Jean Baudrillard
Die Konsumgesellschaft
Ihre Mythen, ihre Strukturen
Springer, 2015
Was ist drin?
Eine hellsichtige Analyse der modernen Konsumwelt.
- Soziologie
- Moderne
Worum es geht
Der Konsum als Zeichensystem
In seinem zweiten Buch, erschienen 1970, richtet Jean Baudrillard, damals noch überzeugter Marxist, den Blick auf die moderne Konsumgesellschaft. Als erster Soziologe sah er im Konsum nicht ein Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen. Vielmehr erkannte er darin ein in sich geschlossenes Zeichensystem, eine Art Sprache, mit der Menschen Aussagen über ihre jeweilige Position in der gesellschaftlichen Hierarchie treffen. Ob wir wertvolle Bücher sammeln, Plastikzwerge im Garten aufstellen oder im Bioladen einkaufen – stets teilen wir damit anderen etwas über unseren eigenen sozialen Standort mit. Von klein auf werden wir auf diese symbolische Ordnung konditioniert, wir übernehmen sie und richten uns unbewusst nach ihr aus. Es gibt kein Entkommen aus diesem System, so Baudrillards These: Auch Konsumabstinenz ist nur eine besondere Form von Konsum. Mit bissigem Witz und geradezu prophetischem Gespür beschreibt Baudrillard unsere Welt der Waren und Werbespots, der Shoppingmalls und Fitnesscenter, der Medien- und Freizeitindustrie, die damals ja erst in den Kinderschuhen steckte.
Take-aways
- Jean Baudrillards Die Konsumgesellschaft ist ein Klassiker der Konsumsoziologie.
- Inhalt: In der heutigen Gesellschaft dient Konsum längst nicht mehr der Befriedigung von Bedürfnissen. Vielmehr stellt er ein Zeichensystem dar, mithilfe dessen wir unseren sozialen Standort kommunizieren. Niemand kann sich dem entziehen: Auch Konsumverweigerung ist eine Form von Konsum.
- Als erster Soziologe analysierte Baudrillard Konsum als eigenständiges Zeichen- und Bedeutungssystem.
- In der Nachfolge strukturalistischer Ethnologen erklärt er Konsum als konstruierten Mythos.
- Baudrillard veranschaulicht seine Theorie anhand vieler Beispiele aus dem Alltag, der Werbung und den Massenmedien.
- Die Konsumgesellschaft ist zugleich wissenschaftliche Studie und bissige Polemik.
- Baudrillards Blick auf die Gesellschaft seiner Zeit ist zutiefst pessimistisch.
- Baudrillard war zunächst überzeugter Marxist, distanzierte sich später aber vom Marxismus. Diese Abkehr deutete sich in Die Konsumgesellschaft bereits an.
- Anders als Baudrillards spätere, medientheoretische Arbeiten erhielt Die Konsumgesellschaft außerhalb Frankreichs relativ wenig Beachtung.
- Zitat: „Der Konsument erlebt sein Distinktionsverhalten als Freiheit, als Wunsch und als Wahl, nicht als Zwang, sich zu unterscheiden und einem Code zu gehorchen.“
Zusammenfassung
Shoppingmalls, Massenmedien und moderne Helden
Konsum, der durch die immer größere Verfügbarkeit materieller Güter und Dienstleistungen hervorgerufen wird, ist heute selbstverständlich. Wir sind weniger von anderen Menschen umgeben als von handelbaren Objekten. Am deutlichsten wird diese Lebensweise am Beispiel der Shoppingmalls sichtbar, in denen Nützlichkeit und Warencharakter der Objekte vertuscht werden. In diesen voll klimatisierten und homogenisierten Konsumstätten bekommt man alles – Kleidung und Kosmetik, Feinkost und Luxusartikel, Schnürsenkel und Flugtickets. Es gibt Cafés und Restaurants, Schundliteratur und anspruchsvolle Bücher, Kinos und Kunstausstellungen: Das gesamte Alltagsleben ist hier im Zeichen des Konsums organisiert. Und nicht nur die Jahreszeiten, auch Arbeit und Geld sind aus diesen künstlichen Welten verschwunden. Waren, die in ihrem Überfluss Glückseligkeit verheißen, erscheinen nicht mehr als Produkt menschlicher Arbeit, sondern – ähnlich wie im magischen Denken primitiver Völker – als Wunder oder Wohltat des Himmels. Und gezahlt wird mit Kreditkarte.
