Alfred Andersch
Die Kirschen der Freiheit
Ein Bericht
Diogenes Verlag, 2006
Was ist drin?
Anderschs Bericht über seine Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg sorgte bei der Veröffentlichung für ein Erdbeben im deutschen Feuilleton.
- Essay
- Moderne
Worum es geht
Die Fahnenflucht als Akt der Freiheit
Anderschs autobiografisch gefärbter Bericht beginnt mit der Schilderung einer Kindheit in kleinbürgerlichen Verhältnissen und endet mit einer Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg. Dazwischen durchläuft der junge Andersch verschiedene Entwicklungsstadien politischer Reife: Als Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands wird er verhaftet und nach Dachau deportiert. Nach der Freilassung und einer zweiten Verhaftung wendet er sich traumatisiert von der Politik ab und begibt sich in die so genannte innere Immigration. 1940 wird er zum Militär eingezogen, und vier Jahre später beschließt er zu desertieren – das zentrale Ereignis, auf das die Handlung zustrebt. Das Thema der individuellen Freiheit wird im Buch in vielerlei Zusammenhängen erörtert und findet in den Gedanken über die Fahnenflucht seinen Höhepunkt. Laut Andersch ist es nur wenigen Menschen vergönnt, den Augenblick der Freiheit zu spüren und entsprechend zu handeln. Er selbst sah sich in dieser glücklichen Lage, als er beschloss, seine Schwadron zu verlassen. Seine Rechtfertigung und seine Selbststilisierung als ausgewähltes Subjekt wollten allerdings so manchem Literaturkritiker und Leser – wie sehr saure Kirschen – nicht recht schmecken. Dennoch: ein wichtiges Buch über die Freiheit des Einzelnen auch in diktatorischen Verhältnissen.
Take-aways
- Die Kirschen der Freiheit ist Anderschs persönliches Bekenntnis zur Fahnenflucht und ein Plädoyer gegen den bedingungslosen Gehorsam.
- Andersch schrieb das Buch vor dem Hintergrund der Wiederbewaffnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg.
- Als aufmüpfiger und wissbegieriger Junge wächst der Ich-Erzähler in Münchens kleingeistiger Atmosphäre der 1920er Jahre auf.
- Sein Vater ist mit verletztem Ehrgefühl aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, versagt als Ernährer der Familie und stirbt an den Folgen einer Kriegsverletzung.
- Für den Sohn bedeutet der Eintritt in den Kommunistischen Jugendverband den Abschied vom kleinbürgerlichen Milieu und die Verheißung von Abenteuern.
- 1933 wird er verhaftet und für kurze Zeit nach Dachau geschickt. Doch erst die spätere Androhung einer zweiten Haftstrafe wird zum traumatischen Schock.
- Mit dem Rückfall ins Kleinbürgertum und dem Rückzug von allem Politischen beginnt für ihn eine Phase der totalen Introversion.
- 1940 wird er eingezogen und vier Jahre später an die Front nach Norditalien geschickt.
- Wiederholt denkt er über Fahnenflucht nach und hinterfragt Begriffe wie Kameradschaft und Eid.
- Am Ende setzt er sich von der Truppe ab und gerät in Kriegsgefangenschaft.
- Anderschs Erkenntnis: Erst die Freiheit macht den Menschen zum Menschen. Allerdings wird sie ihm möglicherweise nur für einen kurzen Augenblick gewährt.
- Mit seinem Bekenntnis zur Fahnenflucht griff Andersch ein politisch brisantes Thema auf, das bei Erscheinen des Buches eine enorme Sprengkraft entwickelte.
