Adalbert Stifter
Die Mappe meines Urgroßvaters
Letzte Fassung
Manesse, 1997
Was ist drin?
Stifters bekannter Roman: das Leben als ruhig dahinfließender Fluss, der letztlich jeden an den Ort seiner Bestimmung führt.
- Roman
- Biedermeier
Worum es geht
Der Urgroßvater als Alter Ego
Mehr oder weniger durch Zufall entdeckt ein junger Mann in seinem Elternhaus eine alte Mappe, die die Lebensbeschreibung seines Urgroßvaters Augustinus enthält. Der Finder beschließt, die Dokumente zu ordnen und zu veröffentlichen. Was durch diese Formgebung wie ein authentischer Lebensbericht erscheint, ist in Wirklichkeit ein Roman: Der Lebenslauf des Urgroßvaters – der Heilkunde studiert, sich verliebt und als erfolgreicher Arzt praktiziert – ist von vorne bis hinten erdichtet. Die Handlung hat wenig Dramatisches zu bieten, keine Konflikte, keine Spannung durch unerwartete Ereignisse, keine Entwicklung von Charakteren, kaum Gefühle. In den spärlichen Dialogen fällt auf, wie oft mit fast gleichen Worten wiederholend bestätigt wird, was jemand gesagt hat. Widerspruch gibt es nicht. Praktisch alle Romanfiguren sind von vornherein edel und gut. Stifters Welt ist beschaulich, geordnet und perfekt eingebettet in Landschaft und Natur. Das einzige Bestreben scheint darin zu bestehen, eventuelle Schicksalsschläge hinunterzuschlucken und anschließend die Idylle noch perfekter zu machen. In seiner Zeit war Stifter der große Außenseiter der Literatur – und heute ist er ein fast vergessener Klassiker zwischen Romantik und Realismus, dessen eigenwilliger Stil aber immer noch Leser findet.
Take-aways
- Die Mappe meines Urgroßvaters ist Stifters persönlichstes Werk. Es ist im Stil einer Autobiografie verfasst, ohne tatsächlich eine zu sein.
- Ein junger Mann findet eine Mappe seines Urgroßvaters im Elternhaus und beschließt, sie zu veröffentlichen.
- Urgroßvater Augustinus beschreibt darin seine Zeit als Medizinstudent in Prag um 1700 und seine Erlebnisse als Arzt in der böhmischen Heimat.
- In Prag ist Eustachius sein bester Freund: Dieser verschwindet plötzlich wegen einer Schuldenaffäre.
- Augustinus legt das Examen ab und nimmt seine Tätigkeit als Arzt in der südböhmischen Provinz auf.
- Bei den Patienten verschafft er sich Ansehen, vor allem bei seinem neuen Nachbarn, dem Obristen.
- Nachdem eine sich anbahnende Verbindung zu dessen Tochter Margarita fehlgeschlagen ist, erzählt der Obrist Augustinus seine bewegte Lebensgeschichte.
- Davon inspiriert beginnt der Doktor mit der Niederschrift einer Art Tagebuch: der Mappe.
- Das Niederschreiben hat für den Obristen ebenso wie für Augustinus – und offenbar auch für Stifter selbst – die therapeutische Wirkung der Schicksalsbewältigung.
- Stifter hat sich fast sein ganzes Leben lang mit der Mappe beschäftigt. Es existieren mehrere Fassungen, das Werk wurde nie ganz fertig.
- In Die Mappe meines Urgroßvaters spiegelt Stifter sein Leben und seine geistige Entwicklung als eigene Wunschbiografie.
- Stifters geistiges Streben ist auf eine geordnete, heile Welt ohne Konflikte und Leidenschaften gerichtet.