„Um uns herum herrscht heute eine gleichsam fantastische Selbstverständlichkeit des Konsums und des Überflusses; sie wird durch die Vervielfältigung der Dinge, Dienstleistungen und materiellen Güter hervorgerufen, und sie bewirkt eine fundamentale Mutation in der Umwelt der menschlichen Gattung.“ (S. 39)
Auf dieselbe wundersame Weise wie Waren werden heute auch politische, historische und kulturelle Informationen konsumiert. Via Fernsehen erleben wir den Einbruch einer harten, gewalttätigen Außenwelt, einen kurzen Rausch der Realität in unserem banalen Alltag, ohne dass wir vor Ort sein müssen. Die Bilder in den Massenmedien simulieren Teilhabe an der Realität und halten diese zugleich auf Distanz. Es ist geradezu obszön: Kriege, Katastrophen, Unfälle werden uns in Raumtemperatur serviert, wodurch wir unsere eigene Seelenruhe und Sicherheit noch intensiver erfahren und genießen können. Medial aufbereitete, zwischen Werbeblöcken in homöopathischer Dosis konsumierte Gewalt hilft uns, die Angst vor der Zerbrechlichkeit unseres befriedeten Alltagslebens zu bannen.
„Die Opulenz, der ‚Überfluss‘ ist in der Tat nur eine Akkumulation der Zeichen des Glücks.“ (S. 48)
Verschwendung, nicht Nützlichkeit ist das Leitmotiv unserer Wachstumsgesellschaft. Die Hinfälligkeit der Konsumobjekte ist einkalkuliert, ob nun durch technologische „Sabotage“ oder durch die Diktatur der Mode, die, was gestern noch neu war, heute schon als veraltet erscheinen lässt. Die Konsumgesellschaft ist auf Zerstörung angewiesen, nur durch die Produktion von immer Neuem kann sie sich erhalten. Dementsprechend zeichnen sich die Helden der Konsumgesellschaft, wie sie im Fernsehen und in Magazinen gefeiert werden, durch einen exzessiven Lebenswandel und einen ebenso maß- wie nutzlosen Luxus aus.
Die soziale Logik des Konsums
Die zunehmende Nivellierung der Einkommens- und Konsumniveaus in unserer Gesellschaft verschleiert die fortbestehende politische und soziale Ungleichheit. Die verbreitete Ansicht, Wachstum und Wohlstand für alle beförderten die Demokratie, ist falsch. Überfluss ist nur ein Alibi, um das Überleben von Klassenprivilegien und -herrschaft zu sichern. Soziales Ansehen, Wissen und Macht sind nach wie vor wesentlich, nur dass sie sich nicht mehr schlicht in Reichtum, sondern auf subtilere Weise ausdrücken – etwa durch Zugang zu sauberer Luft und Natur, Ruhe und Erholung, also zu Ressourcen, die in unserer Gesellschaft zur Mangelware geworden sind.
„Der Konsument erlebt sein Distinktionsverhalten als Freiheit, als Wunsch und als Wahl, nicht als Zwang, sich zu unterscheiden und einem Code zu gehorchen.“ (S. 90)
Konsum dient nicht dazu, Bedürfnisse zu befriedigen; vielmehr ist er ein Mittel, sich von anderen zu unterscheiden. Der Konsumierende zeigt seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder grenzt sich von einer anderen ab. Er denkt, er sei frei in seiner Wahl, aber er gehorcht einem aufgezwungenen Wertekodex. Die Zeichen, durch die sich die privilegierten von den mittleren und unteren Schichten abgrenzen, sind heute nicht mehr Autos oder Fernseher, sondern etwa Universitätsbildung und eine gehobene Wohnlage im Grünen. Distinktionszeichen verlieren an Wirksamkeit, sobald sie für immer breitere Schichten erreichbar werden. Die oberen Klassen sehen sich gezwungen, durch andere seltene Objekte erneut den sozialen Abstand zu markieren – was den Konsum trotz aller scheinbaren Bedürfnisbefriedigung stetig anheizt. Das System gibt zwar vor, für die Bedürfnisse der Menschen zu produzieren, tatsächlich aber produziert es für den eigenen Erhalt.