Zusammenfassung
Kindheit und Jugend in München
Der Erzähler wächst in einem bürgerlichen Milieu auf; nichts als charakterlose Häuserfassaden, tote Exerzierplätze und Kasernen aus Ziegelsteinen hat der Münchner Stadtteil Neuhausen zu bieten. Als fünfjähriger Junge erlebt er einmal, wie Revolutionäre der Münchner Räterepublik durch die Leonrodstraße zu ihrer Hinrichtung geführt werden. Sie falten die Hände kraftlos am Hinterkopf zusammen. Die Männer, die auf sie schießen sollen, haben die Gewehre im Anschlag. Der Vater zieht den Jungen vom Fenster weg. Erst rund zehn Jahre später, etwa um 1928, wird er verstehen, was damals vor sich ging. Da überlegt er aber nicht etwa, wie sich einer fühlt, der erschossen wird, sondern wie einer denkt, der einen anderen tötet, allein aus dem Gefühl heraus, im Recht zu sein. Der Erzähler kann sich nicht in die Psyche dieser Mörder hineinversetzen.
Das Sterben des Vaters
Der Vater ist national gesinnt, er hat im Ersten Weltkrieg gedient, aus dem er mit Auszeichnungen und Verwundungen heimgekehrt ist. Sein Heldentum wurde ihm jedoch nicht von allen gedankt: Revolutionäre rissen ihm bei seiner Ankunft im Münchner Hauptbahnhof die Achselklappen herunter und zerrten damit seine Soldatenehre in den Schmutz. Fortan widmete er sich in diversen Verbänden einem kleinbürgerlichen Nationalismus.
„Wenn man zu denen gehört, die den Hartmannsweilerkopf im Sturm genommen haben, wird man wohl unfähig zu begreifen, dass die geschichtlichen Entscheidungen nicht dort fallen, wo man durch ein Scherenfernrohr die feindlichen Stellen ausspäht. Immer wieder ging er fort, um geschlagen zurückzukehren.“ (über den Vater, S. 13)
Als sein Bein aufgrund eines Granatsplitters, eines Relikts aus dem Krieg, zu eitern anfängt, beginnt das langsame Sterben des Vaters, das der Erzähler von seinem 14. bis zum 16. Lebensjahr miterlebt. Die Zehen des rechten Fußes werden zuerst schwarz, dann muss das Bein amputiert werden, und mit Krücken klappernd und nationalistische Parolen deklamierend zieht der Vater durch die Wohnung. Die Familie verarmt zusehends, Lebensmittel muss sie anschreiben lassen, die Freunde ziehen sich zurück. Eines Tages erkennt der Sohn den Vater in seiner ganzen Einsamkeit: geschlagen, vom Tod gezeichnet, leer und traurig. Er sieht die Ohnmacht eines Mannes, der sich einer politischen Sache verschrieben hat und nun daran zugrunde geht.
Im Kommunistischen Jugendverband
Das Gymnasium verlässt der Ich-Erzähler frühzeitig, denn er ist ein Lernverweigerer, ihm geht es nur ums Erleben und Begreifen. Gesellschaftlichen Konventionen steht er ablehnend gegenüber: Die Konfirmation beispielsweise ist für ihn eine peinliche Angelegenheit; seiner inneren Teilnahmslosigkeit setzt er die Maske des Hohns auf, womit er sich gegen die Sentimentalität richtet, die aus der Gemeinde herüberschwappt.
„Und wir, auf Odyssee durch das Jahrhundert, umtönt von den Klängen der das Herz zerfleischenden Ideologien. Erzverrat: sich losbinden lassen.“ (S. 18)
Ein halbes Jahr nach dem Tod des Vaters tritt er in den Kommunistischen Jugendverband ein, denn der Kommunismus verheißt ihm wilde Abenteuer und Revolution. Inzwischen arbeitet er als Lehrling in einem Verlag und kauft in der damals einzigen kommunistischen Buchhandlung in München die einschlägigen Werke auf Raten. Im Alter von 18 Jahren ist er bereits Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbands von Südbayern. Die Gedanken des Sozialismus beeindrucken den jungen Mann zutiefst. Er ist davon überzeugt, dass man den Menschen ändern und die Welt verbessern kann. Die Reden und Debatten werden in jener Zeit immer lebhafter und hitziger, doch das politische Umfeld verdüstert sich.
Die Machtergreifung
Im März 1933 wird das Münchner Gewerkschaftshaus von der SA (Sturmabteilung) besetzt. Während die Arbeiter und Gewerkschafter schweigend und untätig um das Haus herumstehen, ziehen ab und zu SA-Kolonnen vorüber. Auf einmal rutscht ein Motorradfahrer der SA mit seiner Maschine aus und fällt zu Boden. Ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt; stürzen sich die Gegner auf den Feind? Nein, nichts passiert, alle schweigen und gehen anschließend auseinander.