Zusammenfassung
Reise in die Vergangenheit
In einem Gutshaus im südlichen Böhmen steht eine alte Truhe, in der Erinnerungsstücke der Familie aufbewahrt werden. Diese Dinge dienen keinem besonderen Zweck, außer eben dem, Erinnerungen zu wecken. Eines Tages bringt der Sohn der Familie – der Erzähler dieser Geschichte – nach Studium und Heirat erstmals seine Braut Amalia mit ins Elternhaus. Der Aufenthalt dauert mehrere Wochen, denn die Mutter, die krankheitsbedingt nicht zur Trauung nach Wien kommen konnte, und die Braut sollen sich kennen lernen. Allmählich machen Mutter und Sohn Amalia mit den Orten und Verhältnissen aus der Kindheit des Erzählers vertraut. Schließlich holt man die Truhe vom Speicher, wohin sie zwischenzeitlich verbannt wurde. Auf ihrem Boden findet sich ein in dunkelrotes Leder gebundenes, großformatiges Buch, dem außerdem versiegelte Hefte, Kalenderblätter, Liedtexte und andere Schriften beigelegt sind. Das Buch trägt den Titel „Band II“, kurz darauf findet sich auf dem Dachstuhl auch der erste Band, der von ähnlicher Beschaffenheit ist. Beide enthalten Lebensaufzeichnungen in einer Art Tagebuch. Band II stammt vom verstorbenen Vater des Erzählers, Band I von seinem Urgroßvater Augustinus, der Arzt war.
„Auf dem Boden der Truhe unter den Kinderbüchern lag noch ein Buch, das kein Kinderbuch war. Es war in dunkelrotes Leder gebunden, war fast anderthalbe Schuhe lang und entsprechend breit, hatte metallen vergoldete Ecken, einen gleichen Beschlag und war mit gleichen Spangen geschlossen.“ (S. 22)
Die Bücher werden durchgesehen und an vielen folgenden Abenden vorgelesen. Die Mutter erinnert sich dadurch gerührt und ergriffen an manches, was entweder in Vergessenheit geraten oder auch ihr nur aus Erzählungen bekannt ist. Band I der Aufzeichnungen führt drei bis vier Generationen und damit über 100 Jahre zurück, in die Jugend des Urgroßvaters, also die Zeit um 1700. Der Verfasser schildert seine Lebensstationen weniger chronologisch als vielmehr erzählerisch zusammenfassend.
Der beste Freund
Als 20-Jähriger lebt Augustinus in Prag. Er studiert Heil- und Arzneikunde an der ehrwürdigen deutschsprachigen Karls-Universität. Sein bester Freund ist der ebenfalls aus Böhmen stammende Eustachius, der Rechtswissenschaft studiert, aber auch ein begabter Schriftsteller und Zeichner ist. Einige seiner Geschichten, die so genannten „Hirngespinste“, werden später der Mappe beigelegt. Die beiden jungen Männer wohnen zur Untermiete in derselben Gasse und teilen eine Vorliebe für auffällige Kleidung. Augustinus besucht Eustachius gelegentlich. Dessen Vermieterin Cäcilie lebt u. a. vom Nähen. Augustinus wird Zeit seines Lebens seine Hemden bei ihr bestellen und mit ihr Kontakt halten. Und in Cäcilie wird die Erinnerung an Eustachius als bildschönen, sensiblen, begabten und galanten jungen Mann immer präsent sein. Keiner seiner Nachfolger als Untermieter kann es ihr je recht machen.
„Sie enthielt wirklich das Leben des Doctors; aber nicht gerade so Schritt für Schritt sein Leben, sondern Abteilungen, die ihm merkwürdig geschienen haben mochten.“ (die Mappe, S. 34)
Die beiden Studenten werden immer vertrauter miteinander. Eustachius hat außer einem armen Ziehvater, einem Schneider namens Franz Lind, keinerlei Familienangehörige mehr. Dieser Schneider finanziert Eustachius’ Ausbildung und hat den Jungen in Prag seinem Tuchhändler Emerich Waldon, einem wohlhabenden Mann, empfohlen. Dessen schöne Tochter Christine ist für beide jungen Männer ein Anziehungspunkt, besonders für Eustachius. Aber er wird nicht von ihr erhört, obwohl Augustinus ihm in modischer Hinsicht gute Ratschläge erteilt: Statt seiner an die Zeit des Dreißigjährigen Krieges erinnernden, papageienbunten Anzüge sei nun „feines Schwarz“ angesagt, ferner ein weißer Kragen, zurückgekämmte Haare und ein witziges Käppchen obendrauf.