„Es ist also nicht richtig, dass die Bedürfnisse Ergebnis der Produktion sind, vielmehr ist DAS SYSTEM DER BEDÜRFNISSE DAS PRODUKT DES PRODUKTIONSSYSTEMS.“ (S. 109)
Der von manchen Wirtschaftstheoretikern verbreitete Gemeinplatz, das System schaffe mittels Werbung erst das Bedürfnis nach Produkten, die es produziert, führt in die Irre. Eine Waschmaschine dient durchaus als Gerät, doch zugleich als Symbol für Komfort und Prestige. Als solches ist sie durch alle möglichen anderen Objekte ersetzbar. Konsum beruht nicht auf dem Bedürfnis nach einem bestimmten Objekt, sondern auf dem Bedürfnis nach sozialer Unterscheidung, das niemals vollständig befriedigt werden kann. Mitten in der Überfülle erzeugt das System die Vorstellung von einer Knappheit immer neuer materieller und kultureller Distinktionsgüter und heizt so die permanente Jagd nach diesen an – mit gravierenden Folgen für die Umwelt.
Der Zwang zur Differenzierung
Beim Konsum geht es also gar nicht um den Genuss eines Produktes oder einer Dienstleistung. Konsum ist ein von der Realität unabhängiges System von Zeichen und Bedeutungen, ein in sich geschlossenes Kommunikationssystem, eine Art Sprache, die Auskunft über sozialen Status und Prestige gibt und an der sich jedermann unbewusst orientiert. So ist etwa der Schreibtisch des Firmenchefs antik und derjenige des leitenden Angestellten funktional. Dass der Konsum allein der Herstellung von Differenz dient, erklärt auch das verbreitete Phänomen des Tiefstapelns: Um sich gegen die arrivierte Mittelschicht abzugrenzen, pflegt die Oberschicht oft eine Art Unterkonsum. Doch diese bewusste Schlichtheit und Bescheidenheit ist nur ein zusätzlicher Luxus und fügt sich perfekt in die soziale Logik des Konsums ein. Selbst die Konsumverweigerung ist also bloß eine Form von Konsum.
„Der Konsum ist heutzutage erzwungen und institutionalisiert – nicht als Recht oder als Vergnügen, sondern als Bürgerpflicht (…)“ (S. 117)
Auch wenn es letztlich nicht darum geht, ein Objekt zu genießen, besteht für den Konsummenschen doch eine Pflicht zum Genuss und zum Glück – verstanden als Lösung von Spannungszuständen. Er verbringt immer weniger Zeit mit Arbeit und immer mehr Zeit mit der Erneuerung seiner Bedürfnisse und seines Wohlbefindens. Er hat kein Recht, nicht glücklich zu sein, und ist ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten des Konsums – nicht nur in der Welt käuflicher Objekte, sondern auch auf Gebieten wie Kochen, Kultur, Religion, Wissenschaft oder Sexualität. Es geht darum, die eigene „individuelle“ Persönlichkeit zu finden – ob nun durch eine bestimmte Automarke oder eine optimal zum eigenen Typ passenden Haarfarbe, die möglichst natürlich wirken soll. Es scheint absurd: Nachdem die Person mit ihren einzigartigen Merkmalen und Charaktereigenschaften in der Konsumgesellschaft ausgelöscht worden ist, gilt es nun, die individuelle Persönlichkeit durch Objekte, also durch abstrakte Zeichen, wiederherzustellen.
Die ideologische Funktion des Konsums
Individueller Konsum hat nicht nur eine wirtschaftliche, also produktionssteigernde, sondern auch eine politische und ideologische Funktion. Die bewussten Werte von Gleichheit und Demokratie sind zu schwach und widersprechen zu offensichtlich der Realität, als dass sie die Gesellschaft zusammenhalten könnten. Effektiver sind hier unbewusste Zeichencodes, die die Individuen in ein System von Differenzen einbinden. Die naturgegebenen individuellen Unterschiede werden ausgelöscht und durch künstliche, industriell produzierte Zeichen der Differenzierung ersetzt. Die Menschen sind unbewusst auf diesen Zeichencode abgerichtet, der ihren Ort in der Rangordnung signalisiert und – wie bei primitiven Völkern die hierarchischen und religiösen Rituale – die ganze Gesellschaft zusammenhält. Die Lösung aller gesellschaftlichen Widersprüche besteht heute nicht in der Egalisierung, sondern in der Differenzierung.