„Der Ausweg, den ich wählte, hieß Kunst.“ (S. 35)
Von nun an steht für den Erzähler fest, dass es keine Massen gibt, es sei denn, sie werden durch Zufall oder Zwang zusammengeführt. Jeder Mensch lebt isoliert und muss mit sich selbst und seinen Ängsten allein fertig werden. Dennoch gibt es durchaus einen Massenzwang. Das erfährt der Erzähler, als er selbst Hitler am 9. November in München zujubelt – um anschließend klar zu erkennen, dass er einer „Kanalratte“ zugejubelt hat.
Kein Widerstand
Am Abend des Reichstagsbrands müssen die Kommunisten mit einem Überfall rechnen. Der Feind marschiert, doch der kommunistische Verband in München hat sich in all den Jahren aufs Debattieren verlegt. Er besitzt keine Waffen – mit ihnen hätte er die Stadt in eine Hölle verwandeln können, denn die Masse der Arbeiter wäre ihm gefolgt, wenn er nur gehandelt hätte. Der Grund für diesen widerstandslosen Untergang liegt im Diktat der Partei, die die Willensfreiheit des Individuums ablehnt und ihm die Wahlfreiheit verweigert. Der Marxismus verkommt so zu einer Bewegung, die nie die Tat befürwortet, sondern sich ganz auf Bürokratie und Terrorismus konzentriert.
In Dachau
Am Morgen nach dem Reichstagsbrand erfolgt eine Hausdurchsuchung, doch die Polizei findet nichts, weil die Mutter die Mitgliederlisten des kommunistischen Verbands rasch in den Ofen gesteckt hat. Dennoch wird der Erzähler auf die Polizeiwache geführt und verflucht sich dafür, dass er nicht untergetaucht ist. Doch die Flucht ins Ausland ist den Jungen der Partei nie in den Sinn gekommen. Schließlich wird er für ein Vierteljahr im Konzentrationslager Dachau inhaftiert, viele seiner Genossen müssen dort allerdings zwölf Jahre absitzen. Die Mutter bekommt ihn mit den Papieren des Vaters frei.
„Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion.“ (S. 36)
Ein halbes Jahr später wird er abermals verhaftet, und wieder ist es die Mutter, die ihm das Leben rettet. Bei dieser zweiten Verhaftung allerdings ist der Glanz des Heroischen verflogen, der Erzähler hat nur noch Angst und ist zu jeder Aussage bereit. Nachdem er ein zweites Mal davonkommt, wird ihm mit einem Schlag bewusst, dass er seine Tätigkeit für die Kommunistische Partei aufgeben will.
Rückzug in die Kunst
Von nun an versucht er, die Politik zu verdrängen. Er unternimmt Touren ins Karwendelgebirge, und auf einmal kommen Gefühle, die von all den Debatten mit den jungen Arbeitern verdrängt worden sind, an die Oberfläche. Erste Schreibversuche – Gedichte in Anlehnung an Rilke – bestärken ihn in dieser Stimmung. Noch immer arbeitet er in einer Verlagsbuchhandlung, hasst allerdings den geregelten Alltag und sucht Zuflucht in der Kunst. Dass er sich damit auf unsicheren Boden begibt, ist ihm durchaus bewusst. In einem literarischen Salon führt ihn Dr. Herzfeld in die Kunst des Schreibens ein und fordert ihn auf, eigene Kunstmaßstäbe zu entwickeln.