„Unser Haus leuchtete von seiner Höhe, so wie die andern Waldhäuser, Bürgerhäuser, Kleinhäuser, daß es auf seine Wiesen und Felder sieht, mit seinen weißen Mauern und seinen weißen Steinen auf dem flachen Dache gegen mich herüber.“ (S. 81)
Augustinus und Eustachius führen ein bisweilen trinkfreudiges Studentenleben – bis Letzterer eines Tages gepfändet werden soll, weil er für die Schulden eines Kommilitonen namens Korschiz gebürgt hat. Dieser kann oder will nicht zahlen, worauf Eustachius plötzlich verschwindet. In Kenntnis der Umstände bezahlt Augustinus die Schuld von 65 Talern, was ihm nicht gerade leichtfällt. Aber er will Eustachius beistehen und ihn von jedem Makel befreien. Kurz darauf erhält er Nachrichten und Schriftstücke von Eustachius, darunter Geschichten, die Augustinus veröffentlichen soll, um den Erlös gegen das ausgelegte Geld einzubehalten, und ferner Liebeskorrespondenz mit Christine. Auch diese Dokumente sollen später Bestandteil der Mappe sein. Eustachius will erst zurückkehren, wenn seine Ehre vollkommen wiederhergestellt ist. Seine Habseligkeiten überlässt er Augustinus. Dieser beendet kurz darauf sein Studium, bezahlt sein Doktordiplom und duelliert sich mit Korschiz, den er beinahe ersticht. Damit ist seine Zeit in Prag beendet und er kehrt ins Haus seines Vaters nach Böhmen zurück.
Die Anfänge des Berufslebens
Im Gutshaus seines Vaters in Thal ob Pirling versucht sich Augustinus nun als Arzt zu etablieren. Aus Prag hat er nicht nur seine Bücher und Vorlesungsmitschriften, sondern auch eine Grundausstattung an Arzneimitteln mitgebracht. Alles wird in der schönsten Ordnung zurechtgelegt. Allein, es fehlen die Kranken. Der Vater erweist sich als geduldig und setzt seinen Sohn nicht unter Zeitdruck. Nach Monaten endlich kommt der erste Patient, der bei allen wohlgelittene Wanderbettler Tobias, der fortan in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen erscheint. Einmal hat er Unterleibsbeschwerden. Er bekommt ein warmes Bett, Umschläge, freundliche Behandlung, wohltuende Speisen und einen Heiltrank. Nach zwei, drei Tagen ist er frei von Schmerzen. Zwar kann der Wanderbettler den Doktor außer mit einem „Vergelt’s Gott“ nicht für die Behandlung entschädigen, doch berichtet er überall von Augustinus’ guten Taten, und so verbreitet sich die Kunde vom tüchtigen Arzt in relativ kurzer Zeit. Augustinus wird immer häufiger in der ganzen Gegend, wo es noch nie einen Arzt gab, zu den Kranken gerufen. Er praktiziert weniger zu Hause, vielmehr besucht er die Patienten vor Ort. Manchmal handelt es sich um Unfälle bei Waldarbeiten, meistens jedoch um Fieber. Noch ist der junge Arzt vor allem zu Fuß unterwegs; nur selten wird ihm ein Fuhrwerk oder – im Winter – ein Schlitten entgegengeschickt. Dadurch lernt er aber jeden Weg und Steg, Feld, Wald und Flur in der Umgebung genau kennen.