Recycling und Simulation
Die Konsumgesellschaft folgt dem Prinzip des Zyklus und des Recyclings – nicht nur in der Mode: So wie man als Bürger der Konsumgesellschaft regelmäßig seine Kleidung, seine Objekte und Autos recycelt, muss man auch im Beruf immer wieder sein Know-how updaten – wobei der Wissensfortschritt angezweifelt werden darf. Check-ups sorgen für medizinisches, Fitness, Diäten und Schönheitspflege für körperliches Recycling. Die Natur wird in Form innerstädtischer Grünflächen oder Naturschutzgebieten recycelt. Das heißt, durch ein Konzentrat von Natur wird die ursprüngliche, längst zerstörte Natur als Simulationsmodell wiederentdeckt. Ähnliches gilt für Kultur, die nicht mehr geschaffen wird, um zu überdauern, sondern wie die Rocklänge oder Fernsehsendungen wechselnden Moden und dem Zwang zur Aktualität unterworfen ist.
„Der moderne Mensch verbringt immer weniger Lebenszeit mit der Produktion im Rahmen seiner Arbeit, mehr und mehr ist er mit der Produktion und steten Innovation seiner eigenen Bedürfnisse und seines Wohlbefindens beschäftigt.“ (S. 117)
Zu den kulturellen Kategorien der Konsumgesellschaft zählt der Kitsch: ein Pseudoobjekt, eine Simulation, die wenig reale, dafür umso größere symbolische Bedeutung hat. Die Fülle von Kitschobjekten hängt eng mit der sozialen Mobilität in unserer Gesellschaft zusammen. Während die privilegierte Klasse zur sozialen Distinktion auf eine geringe Anzahl seltener Objekte (antike Bilder, Luxusausgaben von Büchern, limitierte Anfertigungen von Limousinen) zurückgreift, benötigen die aufsteigenden Klassen massenhaft industriell produzierten Nippes von niedrigem Wert, um ihren sozialen Standort zu markieren. Gegen die Ästhetik der Schönheit und Originalität entspringt eine Ästhetik der Simulation: Gips- oder Plastikkopien wertvoller Originale imitieren Moden und simulieren – ohne jeden realen Nutzen – eine Funktion. Ein anderes Wahrzeichen der Konsumgesellschaft ist das Gadget, der „Schnickschnack“. Diese Art von Pseudoobjekten, oftmals technische Geräte, definieren sich durch ihre Nutzlosigkeit und ihren rein spielerischen Wert.
Körper, Sexualität und Freizeit
Die Konsumgesellschaft ist in allen Bereichen von Zerstörung, Wiederherstellung und Simulation bestimmt. Eine Sache wird zunächst in ihrer Totalität zerstört, um dann in Form von Zeichen künstlich wiederhergestellt zu werden. So wurde der materielle Körper als Ort und Ziel sinnlichen Begehrens zunächst zerstört, um anschließend zum Objekt des Heils, zum narzisstisch besetzten Konsum- und Prestigeobjekt zu werden. Davon zeugt nicht nur die Allgegenwart des (meist weiblichen) Körpers in der Werbung, sondern auch der Jugend- und Schlankheitswahn, der Diät- und Therapiekult sowie die Fülle von Nahrungsergänzungs- und Pflegemitteln auf dem Markt. Der eigene Körper wird verwaltet, gemanagt und als Zeichen des sozialen Status hergerichtet. Vor allem für Frauen herrscht ein absoluter, geradezu religiöser Zwang zur Schönheit, die als Zeichen von Prestige und Heil und zugleich als Kapital zur erotischen Verwertung dient. Sexualität ergibt sich nicht mehr aus Intimität und Sinnlichkeit; vielmehr dient der zunächst entsexualisierte, dann in Form von Zeichencodes wieder künstlich erotisierte Körper im ökonomischen Prozess als wertvolles Tauschmaterial.
„Im Sortiment des Konsums gibt es ein Objekt, das schöner, wertvoller und großartiger ist als alle anderen – mit noch mehr Konnotationen befrachtet als das Auto, obwohl dieses doch schon sämtliche auf sich vereint: Dieses Objekt ist der KÖRPER.“ (S. 189)
Ein weiteres Distinktionsmerkmal in unserer von Arbeitszwang geprägten Gesellschaft ist Freizeit – genauer: die Qualität von Freizeit. Nicht nur Arbeitszeit stellt im Produktions- und Tauschprozess eine Ware dar, auch arbeitsfreie Zeit, die ja angeblich dem Reich der Freiheit angehört, muss heutzutage konsumiert und damit indirekt gekauft werden. Seinen Urlaub muss sich der Urlauber durch Arbeit verdienen, er besitzt ihn wie andere Objekte und hat die Pflicht, ihn zum eigenen Vergnügen und Heil zu nutzen. Man bräunt sich in der Sonne, hakt Länder und Museen ab und zeigt ungetrübte Lebensfreude. Oder man arbeitet in seiner Freizeit – auch dies ein Zeichen von Prestige und ein Privileg von Führungskräften.