Die Wissenschaft
Der Erzähler verlässt München und arbeitet in Hamburg in einer Fotopapierfabrik. Dort entwirft er Anzeigen und versucht sich an einer reduzierten Ästhetik, muss sich jedoch oft genug den Vorgaben der Direktoren beugen. Im Labor der Fabrik setzt er sich mit dem Wesen des wissenschaftlichen Arbeitens auseinander, das dazu auffordert, jedes erzielte Resultat immer wieder infrage zu stellen. Er findet Gefallen an der Wissenschaft, den Versuchsgläsern, den chemischen Substanzen, den Dunkelkammern und fachsimpelt gern mit dem technischen Direktor Albert über die Beschaffenheit der Materialien und ihre Fähigkeit, aufeinander einzuwirken. Doch Albert erleidet einen Herzschlag, nachdem ihm mitgeteilt wurde, dass er als Halbjude entlassen wird. Es ist das Jahr 1938.
Krieg
Etwa fünf Jahre später ist der Erzähler zum Militär eingezogen worden und befindet sich an der Front in Italien. Zuvor, im Herbst 1941, fuhr er mit einem Truppentransport durch Thüringen und verspürte erstmals den Wunsch, einfach irgendwo auszusteigen, als Unbekannter weiterzuleben und neu anzufangen. Damals war das kaum mehr als ein Gedanke, der ihm aber später in Dänemark wieder in den Sinn kam und sich nun in Italien verfestigt.
„Es klang romantisch, aber es war eine ganz klare und simple Sache. Musste weg.“ (S. 46)
Er erinnert sich an das Jahr 1940, als er mit einem Trupp Soldaten am Rhein auf den Abschuss der französischen Geschütze wartete und das Sirren der Granaten über den Köpfen vernahm. Damals hatte er keinen Mut, Freiheit war unter diesen Voraussetzungen nicht möglich, und an Fahnenflucht dachte er nicht einmal. Damals glaubte auch er noch an den deutschen Sieg.
„Sie hingen mir meterlang zum Hals heraus, die so genannten Kameraden. Sie kotzten mich regelrecht an. Das Schlimmste an ihnen war, dass sie immer da waren. Kameradschaft – das bedeutete, dass man niemals allein war.“ (S. 48)
Doch jetzt in Italien widert ihn alles nur noch an: die betrunkenen Unteroffiziere, aber auch die so genannten Kameraden. Die Truppe ist auf sich allein gestellt und muss ohne den Begleitschutz der deutschen Luftwaffe südlich von Rom an die Front. Die Kapitulation zeichnet sich bereits ab, die Kampflust der Kameraden erlahmt. Diese sind nun zumindest kein Argument gegen eine Desertion. Der Erzähler fühlt sich wie ein Anarchist inmitten von Leuten, die der Niederlage entgegengehen. Er dagegen will alles riskieren: Entweder er kommt durch, oder er vernichtet sich selbst.
Freiheit
Die Desertion ist ein Akt der Freiheit. Der Erzähler will nicht auf fremde Menschen schießen, die nicht seine Feinde sind. Und er möchte nicht inmitten eines Gefechts einen sinnlosen Tod sterben. Er ist sich durchaus bewusst, dass diese Fahnenflucht keineswegs ein heroischer Akt ist. Allein sein naiver Mut lässt ihn unbekümmert jeder Gefahr ins Auge blicken. Eines weiß er mit Sicherheit, nämlich dass er nicht an die aktive Front will; dagegen hat er eine instinktive Abneigung, die man auch Angst nennen könnte. Die absolute Freiheit ist eine Entscheidung zwischen Mut und Angst, und nur im Bruchteil einer Sekunde kann sich diese Freiheit verwirklichen. Frei ist man einzig in seltenen und kostbaren Augenblicken.
Der Eid
Doch warum bleiben die Menschen so oft bei der Herde, was hält sie vom Schritt in die Freiheit ab? Ist es der Herdeninstinkt oder gar der Eid, den sie geschworen haben? Kein einziger Soldat hat dem Erzähler gegenüber jemals seinen Eid erwähnt, den doch jeder geleistet hat. Zudem schafft es eine Kanalratte wie Hitler sicher nicht, jemanden wie den Erzähler mit einem Schwur an sich zu binden. Und darüber hinaus wurde der Eid unter Zwang geleistet und ist daher nichtig. Gegen Zwang und den befohlenen Eid ist die Desertion reine Selbstverteidigung.