„Weil der Obrist nun mein nächster auswärtiger Nachbar war, ging ich sehr oft zu ihm hinauf.“ (S. 219)
Diese Art der Ortsbegehung und Erkundung der Gegend betreibt er bereits seit seiner Ankunft in Thal. In der näheren und weiteren Umgebung gibt es neben den Gutsbauern auch eine Hammerschmiede, eine Glashütte, mehrere Mühlen, einen Huf- und Eisenschmied und in Pirling das prachtvolle Haus eines Leinenwebers am Markt. Dieser lässt in Heimarbeit spinnen und weben und verkauft seine gebleichte Ware in entfernte Gegenden. In zwei Fahrstunden Entfernung steht ein Freiherrenschloss, das zeitweilig von der Familie Tannberg bewohnt wird, und etwas weiter weg sogar ein Fürstenschloss. Hin und wieder reist der Doktor für ein paar Tage nach Prag, wo er stets Besorgungen und Besuche bei seinen alten Bekannten macht. Mit Cäcilie und Christine Waldon erörtert er dabei ausführlich das Thema Eustachius. Sie kommen überein, ihn nicht zu suchen; man will abwarten, bis er sich von selbst meldet. In Thal ob Pirling wird die Zeit auch nicht lang, nicht einmal im Winter: Da organisiert der Doktor Schlittenfahrten, Eisvergnügen und Fackelzüge. Nach ein paar Jahren kann er sich einen kleinen Kutschwagen und ein Pferd leisten, sodass er nicht immer zu Fuß zu seinen Patienten gehen muss.
Der neue Nachbar und seine Tochter
Bald wird der Doktor zum ersten Mal ins Schloss des Freiherrn gerufen. Kurz darauf beginnt der Obrist Ulsin, ein ehemaliger Offizier und Vetter des Freiherrn, oberhalb von Thal ob Pirling ein sehr stattliches Haus zu bauen, wo er sich zur Ruhe setzen will. Auch der Doktor trägt sich schon seit Längerem mit Ausbauplänen, zunächst vor allem hinsichtlich der Stallungen. Über diese gemeinsamen Interessen freunden sich die beiden Männer allmählich an. Im Lauf der Zeit gehören gegenseitige Besuche beinahe zur Tagesordnung. Neben dem immerwährenden Kontakt zu seinen Patienten und zu seiner Familie bestimmen nun mehr und mehr der Obrist und später auch der Freiherr und dessen Angehörige den gesellschaftlichen Umgang des Doktors.
„Sie schlug die Augen dieses Mal nicht nieder, sondern sah mich an und sagte: ‚Doctor, ich liebe Euch nach meinem Vater unter allen Menschen am meisten.‘“ (Margarita, S. 225)
Mit der Zeit nähert sich Augustinus Margarita an, der hübschen Tochter des verwitweten Obristen. Die gegenseitige Zuneigung äußert sich in wohlgesetzten Worten und Gesten. Ausgerechnet als die lange im Raum stehende Heiratsfrage endlich spruchreif wird, kommt zufällig Rudolph, ein Vetter Margaritas, für ein paar Tage zu Besuch in das Obristenhaus. Der Doktor glaubt gegen diesen bildschönen jungen Mann keine Chance zu haben, was ihm Margarita in einer von Missverständnissen geprägten kurzen Aussprache scheinbar bestätigt. Margarita zieht etwas später nach Wien. Umso mehr vertraut sich der Obrist nun dem Doktor, seinem nächsten Nachbarn und Freund, an und erzählt ihm seine Lebensgeschichte.