Fürsorge, Unterdrückung und das Ende der Transzendenz
In der Konsumgesellschaft wird alles als Dienst am Kunden bzw. Bürger inszeniert, ob es sich um ein simples Stück Seife oder eine staatliche Kranken- und Arbeitslosenversicherung handelt. Der Staat pflegt durch ein soziales Umverteilungsprogramm den Mythos einer solidarischen Gesellschaft, die ganz auf das Wohlergehen des Individuums ausgerichtet ist. Auch im Zusammenleben der Menschen herrscht das Gebot von Solidarität, Herzlichkeit und Nähe. Nach dem Verlust spontaner authentischer Beziehungen erleben wir die zeichenhafte Simulation von Intimität, menschlicher Wärme und Aufrichtigkeit – sei es in der Werbung, sei es im Kontakt mit Bankangestellten, Stewardessen oder Sozialbetreuern. Die Kehrseite der Fürsorglichkeit und des Überflusses aber ist ein kollektiver Zwang, der seinerseits zu Gewalt, Eskapismus und Depression führt. Dabei zeichnet sich unsere Gesellschaft, in der von Kultur über Sexualität bis zu zwischenmenschlichen Beziehungen alles in konsumierbaren Zeichen inszeniert wird, durch einen Mangel an Selbstreflexion aus: Das Individuum ist den Zeichen, die es arrangiert hat, immanent und kann nicht hinter sie treten.
Zum Text
Aufbau und Stil
Jean Baudrillards Die Konsumgesellschaft ist in drei Abschnitte unterteilt. In den ersten beiden Teilen entwickelt der Autor seine Theorie des Konsums und fokussiert sich insbesondere auf die Welt der Objekte, im letzten Teil weitet er den Blick auf verschiedenste Aspekte des Alltags aus, die vom Konsumdenken betroffen sind – von Massenmedien und Werbung über Körperbewusstsein und Sexualität bis hin zu Freizeit und Dienstleistungen. Baudrillards Argumentation ist komplex und vom Marxismus ebenso wie vom Strukturalismus geprägt. Zugleich gelingt es ihm, seine Gedanken anhand zahlreicher Beispiele zu veranschaulichen. Begleitet von bissigen Kommentaren zitiert Baudrillard Werbeanzeigen, Artikel aus Frauenzeitschriften, Nachrichtenmeldungen, Spielfilme und vieles mehr und zeichnet so ein breites, lebendiges Panorama der Alltagskultur seiner Zeit. Sein Buch ist keine nüchterne Bestandsaufnahme, sondern eine Mischung aus wissenschaftlicher Analyse und witziger, zum Teil sarkastischer Polemik gegen das Konsumdenken. Trotz seines Bezugs auf die Warenwelt der 1970er-Jahre enthält es viele Beobachtungen, die auch Jahrzehnte später noch zutreffen.
Interpretationsansätze
- Als erster Soziologe beschäftigte sich Jean Baudrillard in Die Konsumgesellschaft mit dem Konsum als einem eigenständigen, von der Produktion unabhängigen gesellschaftlichen Phänomen. In der Nachfolge des Linguisten Ferdinand de Saussure begreift Baudrillard Konsum – ähnlich wie Sprache – als ein universales System von Zeichen und Bedeutungen, das nach eigenen Regeln funktioniert und eine eigene Realität erschafft: Die Welt der Waren und Dienstleistungen erscheint als ein in sich geschlossenes, selbstreferenzielles Zeichensystem.
- In dem Buch ist bereits Baudrillards spätere Abwendung vom Marxismus erkennbar, auch wenn er hier noch keine offene Kritik an Marx äußert. Indem er jedoch das Problem der Produktion vernachlässigt und den grenzenlosen Konsum nicht mehr aus materiellen Bedürfnissen, sondern als Mittel zur sozialen Distinktion erklärt, geht er bereits deutlich auf Abstand zur klassischen marxistischen Ökonomie.