Die Kirschen der Freiheit
Während sich die meisten Schwadronen zurückziehen, rückt der Trupp des Erzählers weiter nach Süden vor, an die Front – so lautet der Befehl der Generäle. Bei der Fahrt über hartes Geröll verliert der Fahrradreifen des Erzählers Luft – das ist seine Chance. Nachdem er sich erfolgreich von seiner Truppe abgesetzt hat, sucht er Unterschlupf in einer Strohhütte. Am nächsten Morgen trifft er auf einen jungen italienischen Bauern und lässt sich die Gegend erklären. Ihm schenkt er sein Fahrrad. Als er Panzer hört, wirft er sein Gewehr, seinen Helm und die Patronentaschen ins hohe Getreide. Er durchquert das Feld und macht jenseits des Tals Halt, unter einem Baum, der reife Kirschen trägt. Vom Panzergedröhn lässt sich der Erzähler nicht abhalten, sondern ergötzt sich an den Kirschen, die er Deserteurs-Kirschen nennt, Kirschen der Freiheit.
Das Schicksal der Masse
Schließlich wird er von den Alliierten gefangen genommen und verschmilzt ein paar Tage später erneut mit einer Menschenmasse, dieses Mal als Teil eines Gefangenentransports. Er wird zu einem Friedhof gefahren, bekommt Werkzeug in die Hand gedrückt und muss Gräber ausheben. Die Klumpen, zu denen die Leichname inmitten des Artilleriefeuers und in der Hitze geworden sind, müssen die Gefangenen in Säcke stopfen und anschließend in die Gräber werfen. Das ist das Schicksal, das der Krieg für die Massen bestimmt hat.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Kirschen der Freiheit ist eine Mischung aus autobiografischer Erzählung und Essay. Es ist eine Streitschrift für die Freiheit und für das Recht auf Fahnenflucht, durchsetzt mit logischen Schlussfolgerungen, die in häufig überspitzt formulierte Aussagen münden. Auch politische Ausführungen zu wichtigen zeitgenössischen Themen werden essayistisch eingestreut. Der Leser wird durch eine oftmals direkte Ansprache in die Ausführungen einbezogen. Dann wieder überraschen ihn unvollständige Sätze, und die Auslassung des Personalpronomens „ich“ führt dazu, dass der Text wie flüchtig hingeworfen wirkt. Gleichzeitig erzielt der Autor durch dieses Stilmittel ein höheres Tempo. Er erzählt nicht linear, sondern springt von realistischen Schilderungen vergangener Ereignisse über politisch-philosophische Reflexion bis hin zur Abrechnung mit politischem Gedankengut. Beim rückblickenden Erzählen reflektiert der Autor nüchtern das Erlebte. Siegfried Lenz sprach von der „klirrenden Kälte“ der philosophischen Ausführungen Anderschs, lobte aber die Poesie der Landschaftsbeschreibungen, die offenbar der langjährigen Auseinandersetzung mit Rilkes Lyrik geschuldet sind.
Interpretationsansätze
- Andersch betont im Text die Legitimität der Fahnenflucht. Die Desertion erscheint als Akt der Selbstverteidigung des freien Individuums gegen den Zwang einer Diktatur. Fahnenflucht ist folglich nicht einfach nur ein Davonlaufen aus Angst, sondern zeugt vom Mut, sich selbst zu finden und sich aus unerträglichen Lebenssituationen und Irrtümern zu befreien. Dafür bedarf es eines gewissen Widerstandsgeistes gegen gesellschaftliche Normen und Konventionen.
- Konnte man während des Dritten Reichs unpolitisch sein und sich ganz in sich selbst zurückziehen? Andersch beschreibt diesen Prozess der inneren Emigration detailliert und zeigt, wie und warum ein Einzelner in einer Diktatur, die Terror und Propaganda geschickt zu handhaben weiß und mit humanistischen Argumenten nicht bekämpft werden kann, jeglichen Widerstand aufgibt.