Die Geschichte des Obristen
Als etwas leichtsinniger Sohn eines Barons wurde er praktisch enterbt. Er suchte die Offizierslaufbahn einzuschlagen, weigerte sich dann aber, die Offiziersschule zu besuchen. In der Folge trieb es ihn nach Frankreich, wo er beim Glücksspiel ein kleines Vermögen gewann, und zwar mit allem Drum und Dran: Pferde, Kleider, Frauen. Nach einem Duell gab er zur Buße sein Vermögen an ein Waisenhaus. Damit erlangte er nicht nur seine Ehre wieder, sondern stieg auch in der Achtung seines Duellgegners, des Herzogs von Choiseul. Nach Deutschland zurückgekehrt, versuchte er es erneut mit der Offizierslaufbahn. Von den Eltern einer jungen Dame, die er ehelichen wollte, wurde er abgelehnt. Anschließend lernte er auf guten Rat hin, die Ereignisse seines Lebens, auch mitten im Feld, aufzuschreiben und so zu bewältigen.
„Manches war ich im besseren Sinne, als die Leute wussten, mein Schlimmes kannten sie genau, mein Gutes wie ein Schlimmes, mein Bestes gar nicht, und das bin ich durch Kummer geworden.“ (Obrist, S. 247)
Als anerkannter Kriegsmann kam der Obrist sehr viel in Europa herum. Er sparte sein Geld und konnte sich ein kleines Gut in den Alpen kaufen. Die Adelsdamen mochte er nicht, darum heiratete er schließlich eine Gutsherrentochter aus dem Badischen, die sich als sehr patente Ehefrau erwies und gern mit ihm wandern ging. Wenige Jahre nach Margaritas Geburt kam sie jedoch bei einem dramatischen Wanderunfall ums Leben. Der Obrist verkaufte sein Gut und leistete sich aus dem Erlös und seinem mütterlichen Erbe, das ihm erst spät zugefallen war, sein jetziges Haus. In die Gegend war er über seinen Vetter, den Freiherrn von Tannberg, gekommen.
Der Garten des Fürsten
Im Wechsel der Jahreszeiten und Jahre ändert sich von nun an für den Doktor nicht mehr viel. Einerseits nimmt er das Idyllische seiner Existenz in dem Haus in Thal immer intensiver wahr. Andererseits stellt er sich Sinnfragen über das tägliche Einerlei, angeregt von der ihm bedeutend erscheinenden Bildung des Obristen. Er wird gewahr, dass er die eigene vernachlässigt hat. Dann sterben kurz hintereinander alle Angehörigen seiner Familie an einer namenlosen Seuche, gegen die er machtlos ist. Und dies obwohl er eilig Ärzte aus Budweis und Linz herbeigerufen hat. In ihrer Einsamkeit rücken der Doktor und der Obrist noch enger zusammen.
„In jener Zeit lernte ich ein Mittel gebrauchen, von dem ich glaube, daß ich ihm Alles verdanke, was ich geworden bin. (...) Es besteht darin, daß man alle seine Gedanken und Begebnisse, wie sie eben in der Zeit sind, aufschreibt; dann aber einen Umschlag darum siegelt, und das Gelöbnis macht, die Schrift erst in drei oder vier Jahren aufzubrechen und zu lesen.“ (Obrist, S. 254)
Eines Tages wird der Doktor zum Fürsten gerufen. Dort entdeckt er nach getaner Arbeit dessen außergewöhnlich schönen Gartenpark. Die Gestaltung folgte laut dem Fürsten den zeichnerischen Entwürfen eines gewissen Eduard Lind. Nachdem er ein paar Auskünfte eingeholt hat, fällt es dem Doktor nicht schwer, herauszufinden, dass sich hinter Eduard Lind kein anderer als sein alter Studienfreund Eustachius verbirgt. Aber selbst mithilfe der Bemühungen des Fürsten ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen, als dass dieser sich meist in Italien aufhält, wo er als Künstler tätig ist.