- Baudrillard widerspricht der noch in den 1960er-Jahren verbreiteten Auffassung, der Massenkonsum ebne die sozialen Unterschiede ein. Zwar wirke die Einkommensentwicklung sozial nivellierend, doch der symbolische Aspekt des Konsums führe zu einer sozialen Differenzierung. Die Gesellschaft werde nicht gleicher und gerechter, sondern ordne sich nach einer neuen, symbolischen Hierarchie.
- Unter dem Einfluss des strukturalistischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss vergleicht Baudrillard moderne mit archaischen Gesellschaften und kommt zu dem Schluss, dass Konsum in der modernen Gesellschaft nichts Natürliches ist, sondern ein konstruierter Mythos, eine Ansammlung kollektiver Vorstellungen, die zwar keinerlei Realitätsbezug haben, aber doch den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisten.
- Baudrillard ist sich der Widersprüchlichkeit seines Werkes bewusst: Einerseits entlarvt es Konsumkritik als integralen Bestandteil der Konsumgesellschaft, andererseits ist es selbst nichts anderes als Konsumkritik. Das Wissen um die Unmöglichkeit, sich dem Konsumsystem zu entziehen, mündet bei Baudrillard in einen tiefen Pessimismus und Fatalismus, der sich zum Ende des Buches hin noch steigert.
Historischer Hintergrund
Kapitalismuskritik, Strukturalismus und Semiotik
Im Mai 1968 erlebte Frankreich heftige soziale Unruhen, die den Staat an den Rand des Notstandes trieben. Was mit vereinzelten Arbeiter- und Studentenprotesten begann, weitete sich bald zu einem Generalstreik aus, der das ganze Land lähmte. In Paris führte die polizeiliche Räumung der von Studenten besetzten Universität Sorbonne zu Demonstrationen und heftigen Straßenschlachten. Die Proteste richteten sich gegen den autoritären Geist der konservativen Regierung unter Präsident Charles de Gaulle, aber auch gegen den Materialismus der Wohlstandsgesellschaft, und wurden von linken Organisationen getragen, darunter auch die Situationistische Internationale.
Zu den einflussreichsten Mitgliedern dieser 1957 gegründeten Gruppierung linksanarchistischer Literaten, Künstler und Intellektueller, die gegen die kapitalistische Marktwirtschaft ebenso wie gegen den Realsozialismus des Ostens aufbegehrten, zählte der Künstler und Filmemacher Guy Debord. In seinem 1967 erschienenen Buch Die Gesellschaft des Spektakels beschrieb er die Gesellschaft in modernen Industriestaaten, die durch eine Scheinwelt von Werbung, Propaganda und PR geprägt sei. Die Menschen hätten sich von ihren ureigenen Bedürfnissen entfernt und würden zu passiven Konsumenten degradiert, die nur das begehrten, was ihnen die Medien vorsetzten.
Zu den einflussreichsten Werken innerhalb der französischen Linken, auf das sich insbesondere die Situationisten beriefen, zählte Henri Lefebvres 1947 erschienene und mehrfach wieder aufgelegte Kritik des Alltagslebens. Darin kritisierte der marxistische Soziologe und Philosoph Lefebvre nicht nur die kapitalistischen Produktionsprozesse, Lohnarbeit und Entfremdung, sondern richtete den Blick erstmals auf das reale Leben der Arbeiter, auf den Alltag der Konsumenten und auf den Einfluss der Werbung. Anders als traditionelle, eher ökonomisch ausgerichtete Marxisten interessierte sich Lefebvre zwar für Zeichentheorie, zugleich aber kritisierte er den Strukturalismus als zu starr und formalistisch, als dass er lebendige Handlungen erklären könnte.
Der Strukturalismus übertrug die vom Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure entwickelte Sprach- und Zeichentheorie auf kultur- und sozialwissenschaftliche Phänomene. In seinem grundlegenden Werk Cours de linguistique générale (1916) hatte Saussure ein Modell entworfen, wonach jedes Zeichen untrennbar mit einer Vorstellung (Signifikat) und einem Lautbild (Signifikant) verbunden ist. Zwischen diesen besteht kein zwingender kausaler Zusammenhang, sondern ein Zusammenhang entsteht erst durch Konvention. Als einer der wichtigsten Vertreter des Strukturalismus, der in den 1960er- und 70er-Jahren seine Hochphase erlebte, gilt neben Claude Lévi-Strauss der französische Philosoph und Semiotiker Roland Barthes. In Mythen des Alltags (1957) wandte er die strukturalistische Zeichenlehre auf die gerade aufkommende Massenkultur an.
