seiner Verlobten Malvine Steinschneider lässt er sich evangelisch taufen. 1891 erscheint die Philosophie der Arithmetik, in der er die Gültigkeit mathematischer Wahrheiten unabhängig von der menschlichen Erkenntnis behauptet. Zehn Jahre später revidiert er seine Meinung in seinem ersten Hauptwerk, den Logischen Untersuchungen (1901). Das Buch bringt ihm den Ruf an die Universität Göttingen ein, wo er ab 1901 als außerordentlicher und ab 1906 als ordentlicher Professor lehrt. Dort entsteht Husserls eigene phänomenologische Schule, die zahlreiche Studenten anzieht. In seinem einflussreichsten Werk, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), formuliert er die Aufgabe der Phänomenologie, die Sachen so zu beschreiben, wie sie sich dem menschlichen Geist darstellten – unabhängig davon, ob die Sachen selbst überhaupt existierten. „Zu den Sachen selbst“ ist ein berühmt gewordener Ausspruch Husserls. Seine Ideen fallen auf fruchtbaren Boden, sodass er 1916 einen Ruf an die Universität von Freiburg erhält. Seine erste Assistentin ist Edith Stein, ihr Nachfolger Martin Heidegger, der seine eigenen Forschungen auf Husserls Erkenntnissen aufbauen wird. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird Husserl zunächst beurlaubt. 1936 entzieht man ihm die Lehrerlaubnis und vertreibt ihn aus seinem Haus. Ein Angebot der University of Southern California lehnt er ab. Edmund Husserl stirbt am 27. April 1938 in Freiburg.
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