- Der Autor versucht im Text, das Phänomen der Masse und des Herdeninstinkts zu beleuchten. Vor allem Jugendliche erscheinen als anfällig für verheißungsvolle Ideologien, die bedingungslosen Gehorsam fordern, egal ob nationalistische oder kommunistische. In diesem Zusammenhang steht auch die Entzauberung des Mythos der Kameradschaft: Andersch hat kein Problem damit, die Kameraden zu verlassen, denn sie bilden eine Masse, zu der er nur gezwungenermaßen gehört.
- Wie man zum Nationalsozialisten werden konnte, zeigt das Beispiel des Vaters: Dem über den verlorenen Ersten Weltkrieg und die mangelnde Ehrerbietung Enttäuschten machte der Nationalsozialismus Hoffnung auf ein nationales Wiedererstarken und die Wiederherstellung des Ehrgefühls.
- Andersch setzt sich mit der Freiheit des Menschen auseinander. Durch die bewusst gewählte egozentrische Perspektive wird die rücksichtslose Offenheit und Selbstkritik des Autors ermöglicht.
Historischer Hintergrund
Die Remilitarisierung Deutschlands
Nach dem Zweiten Weltkrieg, bereits Ende der 40er Jahre, zeichnete sich eine Verhärtung zwischen den USA und der UdSSR ab, weshalb in beiden Teilen Deutschlands die Wiederbewaffnung diskutiert wurde. Als dann 1950 der Krieg zwischen Nordkorea (mit Unterstützung der UdSSR) und Südkorea (mit den USA auf seiner Seite) entbrannte, war die von der CDU-Regierung unter Konrad Adenauer betriebene Wiederbewaffnung der BRD bald beschlossene Sache und wurde als bundesdeutscher Beitrag zur Verteidigung des Westens gerechtfertigt.
Parallel dazu traten Konservative und Reaktionäre in Deutschland einen Siegeszug durch Politik und Gesellschaft an. Die Stalin-Note von 1952, die Friedensverhandlungen und ein wiedervereintes Deutschland vorschlug, wurde von den Westmächten nicht ernsthaft diskutiert, sondern als bloßes Störmanöver angesehen und abgelehnt. Mit der Remilitarisierung ging in Deutschland die Rehabilitierung der Wehrmachtgeneräle einher. Der Buchmarkt wurde zu Beginn der 50er Jahre von kriegsverherrlichender Memoirenliteratur geradezu überschwemmt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema des deutschen Militärs während des Zweiten Weltkriegs lag demnach regelrecht in der Luft.
Entstehung
In diese Zeit der Remilitarisierung platzte Alfred Anderschs Streitschrift über die Fahnenflucht. Während der Eiserne Vorhang heruntergelassen und eine neue Landesverteidigung diskutiert wurde, entschied sich der Autor, in Die Kirschen der Freiheit eindeutig gegen die Aufrüstungspolitik und für die Desertion bzw. die Gehorsamsverweigerung Stellung zu beziehen. In der Auseinandersetzung mit den Erinnerungen amerikanischer Generäle zog Andersch Schlüsse, was in Deutschland hätte geschehen müssen, um einen totalen Krieg zu vermeiden. Nur durch die Verweigerung des Gehorsams wäre seiner Meinung nach ein anderer Ausgang möglich gewesen, und damit war der Grundgedanke zu Die Kirschen der Freiheit gefunden.
Da es sich um einen autobiografischen Text handelt, liegen ihm Fakten zugrunde, auf die man auch in anderen Dokumenten von Alfred Andersch stößt. In Briefen an seine Mutter stellt Andersch seine Kameraden recht negativ dar: Die Truppe sei ein gemischter Haufen, es gebe keine Kameradschaft und viele Drückeberger. Eine erste literarische Bearbeitung der eigenen Fahnenflucht in Norditalien legte Andersch schon mit der Erzählung Flucht in Etrurien vor, die 1950 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt wurde, aber nur wenig Beachtung fand. Das Motiv der Flucht wurde fortan ein zentrales Thema in Anderschs literarischen Texten, etwa auch in dem Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957).