Entstehung
In den 60er-Jahren stand Jean Baudrillard einerseits unter dem Einfluss der Situationisten um Debord, andererseits verband ihn nach eigenen Angaben eine ausgeprägte Wahlverwandtschaft zu dem Semiotiker Barthes. Bereits in seiner bei Henri Lefebvre eingereichten Dissertation Das System der Dinge (1968) hatte Baudrillard in gut marxistischer Manier die Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft kritisiert, dabei aber schon deutliche Einflüsse der – von Marxisten skeptisch betrachteten – strukturalistischen Zeichentheorie erkennen lassen. In Die Konsumgesellschaft weitete er den zeichentheoretischen Ansatz aus und distanzierte sich zunehmend von der marxistischen Ökonomie. Das Buch erschien 1970 in Paris.
Wirkungsgeschichte
In der linken Pariser Intellektuellenszene der 70er-Jahre wurde Die Konsumgesellschaft interessiert aufgenommen und avancierte in Frankreich schon bald zu einem Klassiker. Der Soziologe Pierre Bourdieu weitete in seiner umfangreichen Studie über Die feinen Unterschiede (1979) Baudrillards semiotischen Ansatz noch aus. In England und den USA dagegen wurde der Autor lange Zeit nur als Denker des Postmodernismus wahrgenommen. Erst 1998, als Baudrillard schon längst als poststrukturalistischer Medientheoretiker Berühmtheit erlangt hatte, erschien eine vollständige englische Übersetzung von Die Konsumgesellschaft, wobei die angelsächsische Forschung das Werk vor allem durch die Brille von Baudrillards Medientheorie las und weniger als wegweisenden Beitrag zur Konsumsoziologie. Auch in Deutschland erhielt Baudrillards Frühwerk im Vergleich zu den Büchern anderer Denker des französischen Poststrukturalismus eher wenig Beachtung.
Über den Autor
Jean Baudrillard wird am 27. Juli 1929 in Reims geboren. Sein Großvater ist Bauer, sein Vater einfacher Beamter. Nach dem Abitur in seiner Heimatstadt nimmt Baudrillard 1947 das Studium der Germanistik an der Pariser Sorbonne auf. Von 1958 bis 1966 unterrichtet er Deutsch an einer Mittelschule. Nebenbei übersetzt er Marx und Brecht ins Französische, studiert Philosophie und Soziologie. 1968 schreibt er bei Henri Lefebvre seine Dissertation Das System der Dinge (Le Système des objets) und arbeitet zunächst als dessen Assistent. Nach seiner Habilitation 1972 ist er selbst als Professor für Soziologie an der Universität Paris-Nanterre tätig, einem Zentrum der Studentenbewegung von 1968. Als scharfer Gegner des Algerien- und des Indochinakriegs nähert Baudrillard sich in den 60er-Jahren der französischen Linken an. In den 80er- und 90er-Jahren zählt Baudrillard – inzwischen wissenschaftlicher Direktor an der Universität Paris-Dauphine – zu den bekanntesten Denkern der Postmoderne. In dieser Zeit wendet er sich als erklärter Feind des französischen Egalitarismus von der Linken ab und liebäugelt zeitweilig mit der Rechten. In Interviews zieht er polemisch über Amerikas Ideologie der Freiheit und die westliche Konsumgesellschaft her. Aufsehen erregt er mit der Aussage, der Irakkrieg habe nicht stattgefunden, sondern sei ein reines Medienspektakel gewesen. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 begrüßt Baudrillard als „metaphorischen Selbstmord“, als Wiederkehr des Realen in unsere Welt des Scheins. Im islamistischen Fundamentalismus erkennt er die Rache für den westlichen Konsum- und Warenfetischismus, der sich bis in den letzten Winkel der Welt auszubreiten drohe. Mit solchen extremen Äußerungen macht sich Baudrillard unter Kollegen unbeliebt, die ihm mangelnde Wissenschaftlichkeit vorwerfen. Zugleich finden seine Ideen Eingang in die Populärkultur: Im amerikanischen Science-Fiction-Film The Matrix (1999) etwa spielt sein Buch Simulacres et simulation (1981) eine bedeutende Rolle. Baudrillard stirbt am 6. März 2007 in Paris.
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