„Bin ich ein rechter Mensch gewesen oder ein rechter Arzt?“ (S. 294)
Eine bedeutende Heilung gelingt dem Doktor bei Isabella, einer der Töchter des Freiherrn von Tannberg. Diese ist vor einiger Zeit jenem Maler und Landschaftsarchitekten Eduard Lind begegnet, hat sich in ihn verliebt und kommt nun nicht darüber hinweg. Ihre Schwermut zieht sich als Nervenleiden schon längere Zeit hin, sodass der Freiherr den Doktor konsultiert. Der stellt zunächst fest, dass es sich wirklich nicht um eine organische Erkrankung handelt. Er verordnet Isabella reichlich Abwechslung und viel frische Luft, mit anderen Worten Winterspaziergänge und Ausfahrten mit der ganzen Familie, und führt einige therapeutische Gespräche, die dem Fräulein sichtlich guttun. Dies bringt den Doktor in familiäre Nähe zum Freiherrn und seinen Angehörigen. Er ist inzwischen zum Gemeinderat gewählt worden und widmet sich neben seiner ärztlichen Tätigkeit auch Aufgaben des Gemeinwohls, vorzüglich dem Straßen- und Brückenbau, bis ans Ende seiner Tage.
Zum Text
Aufbau und Stil
Stifters Roman Die Mappe meines Urgroßvaters ist im Stil einer Autobiografie verfasst, ohne tatsächlich eine zu sein. Entsprechend geht auch die Vorgeschichte, die vom Auffinden der Mappe in der Truhe erzählt, nicht auf Erlebnisse Stifters zurück: Der Erzähler schildert, wie er die Aufzeichnungen seines Urgroßvaters in eine gewisse Ordnung gebracht und zum Druck vorbereitet hat. Die nach dem Fund der Mappe nicht mehr unterbrochene Wiedergabe der Lebensaufzeichnungen in der Ich-Form verleiht dem ganzen Werk einen überraschend authentischen Charakter. Dazu trägt auch die weitgehende Unveränderlichkeit des Handlungsortes bei: Sowohl die Vorgeschichte als auch die Lebensaufzeichnungen selbst spielen vorwiegend im Haus der Familie und in dessen unmittelbarer Umgebung.
Das Buch besteht aus zwei Teilen, von denen der erste sieben, der zweite nur ein Kapitel enthält: Stifter hat das Werk nicht vollendet. Seine Erzählweise ist trotz mancher poetischer Passagen – vor allem bei Naturbeschreibungen – und vieler altertümlicher Wendungen in bisweilen ebenso altertümlicher Rechtschreibung im Großen und Ganzen nüchtern und liest sich wie ein Bericht.
Interpretationsansätze
- Die Lebensgeschichte des Doktors Augustinus kann als Wunschautobiografie Stifters gelesen werden, als Idealvorstellung von sich selbst: So wäre er gerne gewesen. Das Buch wäre dann als Flucht des Autors aus der Wirklichkeit angesichts seiner eigenen unglücklichen Lebensumstände zu deuten: Die lebenslange Beschäftigung mit dem Stoff und die Verwandtschaftsbezeichnung im Titel („mein Urgroßvater“) rechtfertigen diese Schlussfolgerung.
- Die Wunschautobiografie ist eingebettet in eine Idealvorstellung von der Welt: ein Dasein frei von materieller Not und ein harmonischer und friedlicher Umgang unter den Menschen, die sich in den natürlichen Kosmos, die göttliche Weltordnung einfügen.
- Strebendes Bemühen um ständige Verbesserung ist ein Grundmotiv des Werks: Verbesserung der Infrastruktur und der Lebensbedingungen im und am Haus, Verbesserung der Heilmethoden, Selbstverbesserung des Doktors nach dem Vorbild des Obristen. Dazu passt auch die wiederholte schriftstellerische Überarbeitung des Werks durch Stifter, wobei er alles Dramatische, Spontane und Zufällige eliminierte.
- Alle Bemühungen dienen der Herstellung einer heilen Welt. Das Heilen ist ein zentrales Motiv im Buch. Es äußert sich etwa in Augustinus’ Arztberuf und im paradiesischen Gartenpark des Fürsten.
- Die Niederschrift der tagebuchartigen Berichte nach dem Vorbild des Obristen dient Augustinus zur Stärkung seines Selbstbewusstseins, ähnlich wie bei einer modernen Psychotherapie. Dieselbe Funktion hat das Verfassen des Romans vermutlich auch für Stifter gehabt.