Wirkungsgeschichte
Die Fahnenflucht und vor allem ihre moralische Legitimierung war 1952, im Erscheinungsjahr des Buches, ein heikles Thema, daher entbrannte auch gleich nach der Veröffentlichung eine heftige Diskussion weit über literarische Kreise hinaus. Die Mehrzahl der Rezensionen war durchaus positiv, binnen kürzester Zeit war Alfred Anderschs Name in aller Munde. Er hatte mit seinem Buch den Nerv der Zeit getroffen, was auch die moralische Entrüstung bewies, die in den ablehnenden Rezensionen dominierte. In der reaktionären Presse sprach man gar von „Verrat“. In der Deutschen Soldatenzeitung erschien ein anonymer Artikel, der mit seiner Verachtung für jemanden, der andere im Stich lässt und dies auch noch freimütig bekennt, nicht hinterm Berg hielt. Für Andersch waren solche Reaktionen ein Beweis dafür, dass es schon „sehr schlimm“ um das Land stand.
Schriftstellerkollege Siegfried Lenz lobte dieses „hochmütige Buch“ als Kunstwerk, empfand es aber zugleich als Affront, dass Andersch seine kleine private Revolte gar mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 verglich. Karl Krolow attestierte dem Autor literarische Kühnheit in Stil und Formulierung. Darüber hinaus sei das Buch ein publizistisches Ereignis, das alle aufmerksamen Deutschen lesen sollten. Und Heinrich Böll stellte sich vor seinen Autorkollegen mit den Worten: „Ein Trompetenstoß, der in die schwüle Stille fährt und die Gewitter zur Entladung bringt. (...) Anderschs Buch ist eine Wohltat für jeden, der nach 1933 nicht das Denken aufgab.“
Aufgrund der z. T. extrem negativen Kritik aus rechten Kreisen wurde Andersch später von deutschen Verlagen gemieden. Er zog in die Schweiz, und sein Werk wurde fortan im Diogenes Verlag veröffentlicht.
Über den Autor
Alfred Andersch wird am 4. Februar 1914 in ein rechtskonservatives, kleinbürgerliches Elternhaus in München hineingeboren. 1928 verlässt er das Gymnasium, macht eine Buchhändlerlehre und tritt 1930 in den Kommunistischen Jugendverband ein. 1933 sitzt er dafür ein paar Monate im Konzentrationslager Dachau ein. Als er ein zweites Mal verhaftet wird, wendet er sich von der Politik ab. 1935 heiratet er die Halbjüdin Angelika Albert. 1938 zieht die Familie nach Hamburg, wo Andersch als Werbeleiter in einer Fotopapierfabrik arbeitet, zusammen mit seinem Schwager, der 1938 auf Druck von Göring entlassen wird und daraufhin einen Herzinfarkt erleidet. In dieser Phase der „totalen Introversion“ verfasst Andersch erste literarische Skizzen. 1940 wird er zum Militär einberufen. Andersch drängt seine Frau zur Scheidung, da die Ehe seit einiger Zeit zerrüttet ist und er sich dadurch erhofft, endlich als Schriftsteller etwas veröffentlichen zu können. Damit überlässt er seine Frau und die gemeinsame Tochter ihrem Schicksal, der Deportation. Im Mai 1944 wird Andersch nach Italien an die Front geschickt, am 6. Juni 1944 desertiert er. Auf diesen Erlebnissen basiert die Erzählung Die Kirschen der Freiheit, die 1952 ein gewaltiges Erdbeben im deutschen Nachkriegsfeuilleton verursacht. Während der Kriegsgefangenschaft in den USA arbeitet er an der Lagerzeitung Der Ruf mit, die er später zusammen mit Hans Werner Richter wieder neu gründet. Mit ihm ruft er 1947 auch die Schriftstellervereinigung Gruppe 47 ins Leben. Andersch ist jahrelang Leiter des Abendstudios Frankfurt und setzt sich in seinen Radioessays für junge unbekannte Autoren ein, darunter Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Arno Schmidt. 1957 erscheint der Roman Sansibar oder der letzte Grund. Desillusioniert durch die westdeutsche Nachkriegspolitik unter Konrad Adenauer siedelt Andersch 1958 in die Schweiz über. 1960 erscheint der Roman Die Rote. Am 21. Februar 1980 stirbt Alfred Andersch im schweizerischen Berzona.
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