Historischer Hintergrund
Biedermeier, Bildung, Brockhaus
Der Begriff „Biedermeier“ wurde erst geprägt, nachdem die damit bezeichnete Epoche schon vorüber war. Er kam um 1855 auf und bezog sich auf die bürgerliche Gesellschaft in der Phase vom Ende Napoleons (1815) bis zur Jahrhundertmitte. Die Zeit der Begriffsprägung war erneut von starken politischen Spannungen zwischen Revolution und Restauration gekennzeichnet.
Unter dem Begriff „Revolution“ waren zur damaligen Zeit liberale, demokratische und nationale Tendenzen zu verstehen, getragen vom aufstrebenden Bürgertum. Dieses suchte nach Formen der Teilhabe an der politischen Macht, die ihm von den etablierten Monarchien jedoch überwiegend verweigert wurde. Im Österreich des Fürsten Metternich waren Zensur und Spitzeltum an der Tagesordnung. Bis zur Revolution von 1848 herrschte weitgehend Ruhe in Europa, und diese Zeit wurde in der nun folgenden unruhigen Epoche oft idealisiert.
Nicht umsonst gilt das Biedermeier bis heute als Inbegriff idealer Wohnkultur und als die Epoche des großen Aufschwungs bürgerlicher Bildung. Zwar hat der Begriff der Bildung seinen Ursprung in der mittelalterlichen Mystik, doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfuhr er in der Philosophie eine inhaltliche Neudefinition: Bildung ist bei Hegel und Goethe ein umfassendes Begreifen der Welt durch lebenslanges Wachsein und Dazulernen. „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“, heißt es in Goethes Faust. Der Drang nach Wissen und Erkenntnis war groß. Der Leipziger Verleger F. A. Brockhaus kam auf die epochale Idee, die bis dahin wichtigste und sehr umfangreiche Zedler’sche Enzyklopädie (68 Bände) in veränderter, konzentrierter Form in zehn Bänden einem breiten Publikum zugänglich zu machen, was ab 1811 geschah. „Bildung“ wurde zunehmend zu einem restaurativen Begriff, der erwerbbares Wissens in einem abgeschlossenen Kanon bezeichnete. Ein solches Verständnis setzte den Glauben an einen geordneten Kosmos voraus – eine idealistische Vorstellung, der auch Stifter anhing und literarischen Ausdruck verlieh.
Entstehung
Stifter hat sich zeitlebens intensiv mit der Mappe meines Urgroßvaters beschäftigt und das Werk immer wieder umgearbeitet. Das Kapitel „Von den zwei Bettlern“ entstand um 1839, die übrigen bis 1842. Die Erstveröffentlichung (die so genannte „Urmappe“) erfolgte in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode. Es existieren insgesamt vier Fassungen. Stifter arbeitete bis zu seinem Lebensende daran, konnte aber auch die „Letzte Mappe“ nicht mehr vollenden; das Fragment erschien 1870.
Der Inhalt blieb in allen Versionen im Wesentlichen unverändert: Mit dem Werdegang des Doktors Augustinus schildert Stifter einen Lebensverlauf, der ihm ideal erschien, den er sich zwar erträumte, aber der ihm selbst versagt blieb: materiell abgesichert, mit geradlinigem Berufsverlauf, möglichst konfliktfrei. Stifter hingegen war ein kleinbürgerlicher Bohemien in Geldnöten, der später auch noch unter einer angeschlagenen Gesundheit litt. Im Lauf der verschiedenen Bearbeitungen des Werks wird Stifters Stil bewusst immer leidenschaftsloser, immer weniger lebendig. Das entspricht seinem Bemühen nach einem objektiven Erfassen und Wiedergeben einer idealisierten Welt.
Wirkungsgeschichte
Stifter war mit seinen frühen Erzählungen – zu seiner eigenen Überraschung – erfolgreich; seine späteren Hauptwerke, wie Der Nachsommer, Witiko und Die Mappe meines Urgroßvaters, stießen hingegen auf Unverständnis, weil sie schon in ihrer Zeit reichlich altmodisch wirkten. Aber bereits die nachfolgenden Autorengenerationen um Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke bis hin zu Thomas Mann und Hermann Hesse schätzten Stifter als Klassiker. Doch es gab auch kritische Stimmen. Der marxistische Philosoph und Literaturwissenschaftler Georg Lukács etwa nannte ihn einen „Klassiker der deutschen Reaktion“.
Wirklich geschätzt wurde Stifters Spätwerk u. a. von dem Verleger Peter Suhrkamp und dem Autor Arno Schmidt und ganz besonders von österreichischen Gegenwartsautoren wie Thomas Bernhard und Peter Handke. Peter Rosei sprach im Zusammenhang mit Stifter von der „Abmagerung der Sprache bis auf ihr Skelett“. All diesen Autoren erschien Stifters stilistische Kargheit und Steifheit geradezu experimentell und sie erkannten die psychologisch-therapeutische Funktion seines Schreibens, die gerade in Die Mappe meines Urgroßvaters überdeutlich zum Ausdruck kommt, als ausgesprochen modern.
Über den Autor
Adalbert Stifter wird am 23. Oktober 1805 in Oberplan in Südböhmen geboren, das damals zum Kaisertum Österreich gehört. Als der Junge zwölf ist, stirbt sein Vater durch einen Unfall, die Familie gerät in finanzielle Schwierigkeiten. Stifter ist künstlerisch begabt, entscheidet sich aber für ein Jurastudium, um in den Staatsdienst eintreten zu können. Mit 22 verliebt er sich in die drei Jahre jüngere Fanny Greipl und wirbt viele Jahre um sie. Ohne Erfolg: Als mittelloser Student hat er bei Fanny und ihrer Familie keine Chance. Aus Enttäuschung beginnt er eine Beziehung zu der ungebildeten Putzmacherin Amalie Mohaupt, die er, als Fanny ihn wiederholt abweist, schließlich heiratet; die Ehe ist unglücklich und bleibt kinderlos. Beruflich hat Stifter ebenso wenig Erfolg: Das ungeliebte Studium bricht er nach vier Jahren ab und hält sich von da an mühsam als Hauslehrer über Wasser. In seiner Freizeit dichtet und malt er. Einen ersten literarischen Erfolg erringt er 1840 mit der Erzählung Der Condor. Mit den folgenden Werken, u. a. Die Mappe meines Urgroßvaters (1841) und Bunte Steine (1853), wird er bekannt, aber seine späteren Arbeiten, darunter die Romane Der Nachsommer (1857) und Witiko (1865–1867), stoßen bei Kritikern und Lesern größtenteils auf Ablehnung. Als Pädagoge ist Stifter seiner Zeit voraus, aber auch das bringt ihm mehr Ärger als Erfolg ein. So wird er zwar 1850 zum Schulrat ernannt, kann aber seine Vorstellungen nicht durchsetzen und empfindet das Amt bald als Last. Ein von ihm verfasstes Schulbuch wird abgelehnt und erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Bayern verwendet. Er holt zwei Pflegetöchter ins Haus, von denen eine an Tuberkulose stirbt; die andere nimmt sich mit 18 Jahren das Leben. Mit zunehmendem Alter wird Stifter verbittert, depressiv und hypochondrisch. Er erkrankt an Leberzirrhose und im Dezember 1867 an einer schweren Grippe. Am 26. Januar 1868 schneidet sich der Todkranke nachts mit einem Rasiermesser in den Hals und stirbt zwei Tage später. Ob es Selbstmord war oder ein Unfall, ob er an diesem Schnitt starb oder an der Krankheit, konnte nie eindeutig geklärt werden.
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